Stellungnahme zum offenen Brief des Vorstandsvorsitzenden der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) Dieter Dombrowski vom 2. Dezember 2021 betr. Straßenbenennung auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenkommandos „Zeppelin“ nach Gisela Gneist

Betr.: Stellungnahme des vormaligen Direktors der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (1997-6/2018) zum  Brief des Vorstandsvorsitzenden der UOKG vom 2.12.2021 betr. Straßenbenennung Gisela Gneist

                                                                                         Oranienburg, den 4. Dezember 2021

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Stadtverordnete,

im Internet wird oben genannter offener Brief des Vorsitzenden der UOKG verbreitet, in dem auch meine Person namentlich in einem, wie ich meine, nicht richtigen Zusammenhang kritisiert wird. Dazu sende ich Ihnen folgende Stellungnahme mit der Bitte zu, diese auch allen Stadtverordneten zukommen zu lassen. Sollten sich daraus Fragen an mich ergeben, so würde ich mich freuen, diese auf die eine oder andere Weise beantworten zu dürfen:                                        

Es ist zweifellos richtig, dass, wie in dem oben genannten Brief angeführt wird,  es“ kein Sakrileg“ war und ist, sich kritisch mit der u. a. vom Stiftungsdirektor verantworteten Erinnerungspolitik  auseinanderzusetzen – und dies gilt nicht nur hinsichtlich der Bewertung der Geschichte der sowjetischen Speziallager. Dabei verschweigt der Vorstand der UOKG bedauerlicherweise aber, dass diese nicht allein vom Stiftungsvorstand, sondern vor allem auch von den Beratungs- und Beschlussgremien der Stiftung konsensual erarbeitet und getragen wurde. Lange Jahre, während derer u. a. das neu errichtete Museum sowjetisches Speziallager eröffnet wurde, stand an der Spitze des von Bund und Land sowie von den Repräsentanten der Opferverbände getragenen Stiftungsrates Kulturministerin Prof. Dr. Johanna Wanka, Mitglied und zeitweise sogar Vorsitzende der brandenburgischen CDU. Der Vorsitzende der UOKG Dieter Dombrowski gehörte seinerzeit  auch zur CDU-Fraktion des Brandenburgischen Landtages. Die Abgeordneten haben über viele Jahre regelmäßig, mindestens einmal jährlich, den Bericht des Stiftungsvorstandes zur Kenntnis genommen. Kritische Nachfragen von Abgeordneten daran hat es dabei höchstens vereinzelt gegeben. Hingegen kamen Abgeordnete, insbesondere  des Kulturausschusses, nicht selten zur Ortsbesichtigung in die Gedenkstätte Sachsenhausen. Ganz überwiegend drückten sie dabei ihr Lob und ihre Anerkennung für die Arbeit der Gedenkstätte gerade auch im Hinblick auf den Umgang der Stiftung mit der zweifachen Vergangenheit Sachsenhausens aus. Der Stiftungsdirektor hatte dazu eine neun Punkte umfassende Erklärung der Leitlinien zum Gedenken an Orten zweifacher Vergangenheit schriftlich vorgelegt, die nicht nur von den beiden Arbeitsgruppen des internationalen Beirats, sondern dezidiert auch vom damaligen Innenminister und CDU-Vorsitzenden Jörg Schönbohm (CDU) gebilligt wurden.

 Leider verschweigt das Anschreiben der UOKG auch , dass sich die „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945-1950“ (AG)  in ihren Kampagnen gegen die die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten im Allgemeinen und den Stiftungsdirektor im Besonderen – im Sprachgebrauch der AG wurde er als „ultralinker Alt-68-iger“ denunziert –   jedoch auch Methoden der Verleumdung bediente, die von einem ordentlichen Gericht als Lügen enttarnt und im Falle der Wiederholung mit einer hohen, sechsstelligen Geldstrafe sanktioniert wurden. Trotzdem hat sich die AG dieser formellen Rechtsprechung nicht gebeugt, sondern selbst bei offiziellen Anlässen ihre nachweislich falschen Behauptungen wiederholt, weshalb sie teilweise sogar in Publikationen Eingang fanden. Auch hat sich die AG zur Amtszeit von Gisela Gneist trotz vielfacher Bitten des Stiftungsdirektors nicht öffentlich von rechtsextremistischen Aktivitäten im Umfeld der Gedenkstätte Sachsenhausen distanziert, sondern in dieser Zeit eher Kontakte in dieses Milieu gesucht. So hat sich die AG auch nicht gegen Mordaufrufe in den einschlägigen sozialen Medien der Neonazis gewandt, die sich mit Verweis auf Kritik der AG an der Erinnerungspolitik der Stiftung gegen den damaligen Stiftungsdirektor persönlich richteten. Dies gilt nicht weniger für die Gedenkveranstaltung für den Massenmörder und maßgeblichen Gutachter der sogenannten Kindereuthanasie Prof. Heinze. Vielmehr hat die Vorsitzende der AG  in einer öffentlichen Veranstaltung, an der sie gemeinsam mit dem Stiftungsdirektor auf dem Podium teilnahm,  das Gedenken an den Massenmörder Heinze noch nachträglich mit dem Verweis auf seine Rehabilitation durch die russische Staatsanwaltschaft gerechtfertigt. Weitere Beispiel ließen sich leicht ergänzen. Einige wenige davon sind , wie die antisemitischen Ausfälle von Frau Gneist gegenüber dem Stiftungsdirektor, im Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte erwähnt.

Der im letzten Absatz des Briefes formulierte Grundsatz „Auch wenn das NS-Unrecht…als Begründung herangezogen werden.“ – war eine in der Stiftung  sowohl von den Stiftungsgremien als auch von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stets getragene Leitlinie ihrer historischen Bewertung des sowjetischen Speziallagers. Nachzulesen ist eine solche Passage etwa in dem von Günter Morsch und Ines Reich herausgegebenen Band „Sowjetisches Speziallager Nr. 7/Nr. 1 in Sachsenhausen (1945-1950)“, Berlin 2005, S. 49, wo es heißt: „Mindestens 12.000 Menschen starben zwischen 1945 und 1950 an Hunger, Krankheiten und Seuchen in diesem Lager, in dem neues Leid und Unrecht geschah, das selbst vor dem Hintergrund der Völker- und Kriegsverbrechen des Nationalsozialismus nicht zu rechtfertigen ist. In Sachsenhausen, wo auf das Nationalsozialistische Konzentrationslager das sowjetische Speziallager folgte, darf das eine durch das andere weder relativiert noch bagatellisiert werden.“ Dieser Satz ist Teil des einleitenden Museumstextes. Nicht nur in der nach wie vor existierenden Dauerausstellung des Museums, die von Wissenschaft und Öffentlichkeit ganz überwiegend als beispielhaft gelobt wurde, sondern auch in den zahlreichen Reden des damaligen Stiftungsdirektors  finden sich ähnliche Formulierungen. Sie spiegeln den Forschungsstand, wie er in zwei  von der Wissenschaft allgemein als Standartwerke bezeichneten und u. a. auch von Günter Morsch herausgegebenen, dickleibigen Publikationen zur Geschichte der sowjetischen Speziallager veröffentlicht wurde. Auch andere in der Amtszeit von Günter Morsch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte Sachsenhausen publizierte Schriften zur Geschichte der sowjetischen Speziallager in Brandenburg, werden nach wie vor als Grundlagenwerke verlegt.

