Belgische Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen 1940-45. Tag der Opfer des Nationalsozialismus 27. Januar 2016

 

TAG DER OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS

27.JANUAR 2016

 

 

BELGISCHE HÄFTLINGE IM KONZENTRATIONSLAGER SACHSENHAUSEN

1940-45

 

BEGRÜSSUNG UND EINFÜHRUNG

PROF. DR. GÜNTER MORSCH

 

 

 

Sehr geehrte Überlebende der Lager und Opfer des Nationalsozialismus

Sehr geehrte Frau Stark, Präsidentin des Brandenburger Landtages,

sehr geehrte Frau Schillhaneck, Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses

Sehr geehrte Frau Detaille, Gesandte  des Königreiches Belgien,

Herr Justizminister Dr. Markov,

Herr Staatssekretär Gorholt,

Sehr geehrter Herr Peeters,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen begrüße ich Sie ganz herzlich zu unserer heutigen Gedenkveranstaltung. 1996 hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog auf Anregung des unvergessenen Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, den Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz zum Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt. In dieser Proklamation heißt es: „Die Erinnerung darf nicht enden“, sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“

 

Inzwischen wird dieser Tag nach einem Beschluss der Vollversammlung der Vereinten Nationen in der ganzen Welt begangen. In Brandenburg richten die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und der Landtag diesen Tag seit seiner Einführung gemeinsam am authentischen Ort der Verbrechen aus, dort wo sich u. a. die Zentrale aller Konzentrationslager befand, in der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen. Dafür möchte ich Ihnen sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, dem Präsidium sowie allen Fraktionen des Brandenburgischen Landtages, die diesen Beschluss mittragen, ganz herzlich danken.

Es ist mir dabei eine große Freude, auch in diesem Jahr wieder die anwesenden Abgeordneten des Brandenburgischen Landtages sowie des Berliner Abgeordnetenhauses begrüßen zu dürfen. Ich begrüße ferner die Vertreter der Brandenburgischen Landesregierung und des Berliner Senats. Ich begrüße den Landrat des Kreises Oberhavel, den Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die Mitglieder des Kreistages sowie der Stadtverordnetenversammlung. Ganz besonders dankbar sind wir, dass erneut Angehörige und Repräsentanten ausländischer Botschaften und Mitglieder des diplomatischen Corps an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ich danke außerdem allen Vertretern der Parteien, der Gewerkschaften und der Wirtschaft, der Kirchen sowie der jüdischen Gemeinden. Ich begrüße die Vertreter von Hochschulen und Schulen sowie von Opferverbänden. Ganz besonders freuen wir uns auch über die Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler.

 

In der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen haben wir die Gedenkveranstaltung zum Tag der Opfer des Nationalsozialismus bisher immer einer speziellen Gruppe unter den zahlreichen Opfern des NS-Terrors im KZ Sachsenhausen gewidmet. Dabei ging und geht es uns zum einen darum, die große Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Gegner und Opfer des NS-Regimes deutlich werden zu lassen. Wir entsprechen damit vor allem auch dem Wunsch der Überlebenden, wie er immer wieder mit großem Nachdruck geäußert wurde. Zum anderen wollen wir den Anlass nutzen, um die besondere Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Gesellschaft auf Opfergruppen und historische Ereignisse zu lenken, die im Laufe der Jahre zumindest zeitweise aus dem Blick geraten sind, vergessen oder sogar verdrängt wurden oder für deren Auswahl es einen besonderen kalendarischen Anlass gibt.

 

Die Gedenkstätte Sachsenhausen hat sich in Abstimmung mit der Präsidentin des Brandenburgischen Landtages entschlossen, in diesem Jahr den Tag der Opfer des Nationalsozialismus den belgischen KZ-Häftlingen zu widmen. Ich freue mich daher sehr, unter uns die Angehörigen von Etienne van Ploeg, Louis Kiebooms und Prof. Dr. Florent Peeter willkommen zu heißen. Wir fühlen uns, verehrte Angehörige, durch Ihre Anwesenheit hoch geehrt und danken Ihnen ganz herzlich dafür, dass Sie aus Belgien hierhergekommen sind, um mit uns zusammen das Andenken an die belgischen Opfer des nationalsozialistischen Terrors im Konzentrationslager Sachsenhausen zu ehren.

 

 

Das Königreich Belgien gehörte wie schon im Ersten Weltkrieg zu einem der ersten Opfer des nationalsozialistischen Eroberungskrieges. Seine 1939 bei Beginn des Zweiten Weltkrieges erklärte Neutralität hinderte die Nationalsozialisten nicht daran, das im Vergleich zu Deutschland oder Frankreich relativ kleine Land gemeinsam mit Luxemburg und den Niederlanden militärisch zu unterwerfen. Als die deutschen Truppen am 10. Mai 1940 die Grenzen überschritten, erinnerten sich viele Einwohner des neuralen Königreiches sofort an das brutale Besatzungsregime, das das Deutsche Kaiserreich während des „Grande Guerre“ zwischen 1914 und 1918 dort errichtet hatte. Doch der Terror, mit dem die deutsche Militärverwaltung in der Zusammenarbeit mit Gestapo und SD Belgien überzog, war ungleich brutaler. Trotzdem war, darin ist sich die wissenschaftliche Literatur einig, die Erfahrung der Besatzungsherrschaft im Ersten Weltkrieg bei der Herausbildung des belgischen Widerstandes 25 Jahre später von entscheidender Bedeutung. Am 28. Mai, nach achtzehn Tagen militärischem Widerstand, kapitulierte der belgische König. Während das „Dritte Reich“ Teile Ostbelgiens, insbesondere in Eupen-Malmedy, annektierte, wurden die übrigen Teile zusammen mit zwei Départements Frankreichs unter Militärverwaltung gestellt. Obwohl auch in Belgien in den dreißiger Jahren faschistische, antisemitische und nationalistische Bewegungen erstarkt waren, entstanden die ersten Widerstandsbewegungen schon wenige Wochen danach. Sie kamen aus bürgerlich-patriotischem Milieu, aus dem Kreise monarchistischer Anhänger ebenso wie aus den Reihen der Sozialisten und Kommunisten. Französischsprachige Wallonen waren in den zunächst eher kleinen Widerstandsgruppen ebenso vertreten wie niederländisch sprechende Flamen und Angehörige deutsch sprechender Bevölkerungsteile, die die Annexion von Teilen Ostbelgiens ablehnten. Auch wenn es mehrere Versuche gab, den Widerstand zu einen, so blieb er bis zum Kriegsende ein sehr heterogenes Phänomen.

 

Im Laufe des Krieges wuchsen Opposition und Widerstand in Belgien immer mehr an, insbesondere nachdem die deutschen Besatzer im Herbst 1942 die allgemeine Arbeitspflicht einführten. Streiks und Arbeitsverweigerungen weiteten sich aus, auch gewaltsame Anschläge nahmen zu. Was vereinzelt begonnen hatte, weitete sich aus. Die Deutschen antworteten mit einer blutigen Repressionswelle.

 

Die Verfolgung der Juden sowie der Sinti und Roma setzte ebenfalls sofort nach der militärischen Niederlage des Königreiches ein. So wie die allermeisten westeuropäischen Juden wurden sie zunächst nicht in die Konzentrationslager verschleppt. Nach Stigmatisierung und Ausgrenzung mussten die Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns entweder direkt aus Sammellagern in Belgien, wie z. B. aus Mechelen, oder auf den Umweg über französische Internierungslager wie Gurs die Züge besteigen, die sie den großen Tatorten des Völkermordes vornehmlich in Polen zuführte. Erst als diese durch die Rote Armee befreit zu werden drohten, verschleppte die SS die wenigen überlebenden Juden sowie Roma und Sinti im Rahmen grausamer Todesmärsche auch in die Konzentrationslager des Altreiches, so eine bisher unbekannte Zahl belgischer Juden auch nach Sachsenhausen.