Spätestens mit der Wahl von Dieter Dombrowski  2015 zum Vorstandsvorsitzenden der UOKG und  eines neuen Vorsitzenden der AG begann nach schwierigen Jahren der Zusammenarbeit in der Amtszeit von Frau Gneist eine erneute Phase des Dialogs mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Konstruktive Lösungen wurden gemeinsam gesucht und erreicht;  polemische und verleumderische Angriffe auf Wissenschaftler und Gedenkstättenmitarbeiter seitens einzelner Verbände  der UOKG , wie die von einem Gericht verurteilten tätlichen Angriffe eines Repräsentanten der UOKG auf die Leiterin der Gedenkstätte  Potsdam-Leistikowstraße, gehören zunehmend der Vergangenheit an. Dieser erfolgversprechende und kooperative Weg sollte weiter verfolgt werden. Dazu gehört aber auch, dass sich die Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft von revisionistischen, rechtsradikalen, antisemitischen  und verleumderischen Angriffen und Tendenzen der Vergangenheit endlich öffentlich und ehrlich distanzieren.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Günter Morsch

Tag der Opfer des Nationalsozialismus 27. Januar 2018: Norwegische Häftlinge im KZ Sachsenhausen

TAG DER OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS
27. JANUAR 2018

NORWEGISCHE HÄFTLINGE IM KONZENTRATIONSLAGER SACHSENHAUSEN 1940-45

BEGRÜSSUNG UND EINFÜHRUNG
PROF. DR. GÜNTER MORSCH

„Unser Land ist von feindlichen Mächten belagert
Wir selber sind deportiert worden und gehen in Häftlingskleidung
Hier kriegen wir Schweinefutter und brennen vor Hass
Wir schmieden den Stahl für Germaniens Rüstung

Wir stehen auf dem Appellplatz im eiskalten Wind
Wir ziehen unsere Lumpen an
Die stinken wie die Pest
Wir schlafen zu zweit in einem Bett
Wir werden schwach mit allen Sklaven in unserer Buchte
Und der Tod schlägt uns oft

Es wird ein Tag kommen, und der ist nicht fern
Dann sprengen wir das Tor, obwohl es von Eisen ist
Denn hinter dem fernen Horizont und hinter dem Meer und dem Strand
Ist unser Norwegen unser wieder gewonnenes Land.“

Mit diesen drei Strophen aus dem 1943 verfassten Lagerlied der norwegischen Häftlinge möchte ich Sie alle, sehr geehrte Gäste unserer heutigen Gedenkveranstaltung, ganz herzlich begrüßen. Der Liedtext wurde von dem bekannten Schriftsteller Arnulf Överland geschrieben, der wegen seines Widerstandes gegen die deutsche Besatzungsmacht seit 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert war. Ganz besonders freuen wir uns darüber, dass Bernt Lund zum wiederholten Mal die beschwerliche Reise von Oslo nach Oranienburg auf sich genommen hat, um heute als Zeitzeuge zu uns zu sprechen. Lieber Herr Lund, seien Sie herzlich willkommen! Ich begrüße den Vizepräsidenten des Brandenburger Landtag Dieter Dombrowski, den Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhausen Herr Wieland und den Botschafter des Königreichs Norwegen Petter Ölberg. Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen sowie der Landtag in Brandenburg begehen gemeinsam den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus seit seiner Einführung im Jahre 1996 am historischen Ort, dem ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen, dort wo sich auch die Verwaltungszentrale des KZ-Terrors befand. Dafür möchte ich Ihnen sehr geehrter Her Landtagsvizepräsident, dem Präsidium sowie allen Fraktionen des Brandenburgischen Landtages, die diesen Beschluss mittragen, ganz herzlich danken.
Es ist mir dabei eine große Freude, auch in diesem Jahr wieder die anwesenden Abgeordneten des Brandenburgischen Landtages sowie des Berliner Abgeordnetenhauses begrüßen zu dürfen. Ich begrüße ferner die Mitglieder der Brandenburgischen Landesregierung und des Berliner Senats. Ich begrüße die Vertreterin der Staatsministerin für Kultur, den Landrat des Kreises Oberhavel, den Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die Mitglieder des Kreistages sowie der Stadtverordnetenversammlung. Ganz besonders dankbar sind wir, dass erneut zahlreiche Angehörige und Repräsentanten ausländischer Botschaften sowie Angehörige von Verfolgten des Nationalsozialismus an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ich danke außerdem allen Vertretern der Parteien, der Gewerkschaften und der Wirtschaft, der Kirchen sowie der jüdischen Gemeinden. Ich begrüße ferner die Vertreter von Hochschulen und Schulen sowie der verschiedenen Opferverbände, insbesondere den Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausenkomitees, Dik de Boef, und die Mitglieder des internationalen Beirates der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Ganz besonders freuen wir uns auch über die Anwesenheit von Schülerinnen und Schülern. Schon jetzt danke ich den Schülerinnen und Schülern des Georg-Mendheim-Oberstufenzentrums sowie des Gymnasiums Panketal, die an der Ausgestaltung unserer Gedenkveranstaltung mitwirken.