 

Ganz ähnlich wie die allgemeine Entwicklung des politischen Widerstandes in Belgien, so stellt sich auch der Verlauf der Einlieferungen belgischer Häftlinge in das KZ bei der Reichshauptstadt dar. Schon wenige Wochen nach der Kapitulation des Königreiches registrierte die Lagerverwaltung am 22. Juni 1940 die ersten 23 belgischen Bürger als sogenannte Neuzugänge; sechs weitere Belgier folgten im weiteren Verlauf des Jahres. Die meisten von ihnen waren unmittelbar nach der Besetzung von den Deutschen nach offenbar vorbereiteten Listen verhaftet worden. Das galt sicherlich auch für Henri Michel, den damaligen Chefredakteur der Zeitung „Grenz-Echo“ aus Eupen-Malmedy. In seiner deutschsprachigen Zeitung, die stark von der katholischen Kirche beeinflusst war, hatten er und seine Redakteure sich eindeutig und immer wieder gegen eine Angliederung Eupen-Malmedys an das Deutsche Reich ausgesprochen. Ähnlich wie er waren die 1940 nach Sachsenhausen über verschiedene Gefängnisse verschleppten Belgier, wie der Bürgermeister von Malmedy, Josef Werson, der Polizeikommissar von Eupen, Fritz Hennes sowie Leo Krafft aus Eupen, Josef Potelle aus Malmedy, Gemeindesekretär Herbert Rütten sowie der Heimatdichter Henri Bragard in erster Linie wegen ihres belgischen Patriotismus nach Sachsenhausen transportiert worden.

 

An dieser Einlieferungspraxis scheint sich auch in den beiden folgenden Jahren 1941 und 1942 wenig geändert zu haben. Die Anzahl der belgischen Häftlinge in Sachsenhausen blieb in dieser Zeit relativ klein, wahrscheinlich waren es insgesamt weniger als 50 Personen, die in der Masse der 10.-15.000 Häftlinge fast untergingen. Trotzdem scheinen sie sich nicht aus den Augen verloren zu haben, wie die Erinnerungen, die einige von den ersten belgischen Häftlingen schon bald nach ihrer Befreiung publizierten, vermuten lassen. Das lag nicht zuletzt daran, dass unter den Neuankömmlingen Persönlichkeiten waren, die den Zusammenhalt der wenigen, über das Lager verstreut inhaftierten Belgier stärkten. Dazu zählten sicherlich die beiden 1941 nach Sachsenhausen verschleppten katholischen Geistlichen, Pfarrer Maurice de Backer und Pater Jacques Magnée. Sie fielen den wenigen belgischen Landsleuten, die die sogenannten Neuen genau beobachteten, bei ihrer Einlieferung auf dem Appellplatz, auf dem die Konzentrationslager-SS die sogenannten Neuzugänge zumeist über viele Stunden stehen ließen und sie misshandelte, durch den Schnitt ihrer Soutane gleich als belgische Priester auf. Sie wurden zu heimlichen Seelsorgern der kleinen Gruppe belgischer Katholiken, bevor die SS sie, wie alle Geistlichen in das KZ Dachau weiter transportierte.

 

Ein ähnlicher, den Zusammenhalt der Belgier verstärkender Effekt bewirkte auch die Einlieferung von drei verantwortlichen Journalisten der flämisch-katholischen Zeitung „Gazet van Antwerpen, Dr. Louis Kiebooms, Alfred Somville und Verwaltungspräsident Joseph de Hasque. Bereits seit Januar 1941 befand sich außerdem der Publizist und Doktor der Philosophie Florent Peeters im KZ Sachsenhausen. Auch er war, wie die anderen genannten Personen, ein bekennender konservativer belgischer Patriot. Er konnte sich, wie die meisten anderen Genannten, in mehreren Sprachen gut verständigen und interessierte sich stark für Kultur, Theologie und Geschichte. Es kann nicht verwundern, dass die zumeist katholischen, patriotischen und intellektuellen belgischen Häftlinge trotz ihrer geringen Anzahl offenbar zueinander fanden, obwohl die SS sie zunächst auf unterschiedliche Kommandos verteilte. Der Hauptschriftleiter der heute noch erhältlichen Zeitung „Gazet von Antwerpen“, Louis Kiebooms, soll sogar, das berichtet Henri Michel, am 21. Juli 1941 auf einer Bank im Lager vor belgischen Häftlingen eine „Festansprache zum belgischen Nationalfeiertag“ gehalten haben. Er habe dabei, das stellt sein Kollege des „Grenz-Echos“ fest, keinen Unterschied zwischen Wallonen und Flamen gemacht. Umgekehrt würdigte Louis Kiebooms den verstorbenen Michel am 24 Juni 1976 in einer Grabrede mit folgenden Worten: „Während der gesamten Dauer unserer Gefangenschaft gehörte Henri Michel nicht nur zur Gemeinschaft der Belgier,…,  sondern auch zu einem engeren Kreis von Freunden, die durch vielerlei Bande miteinander verbunden waren….Er genoss früh das Vertrauen der gesamten internationalen Gemeinschaft von Sachsenhausen, die von den Häftlingen selbst organisiert und geleitet wurde… Dank seiner Hilfe und der vieler Belgier, die sich in einer vaterländischen Solidarität einander beistanden, konnten wir überleben.“

 

Mit der Zunahme von Repression und Terror durch die deutsche Besatzungsmacht sowie dem immer stärkeren Aufleben des Widerstandes nahmen 1943, 1944 und 1945 die Transporte von Belgiern nach Sachsenhausen enorm zu. Am 31. Dezember 1943 verzeichnete die Lagerverwaltung von Sachsenhausen bei einer Gesamtzahl von fast 29.000 Häftlingen bereits 185 Belgier, genau ein Jahr später notierte sie bei einer Verdoppelung der Anzahl aller Häftlinge eine Verzehnfachung der Belgier. Maßgeblich dafür waren vor allem drei größere sogenannte Sammeltransporte: im April 1944 kamen aus dem Strafgefangenlager der Justiz in Esterwegen zunächst 40 Belgier; im August und September 1944 verschleppte die SS auf Befehl der Oranienburger KZ-Inspektion etwa 1.100 belgische Häftlinge aus dem in Holland bei Vught liegenden Konzentrationslager Herzogenbusch nach Sachsenhausen und zwei Monate später, im November 1944 trieb die SS noch einmal mehr als 300 belgische Gefangene auf den Appellplatz. Letztere waren im letzten Augenblick bei Küstrin liegenden Zuchthaus Sonnenburg per Eisenbahn nach Oranienburg transportiert worden, wenige Wochen bevor im Januar 1945 dort mehr als 800 Justizgefangene von Polizisten und SS-Männern in einem Massaker grausam ermordet wurden.

 