Am 9. April 1940 überfielen deutsche Wehrmachtstruppen das Königreich Norwegen. Während die norwegischen Soldaten einen tapferen aber aussichtlosen Kampf gegen die deutschen Invasoren führten, gelang König Haakon VII die Flucht nach Großbritannien. Dort baute er eine Exilregierung auf. Die Herrschaft im Land übernahmen der ehemalige NSDAP-Gauleiter des Ruhrgebietes, Josef Terboven, sowie der Befehlshaber der Wehrmacht Nikolaus von Falkenhorst. Obwohl das „Dritte Reich“ sich um eine enge Zusammenarbeit mit dem sogenannten „Nordischen Brudervolk“ bemühte, blieb der Erfolg gering, da der eingesetzte Ministerpräsident Vidkun Quisling kaum Rückhalt in der norwegischen Bevölkerung fand. Im Lauf der Besatzungszeit nahmen daher der Widerstand aus der norwegischen Bevölkerung einerseits und der Terror der deutschen Besatzungsmacht andererseits immer mehr zu. Nicht nur aus ideologischen, sondern vor allem auch aus wirtschaftlichen Gründen gingen die Deutschen in den skandinavischen Staaten vorsichtiger als anderswo vor. Trotzdem kam es vielfach zu offenem Terror. Standrecht, Hinrichtungen, Deportationen und Verhaftungen .
Während die meisten Norweger in Polizeihaftlagern und Gefängnissen auf norwegischen Boden inhaftiert wurden, verschleppte die SS mehr als 9.000 ganz überwiegend politische Widerstandskämpfer in Konzentrationslager. Fast 800 Juden wurden vor allem nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dass die meisten Norweger, mehr als 2.500, in das Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt transportiert wurden, lag wohl am wenigsten in der geographischen Lage Oranienburgs begründet. Vielmehr war wohl die schon 1939 vorgenommene Einstufung des KZ Sachsenhausen als ein, wie es die SS nannte, Lager für besserungsfähige Häftlinge entscheidend. Möglicherweise nahm darauf auch der kurz davor abgelöste Kommandant von Sachsenhausen Hans Loritz Einfluss, der im September 1942 die Führung der SS-Inspektion in Norwegen übernahm. Denn schon bald nach seiner Ernennung wuchs die Anzahl der mit Schiffen und Eisenbahnen hauptsächlich aus dem Polizeihaftlager Grini bei Oslo verschleppten Norweger stark an.
Der erste Häftlingstransport aus Norwegen war bereits am 24. August 1940 von der Lagerverwaltung erfasst worden. Im weiteren Verlauf des Jahres sowie auch im darauf folgenden Jahr 1941 blieb es bei vereinzelten Transporten. Erst am 27. Mai 1942 erreichte ein neuer Großtransport mit 113 Norwegern das Konzentrationslager Sachsenhausen. Unter ihnen befanden sich 66 Männer aus der kleinen Fischersiedlung Telavag[Telawohg] im Westen Norwegens. Aus Rache für die Unterstützung der westlichen Alliierten und die Erschießung zweier Gestapobeamter ließ Reichskommissar Terboven das gesamte Dorf in Schutt und Asche legen und verschleppte am 30. April 1942 alle Kinder und Frauen sowie ältere Männer nach Bergen. Die zwischen 15 und 65 Jahre alten Männer dagegen transportierte die SS fast alle über Grini nach Sachsenhausen. Nicht einmal die Hälfte von ihnen überlebte.
Ende 1942 verstärkten die Nationalsozialisten angesichts der an allen Fronten sich abzeichnenden militärischen Niederlagen ihre Rüstungsanstrengungen. Die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen bekam dadurch einen völlig neuen Stellenwert. Aus allen besetzten Ländern, so auch aus Norwegen, verschleppten die Nationalsozialisten Hundertausende von Menschen in das sich explosiv ausweitende und verzweigende Lagersytem. Zeitweise erreichten 1943 fast täglich große Häftlingstransporte aus Norwegen das Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt. Diese großen Transporte dauerten auch im ersten Halbjahr 1944 an. Dadurch erhöhte sich die Anzahl der norwegischen Häftlinge, die zur gleichen Zeit im Oranienburger Hauptlager sowie in den Nebenlagern, vor allem in den Außenlagern Falkensee, Heinkel sowie Bad Saarow, inhaftiert waren, auf über 2.000.
Die ganz überwiegende Anzahl der Norweger mussten im KZ Sachsenhausen das rote Dreieck der politischen Häftlinge an ihre Kleidung nähen. Über norwegische Häftlinge mit anderen Winkelfarben ist kaum etwas bekannt; nur vereinzelt waren auch Juden unter ihnen. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge kam aus den verschiedenen Organisationen der norwegischen Arbeiterbewegung, insbesondere aus den Jugendorganisationen. Da der vom britischen Exil aus angeleitete Widerstand in Norwegen sehr straff militärisch organisiert war, gehörten auch zahlreiche Polizisten, wie z. B. der Polizeidirektor von Kristiansand, Kristian Wilhelm Rynning-Tönnessen, sowie ehemalige Soldaten der norwegischen Armee zu den Inhaftierten. Auch zahlreiche Intellektuelle, wie z. B. der Rektor der Osloer Universität Didrik Arup Seip, der eingangs zitierte Schriftsteller Arnulf Överland, der Sohn des Nobelpreisträges und Polarforschers Odd Nansen sowie evangelische Geistliche, wie Pedder Scheie, befanden sich unter den norwegischen Häftlingen.
In Sachsenhausen erwartete die Norweger zunächst das übliche demütigende und grausame Aufnahmeritual. In den ersten zwei bis drei Wochen wurden sie in den Quarantäneblocks zusammen gepfercht. Die meisten von ihnen mussten in dieser Zeit die Qualen des sogenannten Schuhelaufens auf der über den Appellplatz herumführenden, von der deutschen Schuhindustrie eingerichteten Teststrecke erdulden. Die übermenschlichen Anstrengungen und sadistischen Quälereien auf dem täglichen, etwa 40 Kilometer langen Marsch über unterschiedliche Bodenbeläge, häufig in zu engen und kleinen Stiefeln, haben sich in das Gedächtnis der Überlebenden besonders stark eingegraben. Himmlers auf die Giebel des ersten Barackenrings angebrachten Sinnspruch, wonach die Freiheit angeblich von der Befolgung der Sekundärtugenden, also Fleiß, Ordnungssinn, Ehrlichkeit und Vaterlandsliebe, abhing, haben viele Norweger auch noch nach ihrer Befreiung als Ausdruck einer typisch deutschen Mentalität interpretiert.
Solange die Lagerverwaltung die norwegischen Häftlinge aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl auf die 58 Baracken des Häftlingslagers verteilte, teilten sie das Schicksal aller übrigen Häftlinge. Überdurchschnittlich viele Norweger starben daher in diesen ersten beiden Jahren. Spätestens nach der Ankunft der Massentransporte im Jahre 1943 gelang es ihnen, die Zusammenlegung in eigenen Blocks, den sogenannten Norweger-Baracken, zu erreichen. Der dadurch bewirkte Zusammenhalt stärkte die Identität der norwegischen Häftlingsgruppe, die sich durch eine starke Heimatorientierung auszeichnete, die nicht selten mit einem ausgeprägten nationalen Stolz sowie einem starken antideutschen Widerstandsgeist einherging. Alle erhaltenen Erinnerungsberichte der Überlebenden zeugen von einem intensiven kulturellen Leben der Norweger in diesen Baracken. Mindestens genauso wichtig für das Überleben der norwegischen Häftlinge war die im Dezember 1942 erteilte Erlaubnis zum Paketempfang. Monatlich konnten danach privilegierte Häftlingsgruppen Pakete mit Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten empfangen. Nicht nur die Angehörigen der Häftlinge, sondern vor allem auch das norwegische, dänische und schwedische Rote Kreuz sandten von 1943 an bis zu 5 Kilogramm schwere Pakete, die den meisten Empfängern die Chancen des Überlebens im Lager auf vielfache Weise entscheidend verbesserten.
Da die Pakete nur an namentlich bekannte Häftlinge verschickt werden durften, partizipierten zunächst nicht alle Norweger an dieser wichtigen Hilfsaktion. Es ist der seinerzeit mit ihrer Familie in Groß-Kreuz internierten, damals 21-jährigen Wanda Heger vor allem zu verdanken, dass diese Aktion sich auf fast alle skandinavischen Häftlinge ausdehnen konnte. Der genau heute vor einem Jahr leider verstorbenen Norwegerin nämlich gelang es, mit norwegischen Häftlingen, die in den Außenkommandos des Lagers arbeiteten, zum Teil unter den Augen des SS-Wachen Kontakt aufzunehmen und über sie die Namen weiterer Landsleute zu ermitteln, die sie an das Rote Kreuz weitergab.
Aus der Paketaktion der Skandinavier entwickelte sich eine der größten Solidaritätsaktionen, die auch in den Erinnerungen anderer Häftlingsgruppen, eine wichtige Rolle spielen. Denn vielfach verteilten die Norweger einen Teil des Inhalts der Pakete vorwiegend an die Kranken und die sogenannten Muselmänner. Mark Tilevic, der im Sommer diesen Jahres leider verstorbene langjährige Präsident des russischen Sachsenhausenkomitees, schreibt darüber in seinen Erinnerungen: „Die Tatsache, dass sich Norweger in unserem Lager befanden, war eine enorme Stütze, besonders für uns Russen, denn sie gaben sich große Mühe, uns jede erdenkliche Hilfe zu leisten, da wir die Elendsten von allen waren…Wir hatten mit ihnen eine äußerst herzliche und warme Freundschaft, die sich das Leben über fortsetzte.“
In dankbarer Erinnerung vieler Häftlinge blieben vor allem auch die verschiedenen Hilfsaktionen, mit denen sich norwegische Häftlingsärzte in den Revieren des Lagers um die Kranken bemühten. So organisierte Dr. Sven Oftedal gemeinsam mit seinem norwegischen Kameraden Dr. Per Graesli eine Blutspendeaktion im Lager, an der sich rund einhundert Häftlinge beteiligten. Beiden sowie dem norwegischen Pfleger Per Roth war es wohl auch in der Hauptsache zu verdanken, dass die elf jüdischen Kinder, die im Krankenrevier II für medizinische Experimente missbraucht wurden, nicht als Zeugen der NS-Verbrechen wie andere ermordet, sondern auf den Todesmarsch geschickt wurden, den alle überlebten.
Die allermeisten norwegischen Häftlinge im KZ Sachsenhausen empfanden sich nicht nur gegenüber den anderen Häftlingsgruppen als privilegiert, sie waren es zweifellos in vieler Hinsicht auch. Das wurde wahrscheinlich durch die Rettungsaktion des dänischen und schwedischen Roten Kreuzes am sichtbarsten, die unter dem Namen „Aktion Bernadotte“ weltweit bekannt ist. Zwischen dem 18. und dem 30. März 1945 gelang es, mehr als 2.000 skandinavische Häftlinge mit weiß gestrichenen Bussen und Lastwagen aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen zu befreien. Zurück blieb, folgt man der Lagerregistratur, nur ein einziger norwegischer Häftling, der offenbar todkrank im Revier lag. Es handelte sich um Johannes Christopher Telle, ein im Rahmen der erwähnten kollektiven Sühnemaßnahme verschleppter Fischer aus Telavag [Telawohg]. Er verstarb am 2. April 1945. Insgesamt kehrten wohl etwa 200 der mehr als 2.500 nach Sachsenhausen verschleppten Norweger nicht mehr nach Hause zurück. Die meisten verstarben in den ersten beiden Jahren infolge der katastrophalen Lebensbedingungen. Eher eine, allerdings bezeichnende Ausnahme scheint der norwegische Jude Moritz Rabinowitz zu sein. Er wurde, so erinnern sich verschiedene norwegische Häftlinge, von der SS am 27. Februar 1942 zu Tode gefoltert.
Nach Hause zurückgekehrt, versuchten viele der norwegischen Überlebenden an ihre Tätigkeiten vor dem Krieg anzuknüpfen. Norwegische Sachsenhausen-Überlebende bestimmten bis in die siebziger Jahre hinein maßgeblich die Politik dieses skandinavischen Landes. Noch im Konzentrationslager, so erinnert sich Finn Kleppe, sei die erste Nachkriegsregierung Norwegens gebildet worden: Am 9. Mai 1944 habe der spätere Ministerpräsident Einar Gerhardsen eine Reihe von norwegischen Häftlingen aus Anlass seines Geburtstages in seine Baracke eingeladen. Dort am Tisch habe er seine Kameraden Halvard Lange zum Außenminister, Nils Langhelle zum Verkehrsminister, Sven Oftedahl zum Sozialminister, Lars Moen zum Kirchenminister und Johan Johansen zum Arbeitsminister ernannt. Es kann von mir nicht entschieden werden, inwieweit der Bericht von Finn Kleppe die Vergangenheit doch etwas zu sehr verklärt. Richtig bleibt aber, dass nicht nur die Genannten, sondern auch viele weitere Sachsenhausen-Überlebende, so auch unser Ehrengast Bernt Lund, noch über viele Jahrzehnte wichtige politische Ämter in Norwegen bekleideten und dadurch auch die Politik Europas maßgeblich mitprägten.

Als Ignaz Bubis sel. Ang. 1996 dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog den Tag der Befreiung der im Lager Auschwitz verbliebenen Häftlinge als Gedenktag vorschlug, war er sich sicherlich der Singularität des Völkermords an den europäischen Juden bewusst. Kein anderer der vielen Feinde des Nationalsozialismus und kein anders Zielobjekt ihres Rassenwahns sollte vollständig, vom Baby bis zum Greis, Männer ebenso wie Frauen, in Gänze und weltweit ausgerottet werden. Trotzdem wollte Bubis den Gedenktag allen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet wissen. Denn allen überlebenden Opfern des Nationalsozialismus stand bis zum Ende ihres Lebens die den inneren Kern der NS-Ideologie bestimmende generelle Menschenfeindlichkeit vor Augen, die sich gegen Kranke und Schwache ebenso wie gegen politische Gegner, gegen Angehörige angeblich minderwertiger Rassen ebenso wie gegen soziale Außenseiter, gegen sexuelle Minderheiten ebenso wie gegen Unangepasste richtete. Es ist gerade heute, da die Stimmen der Zeitzeugen weitgehend verstummt sind und Feindbilder von Rechtspopulisten und -extremisten fast nach Belieben ergänzt, aktualisiert und verändert werden, immer wichtiger, sich dieser generellen antihumanen Bedrohung bewusst zu bleiben. Noch sind es nur wenige, die sogar den Holocaust abstreiten oder relativieren. Bedenklicher scheint mir dagegen die sich, teils aus Unbedacht und teils aus Kalkül, ausbreitende Gewohnheit zu sein, die Verbrechen des Nationalsozialismus auf den Holocaust an den Juden zu beschränken und die generelle Menschenfeindlichkeit auszublenden.
Im Konzentrationslager Sachsenhausen waren Menschen aus über vierzig Nationen inhaftiert. Sie waren aus den verschiedensten Gründen in das Konzentrationslager bei Reichshauptstadt und seine Außenlager verschleppt worden, aus rassischen, politischen, religiösen, sozialen, biologischen und ökonomischen Gründen. Auch wenn die Todesbedrohungen unterschiedlich ausgeprägt waren, so befanden sich unter den vielen zehntausenden von Opfern Angehörige aller Haftgruppen. Dieser Nationen, Schichten und Gruppen überwölbenden Gemeinsamkeit sollten wir uns bewusst bleiben. Sie war eine der zentralen Anliegen der überlebenden KZ-Häftlinge. Nicht zuletzt deshalb versäumte es keiner der drei inzwischen leider verstorbenen Präsidenten des Internationalen Sachsenhausen Komitees, in ihren Reden immer wieder auf die aus ihrer Erfahrung im KZ heraus wichtigste und unverzichtbare Grundlage humanen Zusammenlebens hinzuweisen, auf die „solidarité“, wie Charles Désirat, Pierre Gouffault und Roger Bordage als Franzosen formulierten. Im Vermächtnis der Überlebenden, das zehn Präsidenten der Häftlingsverbände der großen Konzentrationslager 2009 verfassten und zahlreichen hohen Repräsentanten europäischer Staaten überreichten, heißt es in eben diesem Sinn: „Aber auch Europa hat seine Aufgabe: Anstatt unsere Ideale für Demokratie, Frieden, Toleranz, Selbstbestimmung und Menschenrechte durchzusetzen, wird Geschichte nicht selten benutzt, um zwischen Menschen, Gruppen und Völkern Zwietracht zu säen…“
Wie stark gerade auch norwegische KZ-Überlebende von Sachsenhausen mit dem Gedanken der europäischen Einigung verbunden waren, beweist u. a. das Verhalten des vielfachen Ministers und zweifachen Ministerpräsidenten Norwegens Trygve Bratelli. Der engagierte Jugendpolitiker der Arbeiterpartei war schon vor seiner Inhaftierung im Juni 1942 und seiner Deportation nach Sachsenhausen freundschaftlich mit dem deutschen Emigranten Willy Brandt verbunden. Nach dem Krieg pflegten sie diese Freundschaft weiter und trafen sich oft zu Gesprächen über Deutschland und Europa. Konsequenterweise trat er als Ministerpräsident zurück, als die Norweger sich in einer Volksabstimmung gegen den von ihm bereits unterschriebenen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aussprachen. Doch seine Überzeugung, dass Europa auf Dauer nur Frieden finden könne, wenn es auch zwischen Ost und West einen inneren Zusammenhang herstellt, holte ihn aus seinem zwischenzeitlichen Ruhestand zurück. „Je stärker Europa eine Zusammenarbeit zwischen den Nationen entwickelt, desto weniger muss man sich vor den Quellen der Unruhe fürchten, die zweimal zu meinen Lebenszeiten zu Weltkriegen geführt haben.“ Dieses Bekenntnis zu Europa formulierte der ehemalige „Nacht und Nebel-Häftling“, in dessen Wohnzimmer ein Gemälde des bekannten norwegischen Künstlers Reider Aulie mit dem Titel „KZ-Häftlinge beim Appell“ im Wohnzimmer der Familie hing, im Jahre 1971. Vier Jahre später unterzeichnete Bratelli als norwegischer Ministerpräsident die berühmte Schlussakte von Helsinki, die nicht nur als ein Meilenstein der Entspannungspolitik, sondern als entscheidende Wegmarke zum Fall der Mauer und zur Auflösung des Warschauer Pakts angesehen wird.

In dem kürzlich mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Roman von Robert Menasse, „Die Hauptstadt“ verfolgt eine Projektgruppe der Europäischen Kommission die Idee, das gegenwärtig schwindende Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa durch den Verweis auf die Entstehungsgeschichte der europäischen Einigung wiederzubeleben. Im Zentrum einer geplanten Jubiläumsveranstaltung sollte daher das Vermächtnis von KZ-Überlebenden stehen. Das Vorhaben scheitert schließlich am kleinlichen und bornierten Egoismus der unterschiedlichen nationalen Repräsentanten, denen die Quoten für Schweinefleisch wichtiger und präsenter sind als die historische Verantwortung. Diese fiktionale Handlung ist keinesfalls unrealistisch. Vergleichbares haben die zehn Präsidenten der Häftlingsverbände in Brüssel schmerzlich erfahren müssen, als sie ihr Vermächtnis möglichst vielen europäischen Abgeordneten übereichen wollten. Wir sind daher heute auch hier, um dieses Vermächtnis der KZ-Überlebenden zu bekräftigen. Es ist aktueller denn je.