Die Herkunft der Häftlinge, vor allem aus den Justizstrafanstalten Esterwegen und Sonnenburg, aber auch aus dem KZ Herzogenbusch, läßt erkennen, um welche Gruppe von Inhaftierten es sich bei der großen Mehrheit der Neuankömmlinge handelte, nämlich um sogenannte „Nacht- und Nebel-Gefangene. Diese politischen Gegner und Widerstandskämpfer ließ die deutsche Besatzungsmacht durch Sondergerichte verurteilen und verschleppte sie dann häufig, selbst bei Freisprüchen, in die Strafanstalten und Lager der Nazi-Justiz, ohne dass die Angehörigen auch nur den geringsten Hinweis über ihren Verbleib erhielten und daher lange Zeit mit quälender Ungewissheit auf ein Lebenszeichen warteten. Zwei Beispiele will ich nennen: Eugène Soumenkoff, geboren 1921 in Brüssel, wurde im Herbst 1941 wegen seiner Beteiligung an der belgischen Widerstandsbewegung verhaftet und im April 1942 zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde nicht vollstreckt und der Medizinstudent wurde anstatt dessen im Zuchthaus Sonnenburg inhaftiert. Dort betätigte er sich als Dolmetscher, wodurch er vielen seiner Kameraden helfen konnte. Am 14. November 1944 transportierte die SS ihn in das KZ Sachsenhausen, wo Soumenkoff, der nach dem Krieg als Arzt praktizierte, im Krankenrevier des Lagers vielen Häftlingen mit seinen medizinischen Kenntnissen helfen konnte. Leon Messein, geboren 1900 in Brüssel, schloss sich dagegen der französischen Widerstandsbewegung an und schleuste geflohene Kriegsgefangene in die nicht besetzte Zone Frankreichs. Die Gestapo verhaftete ihn 1943 und transportierte den Hotelbesitzer in das Zuchthaus Sonnenburg. Er kam mit dem gleichen Transport wie Soumenkoff nach Sachsenhausen, wo er während eines alliierten Bombardements umkam. Außer den N-N-Häftlingen verschleppten die Nazis auch weiterhin zahlreiche Belgier direkt nach Sachsenhausen. So erging es auch Etienne van Ploeg, der wegen Arbeitsverweigerung verhaftet worden war.  Die allermeisten belgischen N-N-Häftlinge, insbesondere die aus dem aufgelösten KZ Herzogenbusch, überstellte die Lagerverwaltung in das Außenlager Heinkel, wo sie Zwangsarbeit beim Bau von Bomben- und Jagdflugzeugen leisten mussten.

 

Zur gleichen Zeit, im Spätherbst 1944, und verstärkt Anfang 1945, müssen auch belgische Juden sowie Roma und Sinti in den weit gespannten KZ-Kosmos von Sachsenhausen gelangt sein. Sie kamen zumeist auf Todesmärschen aus den aufgelösten Vernichtungslagern des Ostens oder aus anderen Zwischenlagern, wie Buchenwald, und wurden häufig auf Außenlager des KZ Sachsenhausen verteilt. Leider wissen wir über diese Gruppe von Häftlingen kaum etwas, da die Lagerverwaltung es nicht für erforderlich hielt, die überlebenden Opfer der rassistischen Vernichtungspolitik des „Dritten Reiches“ namentlich zu erfassen. Etwas anders verfuhr die SS dagegen mit den insgesamt ca. 20.000 Häftlingsfrauen der KZ-Kommandos und -Außenlager, die zunehmend ab 1944 auch Sachsenhausen unterstellt wurden. Leider sind die Unterlagen der zahlreichen Frauenkommandos, von Auer in Oranienburg, über Siemens in Berlin bis zu Pertrix in Schöneweide, gleichfalls verloren gegangen. Wir kennen aber aus dem allerdings nur sehr unvollständigen Totenbuch immerhin die Namen von 23 Belgierinnen, die Sachsenhausen nicht überlebten. Wenige Wochen vor der Befreiung trafen schließlich im Februar 1945 zwei große Transporte mit jeweils ca. 130 Belgiern aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Mauthausen ein. Inwieweit in diesen Häftlingsverschiebungen von einem KZ zum anderen, die in der Endphase nicht untypisch waren, besondere Gruppen von belgischen Häftlingen waren, können wir jedoch derzeit nicht sagen.