„Das schönste Konzentrationslager Deutschlands“ (Lagerarchitekt Bernhard Kuiper) Eröffnung der Sonderausstellung in der KZ-Gedenkstätte Esterwegen

„DAS SCHÖNSTE KZ DEUTSCHLANDS“ (‚LAGERARCHITEKT‘ BERNHARD KUIPER)

VOM KZ ESTERWEGEN ZUM KZ SACHSENHAUSEN

Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Esterwegen

Prof. Dr. Günter Morsch

 

 

 

Sehr geehrter Herr Landrat,

liebe Frau Dr. Kaltofen,

lieber Kollege Buck,

meine sehr geehrten Damen und Herren

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen darf auch ich Sie alle ganz herzlich zu unserer heutigen Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Esterwegen begrüßen. Die Sonderausstellung, die wir in enger Kooperation mit der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen konzipiert und entwickelt haben, trägt den zugegebenermaßen etwas provozierenden Titel „‘Das schönste KZ Deutschlands‘. Vom KZ Esterwegen zum KZ Sachsenhausen“.  Diese von uns bewusst ausgewählte, auf den ersten Blick irritierende Beschreibung eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers stammt aus der Feder von Bernhard Kuiper, der sich selbst als „Lagerarchitekt“ titulierte. Der aus Ostfriesland stammende, studierte und staatlich examinierte Ingenieur für Hoch- und Tiefbau beantragte Ende 1937 die Einrichtung eines selbständigen Architekturbüros in Papenburg. In seinem von ihm selbst verfassten ausführlichen Lebenslauf warb er für seinen Antrag damit, dass er in Sachsenhausen das, wie er wörtlich schrieb, „bis heute modernste, schönste und größte Lager dieser Art des Deutschen Reichs“ gebaut habe. Seine Karriere als KZ-Baumeister hatte Kuiper allerdings schon im August 1934 im emsländischen KZ Esterwegen begonnen. Von Theodor Eicke, dem Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der Totenkopfwachverbände, war er beauftragt worden, das ursprünglich von der preußischen Polizei mitten im sumpfigen Moor gegründete frühe Konzentrationslager aus- und umzubauen sowie nach den Wünschen und Vorstellungen der SS zu verschönern. Als das KZ Esterwegen aufgelöst und an das Reichsjustizministerium für 750.000 RM verkauft wurde, transportierte die Konzentrationslager-SS die rund 900 KZ-Häftlinge im August und September 1936 in die Nähe der Reichshauptstadt Berlin.

Mitarbeiter der Gedenkstätte Sachsenhausen fanden nach der deutschen Einheit im Sonderarchiv Moskau eine einfache, linierte, 40 mal 25 Zentimeter große Kladde, wie sie auch als Schulheft zur damaligen Zeit nicht selten Verwendung fand. Auf dem Etikett der Umschlagsseite steht: Kommandantur des Konzentrationslagers Esterwegen. P I = SS = Führer. Angefangen:  April 1936. Beendet: 21. August 1939“. Es handelt sich um das Posteingangsbuch der Abteilung I (Kommandant) der Kommandantur des KZ Esterwegen. Der erste Eintrag des mit der Führung der Kladde beauftragten SS-Mannes datiert vom April 1936, dem Monat, in dem Karl Otto Koch seinen Vorgänger Hans Loritz als Kommandant des emsländischen Lagers ablöste. Erstaunen  vermag dagegen das Datum auszulösen, an dem das Posteingangsbuch laut Etikett beendet wurde. Denn 1939 war das Konzentrationslager Esterwegen bereits seit drei Jahren geschlossen und von der SS aufgegeben worden. Öffnet man aber das Posteingangsbuch, dann erschließt sich ein nicht unwichtiger Aspekt der Geschichte des KZ-Systems im „Dritten Reich“: Nach wenigen leeren, offenbar absichtlich frei gelassenen Seiten beginnt ein neuer, in der gleichen Handschrift und daher wohl vom selben SS-Mann verfasster Eintrag mit dem Datum vom September 1936 im KZ Sachsenhausen, das zum gleichen Zeitpunkt, über 400 Kilometer vom Hümmling entfernt, seit Juli 1936 bei der märkischen Kleinstadt Oranienburg, nur acht Kilometer vom Stadtrand der Reichshauptstadt Berlin entfernt,  von Häftlingen aus dem alles überdeckenden Kiefernwald herausgeschlagen wurde. Das umstandslos fortgeführte Posteingangsbuch der Kommandantur ist ein Belegstück für die damalige Auffassung der Konzentrationslager-SS, die die Gründung von Sachsenhausen als eine, relativ undramatische und keines großen Aufhebens werte, einfache „Verlegung“ des KZ Esterwegen in die märkische Heide begriff.

Anders als die betroffenen SS-Männer und  Behörden bewertet die Geschichtswissenschaft heute den Übergang vom KZ Esterwegen zum KZ Sachsenhausen, nämlich  als einen tiefen Einschnitt und Beginn einer neuen Phase der Entwicklung des Systems der Konzentrationslager in Deutschland. Manche Historiker meinen sogar, dass mit der Gründung und dem Aufbau von Sachsenhausen, dem „Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt“, ein völlig neuer Lagertypus geschaffen wurde, der mit seinen Vorgängern, den sogenannten frühen Lagern, zu denen auch das KZ Esterwegen gezählt wird, nur wenig zu tun hatte. Die Ursachen dafür werden in den Zusammenhang mit der im Frühsommer 1934 erfolgten Gründung der “ Inspektion der Konzentrationslager beim Reichsführer SS“ gesehen. Theodor Eicke, der bis dahin das KZ Dachau als Kommandant geleitet hatte, wurde am 4. Juli 1934 zum „Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SS-Wachverbände (SS-Totenkopfverbände)“  von Himmler ernannt. Er  begann sogleich damit, viele Lager, wie z. B. das von der SA gegründete KZ Oranienburg, zu schließen. Andere, wie z. B. auch die Emslandlager Börgermoor und Neusustrum,  überließ die SS dem Reichsjustizministerium. Esterwegen dagegen wurde in das neue KZ-Imperium von Himmler und Eicke eingegliedert.

Noch aus dem KZ Lichtenburg, wo sich Eicke zwecks Übernahme  des dortigen Konzentrationslagers durch die SS im Juni 1934 aufhielt, schrieb er einen Brief an den für Personalfragen zuständigen Chef des SS-Amtes Curt Wittje:  „Am 1. Juli 1934 werde ich voraussichtlich meinen Auftrag in Lichtenburg beenden können und mich anschließend nach Papenburg begeben. Bis zu diesem Zeitpunkt muss das Lager einen verantwortlichen Kommandanten haben, da ich sonst an das Lager gebunden bin. Es wäre zweckmäßig, den Betreffenden vor diesem Zeitpunkt nach hier zu beordern, damit er von mir eingewiesen werden kann.“[1] Wenige Tage später ernannte Himmler den von Eicke protegierten, dem KZ-Inspekteur auch persönlich eng verbundenen und aus Dachau bestens bekannten Hans Loritz zum Kommandanten von Esterwegen. Trotzdem hielt  es Eicke für erforderlich, zeitgleich  persönlich ins Emsland anzureisen, um die alte SA-Truppe, die bisher das Lager geführt hatte , abzulösen und den Grundstock für den Aufbau eines eigenen SS-Wachverbandes mit dem Namen „Ostfriesland“ zu legen. Die Schulung und Abrichtung des Wachverbandes übertrugen Eicke und Loritz wenig später dem abgelösten Kommandanten des KZ Sachsenburg, Karl Otto Koch. Dieser vom Typus her seinen beiden Vorgesetzten sehr ähnliche SS-Führer wuchs nach und nach in die entscheidende Rolle bei der weiteren  Entwicklung des Konzentrationslagers im Hümmling hinein.

Weitere Veränderungen der Organisation des Konzentrationslagers Esterwegen folgten. Damit war der erste Schritt zur Umstrukturierung des KZ-Systems erfolgreich getan: Himmler war es gelungen, alle Konzentrationslager in seine Hand zu bekommen, indem er anderen konkurrierenden NS-Organisationen und Dienststellen die Zuständigkeit für diese Instrumente des Terrors entwand und die verbliebenen Lager entweder überwiegend schloss oder straff unter der Leitung des ihm persönlich verantwortlichen KZ-Inspekteurs zusammenfasste. Neben Dachau, Lichtenburg, Sachsenburg und Oranienburg-Columbia schien Esterwegen als dynamisch wachsendes und nach großen Plänen prachtvoll auszubauendes Konzentrationslager sich etabliert zu haben.

Die Einstellung des aus Ostfriesland stammenden Architekten Bernhard Kuiper im August 1934 ist ein weiterer Beleg dafür, dass die KZ-Inspektion mit Esterwegen  ambitionierte Ziele verfolgte und zum damaligen Zeitpunkt noch keinesfalls an eine Aufgabe des KZ oder an eine Übergabe des Lagers an andere Nutzer dachte. Der 27 Jahre alte Architekt hatte an der Höheren Lehranstalt für Hoch- und Tiefbau in Eckernförde studiert und danach kurzzeitig als Hilfsarchitekt auch im Ausland gearbeitet. Für die Stadt Papenburg sowie den Freiwilligen Arbeitsdienst baute er anschließend eine Stadtrandsiedlung mit 40 Einfamilienhäusern. Gleich nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 trat er zunächst der SA und wenig später auch der NSDAP bei. In dieser Zeit betätigte er sich nach eigenen Angaben auch als Berichterstatter in nationalsozialistischen Zeitungen. Es mag sein, dass Eicke und Loritz durch die publizistische Tätigkeit Kuipers auf den jungen Architekten aufmerksam wurden. Unmittelbar nach seiner Einstellung in den Kommandanturstab des KZ Esterwegen in der Funktion eines „Lagerarchitekten“, wie Kuiper sich selbst nannte, trat er auch in die SS ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg verteidigte sich der bald schon in Leer in einem eigenen Büro selbständige Architek vor dem Entnazifizierungsausschuss damit, dass er zum Beitritt gezwungen worden sei, eine angesichts seines schnellen Eintritts in die SA und NSDAP ersichtlich dreiste Lüge, die ihm aber offenbar die ehrenamtlichen „Richter“ nur zu gerne glauben wollten.

Der ehrgeizige „Lagerarchitekt“ begann gleich nach seiner Anstellung damit, den Aus- und Umbau des Konzentrationslagers Esterwegen unter Ausnutzung der Zwangsarbeit der Häftlinge  voranzutreiben. Er orientierte sich dabei an dem ästhetischen Baustil seiner Heimat, an Reetgedeckten Hallenhäusern, an mit Ziegelsteinen und Holzfachwerk errichteten Giebelhäusern sowie an einer von Heidekraut, Wacholder und Findlingen geprägten Landschaftsgestaltung. Kleine Blumenfelder mit vereinzelten Wacholderbüschen und niedrigen Eiben, eingefasst von kniehohen Holzzäunen aus rohen Birken, Kletterrosen an mit Natursteinen gemauerten Treppenaufgängen, die zu den Holzbaracken der Kommandanturangehörigen führten, hier und da auf kleinen Feldherrnhügeln roh gezimmerte Bänke zum Verweilen und Schauen,  „verhübschten“ die Brutalität und den Terror des KZ-Alltags für die Täter. Fotos dieses ostfriesischen „KZ-Idylls“, auf das die SS enorm stolz gewesen sein muss, publizierte die an Kiosken frei verkäufliche SS-Zeitschrift „Das schwarze Korps“. Das größte und zugleich letzte Bauprojekt, das Kuiper im KZ Esterwegen verwirklichen konnte, war der Neubau eines Freibades für die Angehörigen der Kommandantur und der Wachmannschaften mit einem über zehn Meter hohem Sprungturm.

Während die SS das KZ Esterwegen noch aus- und umbauen ließ, besprachen Himmler und Hitler ihre Pläne zur Weiterentwicklung des KZ-Systems. Hatten deutschnationale Koalitionspartner der Hitler-Regierung und Teile der Nationalsozialisten darauf gehofft, dass nach der Ermordung der SA-Spitze und der damit einhergehenden Ausschaltung der „Revolutionsarmee“ der ungeregelte, willkürliche Terror sich zähmen und in das Prokrustesbett einer nach Regeln und Normen funktionierenden Diktatur einzwängen ließ, so sahen sie sich schnell getäuscht.  Hitler und Himmler verfolgten andere Pläne, nach denen das KZ-System nicht etwa abgeschafft, sondern im Gegenteil beträchtlich sowohl in seiner Größe als auch in seiner Funktion erweitert werden sollte.

Esterwegen dagegen wurde wahrscheinlich deshalb aufgegeben, weil die Wehrmacht Bedenken wegen seiner geographischen Lage dicht an der Grenze zu den Niederladen geäußert hatte. Tatsächlich lagen alle geplanten bzw. neuen Konzentrationslager an einer von Hamburg bis München liegenden Nord-Süd-Achse, die  geographisch fast mittig zwischen den Ost- und Westgrenzen des Deutschen Reiches hindurch verlief. Nur Esterwegen lag weitab von dieser Achse. Außerdem hoffte Himmler mit dem Verkauf des so „adrett“ durch Kuiper hergerichteten Lagers im Hümmling an den Reichsarbeitsdienst, das Geld für den gleichfalls von den Militärs als vordringlich angesehenen Aufbau eines großen KZ in der Nähe der „roten Reichshauptstadt“ aufbringen zu können. Demzufolge schrieb Himmler am 8. Februar 1937 an den preußischen Finanzminister folgenden Brief: „Wie der Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SS-Totenkopfverbände, SS-Gruppenführer Eicke, in meinem Auftrage bereits mündlich dort zum Vortrag gebracht hat, ist von mir in unmittelbaren Verhandlungen mit dem Reichsarbeitsführer, Staatssekretär Hierl, aus politischen Gründen die Räumung des der Geheimen Staatspolizei gehörenden, an der deutsch-holländischen Grenze innerhalb des militärischen Aufmarschgebiets gelegenen Konzentrationslagers Esterwegen und seine Überlassung an den Reichsarbeitsdienst angeordnet worden.“[2] Als Karl Otto Koch im April 1936 Hans Loritz als Kommandant des KZ Esterwegen ablöste, kam er wahrscheinlich bereits mit dem dezidierten Auftrag des KZ-Inspekteurs, die allmähliche Auflösung dieses Lagers und seinen Verkauf an den Reichsarbeitsdienst vorzubereiten. Warum der Reichsarbeitsführer Hierl dann doch den Kauf ablehnte und anstatt ihm der Reichsjustizminster Gürtner  Esterwegen übernahm, kann von mir hier aus Zeitgründen nicht mehr erläutert werden.