 

Schon mit den zunehmenden Transporten 1943 kamen vermehrt auch Belgier, die aus den Widerstandsorganisationen der belgischen Arbeiterbewegung stammten. Darunter befanden sich z. B. der Sozialist Gaston Hoyaux sowie der Kommunist Xavier Relecom. Während Hoyaux bis 1938 Bürgermeister einer flandrischen Kleinstadt war, gehörte Relecom als Generalsekretär in Brüssel zum Führungskreis der kommunistischen Widerstandsbewegung. Das größte Aufsehen nicht nur unter den belgischen Häftlingen erregte die Inhaftierung des ehemaligen belgischen Ministers für Arbeit Arthur Vanderpoorten. Der knapp sechzigjährige liberale Politiker kam in einem sehr schlechten Gesundheitszustand im September 1943 nach Sachsenhausen. Die Lager-SS wies ihn in das Krankenrevier ein, wo ihn Häftlingsärzte langsam gesund pflegten. Auch Vanderpoorten gehörte zu den N-N-Häftlingen und durfte daher weder Briefe schreiben noch Pakete empfangen. Es mag sein, dass der selbstbewusste und politisch ungebrochene ehemalige Minister mehr und mehr Belgier, unter ihnen vor allem die Intellektuellen, Journalisten, Schriftsteller und Ärzte, um sich herum im Krankenrevier versammelte. Auf diese Weise wurde das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen, wie Florent Peeters in seinen Erinnerungen schreibt, immer mehr zu einer Art „belgischer Kolonie“. In den Krankenbaracken, in die sich die SS aus Angst vor Ansteckungsgefahr nur selten hinein traute, entstand auf diese Weise um Vanderpoorten herum ein kleiner politischer Diskussionszirkel, dem sich gelegentlich auch der im Krankenrevier inhaftierte spanische Ministerpräsident Largo Caballero sowie dort ebenfalls gefangene ehemalige holländische Wirtschaftsminister Timotheus Verschuur anschlossen.

 

Im Januar 1945 begann die Konzentrationslager-SS mit Vorbereitungen zur Evakuierung des Lagers. Vor allem das Krankenrevier war ein bevorzugter Ort der Selektionen durch die SS-Ärzte, die einen Teil der Kranken entweder direkt in den speziellen Tötungseinrichtungen Sachsenhausens ermordeten oder aber auf die Transportliste nach dem Sterbelager Bergen-Belsen setzten, wo sie, wie Arthur Vanderpoorten und nicht wenige andere Belgier, noch kurz vor der Befreiung den Tod fanden. Die belgische Gruppe jedoch scheint auch nach den Selektionen im Wesentlichen ihren Zusammenhalt bewahrt zu haben. Sie bereitete sich auf den Ausmarsch aus dem Lager vor, der am 21. April begann. Um 17.00 Uhr marschierte auch ein Block von 500 überwiegend belgischen Häftlingen aus dem Lager und ging auf den Todesmarsch, auf dem sie sich gegenseitig stützten und halfen. Darüber berichtet Georges Odou in seinen Erinnerungen wie folgt: „Von nun an beobachteten wir immer häufiger, dass der Zugführer alle diejenigen per Genickschuss tötete, die zurückblieben, weil sie dem Marschtempo nicht mehr folgen konnten. Ich hatte Glück, dass ich in guter körperlicher Verfassung war, mich zudem zwischen den Belgiern Relecom und Dubocq befand. Wir stützten und unterstützten uns gegenseitig so gut es ging.“  Der junge, in Brüssel geborene Arzt Dr. Michel Goffart, der als Nacht- und Nebel-Häftling im Juni 1944 nach Sachsenhausen kam und dort im Krankenrevier als Häftlingsarzt arbeitete, begründet diesen Zusammenhalt in seinen 1948 erschienen Erinnerungen auf ganz unprätentiöse Weise, wie folgt: Durch den engen Kontakt im Lager mit den vielen anderen Nationen haben die belgischen Häftlinge gelernt, dass sie trotz der unterschiedlichen Sprachen, die sie trennte, einfach nur Belgier waren und sich dadurch näher standen als zu den Holländern oder zu den Franzosen.