Die Anforderungen, die  Reichsführer SS Heinrich Himmler und KZ-Inspekteur Theodor Eicke an den nicht einmal dreißig Jahre alten SS-Untersturmführer Bernhard Kuiper stellten, waren außerordentlich anspruchsvoll. Er sollte nicht nur ein neues Lager, sondern, nur acht Kilometer von Berlin entfernt, erstmals einen ganzen KZ-Komplex erbauen, der wie eine kleine Stadt neben den Unterkünften und Bracken für die Konzentrationslager-SS sowie die Häftlinge, auch Eigenheimsiedlungen, Wirtschaftsbetriebe, Werkstätten und eine komplette Infrastruktur mit Wasserwerk, Trafohaus, Kanalisation und ausgebauten Straßen einschloss. Doch das war den Nationalsozialisten noch nicht genug. Sachsenhausen sollte darüber hinaus ein Modelllager, eine Art KZ-Zukunftsstadt, werden, nicht weniger als ein, wie Himmler formulierte, „vollkommen neues, jederzeit erweiterungsfähiges, modernes und neuzeitliches Konzentrationslager“. Im Aufbau und in der Architektur des neu gegründeten KZ bei der Reichshauptstadt sollte sich nach dem Willen der SS der, um mit dem deutschen Soziologen Max Weber zu sprechen, Idealtypus eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers spiegeln. Ob damals schon Sachsenhausen als Sitz der zentralen Verwaltung des gesamten deutschen KZ-Terrors vorgesehen war, wissen wir nicht, aber es ist sehr wahrscheinlich. Der ostfriesische Architekt sollte diese anspruchsvolle Aufgabe bewältigen und er packte sie tatsächlich mit großem Ehrgeiz und spürbarem Eifer an. Nach den Opfern, die dieses Vorhaben unter den Häftlingen forderte, die seine auf dem Papier gezeichneten Pläne realisieren mussten, fragte er dabei nicht.

Die Moorlandschaft im Hümmling und der Kiefernwald am Lehnitzsee, das waren, bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, idyllische Landschaften, zum Teil touristische Erholungsgebiete. Die deutsche Heide und der deutsche Wald, sie waren von den Schriftstellern und Künstlern der Romantik im beginnenden 19. Jahrhundert idealisiert und zu Sinnbildern deutscher Seele und deutscher Identität verklärt worden. Der, wie es heute noch heißt, „heilen Natur“ wurde die Kraft zugesprochen, die angeblich durch französische Zivilisation verdorbene, durch englische Industrialisierung zerstörte und, so formulierten es nicht nur radikale Antisemiten, durch „jüdischen Händlergeist“  vergiftete deutsche Seele wieder zu reinigen und zu sich selbst zurück zu führen.

Die Natur als reinigender Sehnsuchtsort fand spätestens Ende des 19. Jahrhunderts ihre Ergänzung in der Lagerbewegung, die der heilenden Reinheit der Natur die zu stiftende Gemeinschaft der Lagerinsassen hinzufügte. Die Jugendbewegung, die von den  so genannten „Wandervögeln“ bis hin zu den Jugendorganisationen der Sozialdemokraten und Gewerkschaften nahezu alle politischen und religiösen Gruppen umfasste, sah in den Lagern, mithilfe von Zelten oder schnell und provisorisch zusammengezimmerten Baracken in die freie Natur verpflanzt, gemeinschaftsstiftende, soziale Schichtunterschiede nivellierende Einrichtungen.  „Heile“, reinigende Natur und gemeinschaftsstiftendes Lagererlebnis verschmolzen miteinander. Gemeinschaftliche Arbeit der Lagerinsassen in freier Natur schließlich wurden allergrößte physische und psychische Erziehungseffekte zugeschrieben. Die positive Überhöhung der Lagerbewegung fand in der Weimarer Republik ihren stärksten Ausdruck in der allerorten und von fast allen politischen Richtungen unterstützten Einrichtung des Freiwilligen Arbeitsdienstes. Harte, gemeinschaftliche Arbeit , um Sümpfe trocken zu legen, Straßen zu schottern, Fahrradwege anzulegen, Seen zu entkrauten oder Kanäle zu ziehen, sollte das Millionenheer der Arbeitslosen vor sittlichem und körperlichem Verfall bewahren. Aus dem Freiwilligen Arbeitsdienst wurde schon vor 1933 die sogenannte Pflichtarbeit, der Arbeitslose sich kaum noch entziehen konnten. Auch die Pflichtarbeit war mehr als ein Beschäftigungsprogramm, auch sie verfolgte sozialhygienische Ziele. Von den Arbeitslagern der Pflichtarbeiter aber war es nur noch ein kleiner Schritt zur Verlagerung der bis dahin in leer stehenden Gefängnissen, Fabriken oder Burgen untergebrachten frühen Konzentrationslager in die weitläufigen Wälder und Moorlandschaften Deutschlands. Dort, entweder am Rande der Städte oder sogar weit weg von ihnen, verschmolzen die Ideologien von deutscher Seele in deutscher Natur, die  absurde Vorstellung von gemeinschaftsstiftenden Lagern  und der angeblichen erzieherischen Wirkung harter Arbeit mit den brutalen sozialhygienischen und eugenischen Gesellschaftsvorstellungen der Nationalsozialisten. Im Kern bestand dieses über den Kreis der Parteimitglieder weit hinausreichende, auch in wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und an Universitätslehrstühlen verbreitete Idealmodell einer neu zu schaffenden Gesellschaft in der Übertragung angeblicher Naturgesetze auf die Menschen. Die angestrebte deutsche Volks- und Leistungsgemeinschaft verglich man mit einem Garten, wo das Wachstum der nützlichen Pflanzen dadurch gefördert werde, indem man das Unkraut jätete und trennte aber die Schädlinge erbarmungslos ausrottete. Konzentrationslager waren in der Sichtweise der Nationalsozialisten solche Einrichtungen, bei denen die wenigen „Verhetzten“ und „Irregeleiteten“,  durch harte Arbeit umerzogen, die große Masse der Menschen auf Dauer isoliert und schließlich die in der Sprache des Unmenschen als Parasiten bezeichneten Häftlinge am Ende ermordet werden sollten. Das neue und „moderne“ Konzentrationslager Sachsenhausen entsprach diesen Vorstellungen der Nationalsozialisten und war auch in diesem Sinne ein Modell- und Ideallager.

Als einer der ersten SS-Führer des Konzentrationslagers Esterwegen verließ der Lagerarchitekt seinen bisherigen Arbeitsort. Bernhard Kuiper, der schon in Esterwegen mit den Entwurfsarbeiten für das neue KZ begonnen haben soll, wurde am 15. Juni 1936 in das Berliner Lager Columbia versetzt, wo er fieberhaft an den Plänen und Zeichnungen für Sachsenhausen arbeitete. Zum Dank für seinen besonderen Arbeitseinsatz beförderte ihn  Eicke zum SS-Untersturmführer. Kuipers Auftrag ging weit über seine bisherige Tätigkeit hinaus. In seinem Brief an den preußischen Finanzminister schreibt Himmler dazu: „Ich bitte, bei Prüfung meines vorstehenden Antrages auch die von allen Beteiligten in anstrengender, mühe- und aufopferungsvollster Tages- und Nachtarbeit unter besonders schwierigen Verhältnissen und Gefahrenmomenten in erstaunlich kurzer Zeit hier vollbrachte Leistung zu würdigen und darüber hinaus auch anzuerkennen, dass anstelle des s. Zt. In der ersten Revolutionszeit im Moorgebiet an der Nordwestgrenze des Reiches gebauten einfachen Lagers Esterwegen jetzt hier in der nächsten Nähe der Reichshauptstadt ein vollkommen neues, jederzeit erweiterungsfähiges, modernes und neuzeitliches Konzentrationslager mit verhältnismäßig geringen Mitteln neugeschaffen worden ist, das allen Anforderungen und Erfordernissen nach jeder Richtung hin gewachsen ist und sowohl in Friedenszeiten sowie für den Mob.-Fall die Sicherung des Reiches gegen Staatsfeinde und Staatsschädlinge in vollem Umfang jederzeit gewährleistet.“ [3]

Wir können nicht wissen, ob sich der Lagerarchitekt von Esterwegen durch diese Formulierung Himmlers, es habe sich bei dem ostfriesischen KZ um ein „einfaches Lager“ gehandelt, angesichts seiner umfangreichen Verschönerungs- und Ausbauanstrengungen düpiert fühlte. Aber auch ihm musste sehr schnell bewusst sein, dass der Bau von Sachsenhausen einen deutlichen Sprung in der Entwicklung des KZ-Systems bedeutete. Die kleine KZ-Stadt sollte bis zu 10.000 Häftlinge und 1.500 SS-Männer aufnehmen können, das Vielfache der Aufnahmekapazitäten bisheriger Konzentrationslager.

Der ostfriesische Architekt versuchte, mit vier Entwurfszeichnungen diesem Anspruch zu genügen. Alle waren auf ihre Weise darum bemüht,  dem von der SS gewünschten neuen „Idealtypus“, zu genügen. Am 5. September 1936, als nicht einmal der Kiefernwald vollständig gerodet war, der das ganze riesige Lagergelände bedeckte, wurde die, wie es offiziell hieß, „Verlegung des Konzentrationslagers Esterwegen nach Sachsenhausen bei Oranienburg bei Berlin“ abgeschlossen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt befand sich Kuiper vor Ort und übernahm als Bauleiter die Gesamtverantwortung für das auf mehr als 2 Millionen Reichsmark geschätzte, über etwa 80 Hektar Gelände verteilte, riesige Neubauprojekt. Man kann daher verstehen, dass der SS-Mann, der das eingangs erwähnte Posteingangsbuch der Abteilung I führte, keinen Anlass sah, eine neue Kladde anzulegen. Sein letzter Eintrag in Esterwegen verzeichnet am 5. Juli 1936 den Eingang eines Briefes der KZ-Inspektion mit dem bezeichnenden Inhalt „Kommandierung genehmigt“. Am 30. September, drei Monate später, beginnen die Eintragungen erneut, jetzt aus dem KZ Sachsenhausen.

KZ-Baumeister Bernhard Kuiper versuchte, diesen nationalsozialistischen Idealtypus des zugleich „modernen“ und naturnahen  Konzentrationslagers in seine architektonischen Entwürfe sowie in der Gestaltung von Räumen und Gebäuden zu realisieren. Schon in Esterwegen bildete er mithilfe von Findlingen sogenannte Feldherrenhügel aus, umgab die Baracken der Konzentrationslager-SS mit Blumenbeeten und begrenzte die mit Kies und Schotter belegten Wege durch kniehohe, aus rohen, geschwungenen Ästen gefertigte Zäune.

In dem von ihm von Anfang an geplanten und entworfenen neuen Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt konnte der ostfriesische KZ-Baumeister sein ganzes landschaftsgestalterisches und architektonisches Talent entfalten. Blumenbeete umgaben jetzt auch Häftlingsbaracken und säumten in sanft geschwungenen Wellen die immer säuberlich geharkte neutrale Zone, wo jeder Häftling, der sie absichtlich oder unabsichtlich betrat, sofort und ohne Anruf erschossen wurde. Die drei Ecktürme des Häftlingslagerdreiecks glichen mit ihren den Postenumlauf überkragenden Walmdächern eher englischen Gartenhäusern. Den Turm A schließlich, architektonisches Zentrum einer Geometrie des totalen Terrors, bildete der ostfriesische SS-Mann in einer, niedersächsischen Hallenhäusern vergleichbaren Fachwerkarchitektur aus, in die verschiedene Runenzeichen eingearbeitet waren. Im Kommandanturbereich, der dem Häftlingslager vorgelagert war, übertraf er sich dann selbst: die Baracken des Kommandanturstabes, die unter mächtigen Kiefern aufgereiht nebeneinander standen, waren umsäumt von Blumen. Geschwungene Kieswege, begrenzt von kniehohen Zäunen, leiteten die SS-Männer von einer Baracke zur anderen. Vor dem Büro des Kommandanten befand sich ein kleiner Teich mit Springbrunnen, von wo ein mit Blumenkübeln geschmücktes Holzgeländer zum Eingang führte. Unmittelbar daneben befand sich ein aus rohen Baumstämmen gezimmertes Blockhaus, das mit einem kleinen Zoo verbunden war, in dem mehrere Vögel, ein Affe und andere Tiere untergebracht waren.  In der Tat: es war ein schönes KZ, sieht man von den Häftlingen ab, die auf den Kieswegen geschlagen wurden, zwischen den Blumen verhungerten oder am Galgen neben den Blumenkübeln starben.

 

Sachsenhausen war nicht nur ein Modell- und Ideallager, sondern auch ein Vorführ- und Propagandalager. Von Beginn seiner Einrichtung an bis weit in den Krieg hinein bewunderten nicht wenige deutsche und ausländische Besucher deutsche Ordnung und Sauberkeit, die selbst im KZ zu herrschen schienen. Die Toten der Nacht, die morgens zum Appell mitgenommen werden mussten und die in der sich unendlich hinziehenden Zeit des Abzählrituals hinter den angetretenen Reihen der Häftlinge lagen, wollten die meisten Besucher nicht sehen. Natürlich ging es bei den Verschönerungsmaßnahmen Kuipers nicht nur um das Propagandabild nach Außen, sondern auch um die psychologische Wirkung auf die Männer, die täglich die Häftlinge misshandelten oder sogar ermordeten. Die spießige Kleingarten-ähnliche Idylle, die Kuiper für seine SS-Kameraden schuf, sie entsprach durchaus dem Selbstbild der Männer unter dem Totenkopf. So wie sie sich nicht selten vor ihren Baracken im Kommandanturbereich für das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt fotografieren ließen, mit glänzenden schwarzen Stiefeln, in gepflegten schwarzen Ausgehuniformen und in Herrenmenschenpose hoch aufgerichtet, ebenso brauchten sie für Ihr Selbstbild die Blümchen unter dem Galgen, um sich von den angeblichen Untermenschen, die sie täglich drangsalierten und bewachten, zu unterscheiden und abzugrenzen.

Kuiper selbst, der Sachsenhausen 1937 mit einem sehr mäßigen Zeugnis von KZ-Inspekteur Eicke verließ, kam 1939 in Dienste der SS zurück und begann erneut damit, im gesamten besetzten Europa Lager zu bauen. 1944 schließlich leitete er ein aus KZ-Häftlingen bestehendes Eisenbahnkommando, das im Januar 1945 dem KZ Sachsenhausen unterstellt wurde. Auf diese Weise kehrte der inzwischen zum SS-Obersturmführer beförderte Architekt als Leiter eines Außenkommandos  wieder in den Dienst des Kommandanten von Sachsenhausen zurück. Sieht man von seiner Internierungshaft im ehemaligen KZ Neuengamme ab, so scheint jedoch seine Funktion im System der Konzentrationslager seine weitere Karriere als freier Architekt nicht behindert zu haben.

Am Schluss meiner Begrüßungs- und Einführungsrede ist es mir wie immer eine gerne zu erfüllende Pflicht, allen denjenigen zu danken, die an der Erarbeitung unserer Sonderausstellung beteiligt waren. An erster Stelle will ich den Kurator der Ausstellung Ralph Gabriel nennen, der leider heute nicht teilnehmen kann und sich entschuldigen lässt. Die Gestaltung der Ausstellung wurde konzipiert und realisiert vom Büro Beier & Wellach Projekte, mit dem es eine Freude war, zusammenarbeiten zu dürfen. Eine große Freude war es für uns auch, mit Mitarbeitern der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, insbesondere mit Frau Dr. Kaltofen, die Ausstellung von der Idee bis zur Realisierung gemeinsam zu planen und zu realisieren. Wir danken ganz herzlich für eine wunderbare Kooperation, zu deren Gelingen wesentlich auch die finanzielle Unterstützung des Landkreises beigetragen hat. Ich freue mich, dass ich diesen Dank Ihnen persönlich, sehr geehrter Herr Landrat, übermitteln kann.

[1] Theodor Eicke vom 21. Juni 1934, abgedruckt bei: J. Tuchel, die Inspektion, S. 28f.

[2] Der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei v. 8. Februar 1937, abgedruckt in: G. Morsch, Sachsenhausen, S. 113.

[3] Ebenda, S. 119.

Sachsenhausen – ein neuer Lagertypus?

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