 

Den Zusammenhalt auch nach der Befreiung aus den Lagern nicht zu verlieren, das mag einer der entscheidenden Gründe dafür gewesen sein, warum die belgischen Überlebenden schon im September 1945, viel früher als andere Nationen, die „Amicale Nationale des Prisonniers Politique de Sachsenhausen-Oranienburg“ als eingetragenen Verein gründeten. Unter den Gründungsmitgliedern sowie im Vorstand der Vereinigung waren alle politischen Richtungen des belgischen Widerstandes und auch alle Sprachengruppen vertreten. In einer Broschüre, die KZ-Überlebende 1954 publizierten, verlegten sie sogar das Gründungsdatum ihrer Organisation auf den Herbst 1944. Die Amicale, so führten sie darin aus, entstand im Konzentrationslager als illegales Komitee, gegründet von acht Belgiern, die verschiedenen politischen Richtungen angehörten. Denn ein großes Konzentrationslager, so heißt es dort weiter, ist eine Gemeinschaft von kriegführenden Staaten. Belgien war in Sachsenhausen einer dieser Staaten. In nahezu allen der schon früh erschienenen Erinnerungsschriften belgischer Überlebender kommt der ernste Wille zum Ausdruck, aus den Erfahrungen im Konzentrationslager für die politische Zukunft nicht nur Belgiens, sondern ganz Europas zu lernen. Der Sozialist Gaston Hoyeaux, den die SS im letzten Kriegsjahr von Sachsenhausen nach Buchenwald , das anders als Sachsenhausen schon am 11. April befreit wurde, verschleppt hatte, nahm bereits am 24. April 1945 an einer Gedenkfeier zu Ehren der Opfer des Nationalsozialismus in Belgien teil. Zu einer Zeit, als seine Sachsenhausener Kameraden noch auf dem Todesmarsch um ihr Leben fürchten mussten, appellierte er in einer sehr bewegenden und bis heute aktuellen Rede, die ich deshalb im Original zitieren will, mit folgenden Worten an alle Bürger Europas: „Là bas, dans les camps de concentration, nous nous disions: si nous rentrons au pays, nous continuerons à lutter pour la défense des institutions démocratique, pour la défense de la démocratie, car pour nous la démocratie n’est pas seulement un ensemble des textes. La démocratie, c’est la foi d’un peuple qui croit aux liberté et qui les applique dans toutes les circonstances.”

 

Bevor ich nun das Wort an Sie, sehr geehrte Frau Gesandte Detaille, übergebe, möchte ich Ihnen, liebe Angehörige der Familien Kiebooms, Peeters und van Ploeg, ganz herzlich dafür danken, dass Sie wertvolle Teile des Nachlasses Ihrer Familie der Gedenkstätte übergeben haben. Ein Teil davon zeigen wir in der heute im Zusammenhang mit unserer Gedenkveranstaltung eröffneten und im Eingangsbereich unseres Versammlungsraumes präsentierten Sonderausstellung. Danken möchte ich dafür auch unserer Mitarbeiterin Agnes Ohm, die nicht nur zusammen mit den Kolleginnen und den Kollegen aus den Abteilungen „Sammlung“ und „Technik“ der Gedenkstätte die Ausstellung konzipiert und realisiert hat. Sie hat auch die heutige Veranstaltung organisiert, zu der nach unseren Reden der Schauspieler Tilmar Kuhn sowie der Musiker Jaspar Libuda ein Arrangement aus Texten von belgischen Überlebenden, Bildern Etienne van Ploegs und Eigenkompositionen vortragen werden. Auch ihnen danke ich schon jetzt ganz herzlich.

 

Im KZ Sachsenhausen waren, meine sehr geehrten Damen und Herren, zwischen 1940 und 1945 mehr als 2.200 Belgier inhaftiert. In dem aufgrund von Aktenvernichtungen durch die SS unvollständigen Totenbuch der Gedenkstätte finden sich die Namen von 193 Belgiern, die die vielfältigen Torturen des Konzentrationslagers nicht überlebten. Einen Teil der Namen werden später an der „Station Z“ von Schülerinnen und Schülern des Berliner Alexander von Humboldt-Gymnasiums verlesen.  Ihrer wollen wir heute, am Tag der Opfer des Nationalsozialismus,  ganz besonders gedenken.