NS-Vergleiche in der deutschen Debatte um den Krieg in der Ukraine- Historische Hintergründe, Funktionen und Motive –

Seit einem Jahr tobt ein Krieg auf ukrainischem Territorium, der sich auch gegen die Zivilbevölkerung richtet und bislang Zehntausende Tote und Hunderttausende Verletzte zur Folge hat. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Das sind die offensichtlichsten und schrecklichsten Folgen des Krieges.

Auch geschichtspolitische Instrumentalisierungen des deutschen Faschismus und des Zweiten Weltkrieges spielen eine große Rolle und sind folgenreich für die erinnerungspolitische Landschaft Europas. Rückkehr des Imperialen, Vertrag von Rapallo, Münchner Abkommen, Hitler-Stalin-Pakt, Vernichtungskrieg, Genozid: In den Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg wurden in der medialen deutschen Debatte zahlreiche historische Vergleiche und begriffliche Analogien bemüht und Gleichsetzungen vollzogen.

Aus welchen Motivationen heraus wird verglichen? Wie ist das aus den Perspektiven der Opfer des Faschismus zu bewerten und wo liegen die Gefahren? Und welche Rolle spielen die historischen Bezugnahmen in aktuellen Debatten um Aufrüstung und die außenpolitische Ausrichtung Deutschlands?

Mit verschiedenen Gästen werden wir in unserer Online-Veranstaltung einen genaueren Blick auf die historischen Hintergründe der NS-Vergleiche und historischen Parallelisierungen werfen und über ihre Funktionen sprechen. Wie legitim ist es zu vergleichen und warum ist es problematisch von Vernichtungskrieg zu sprechen? Findet in der Ukraine tatsächlich ein Genozid statt? Und welche (Geschichts-)Politik wird in Deutschland mit historischen Analogien bis hin zur Gleichsetzung gemacht?

Wann? 27. März 2023 – 19:00 bis 21:00 Uhr

Wo? Online über Zoom à Link

Mit Impulsvorträgen von:

  • Dr. Christoph Dieckmann (Historiker)

Christoph Dieckmann beschäftigt sich als Historiker seit Jahrzehnten mit der NS-Geschichte und insbesondere der deutschen Besatzungspolitik in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs. Für seine Studie „Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941 – 1944“ wurde er mit dem Yad Vashem International Book Price for Holocaust Research ausgezeichnet.

  • Dr. Hannah Peaceman (Philosophin)

Hannah Peaceman forscht derzeit an der Universität Jena, ist Gründerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ und publiziert zu jüdischen Gegenwarten, zum Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus und zu postmigrantischen Erinnerungskulturen.

  • Charlotte Widemann (Journalistin)

Charlotte Wiedemann ist freie Auslandsreporterin und Publizistin. In ihrem zuletzt erschienen Buch „Den Schmerz der anderen begreifen – Holocaust und Weltgedächtnis“ plädiert sie für eine empathische Erinnerungskultur und reflektiert über mögliche solidarische Verknüpfungen verschiedener Perspektiven und Erfahrungen.

  • Prof. Dr. Günter Morsch (Historiker)

Günter Morsch leitete 25 Jahre lang die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen und war außerdem bis zu seinem Ruhestand 2018 Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Zeit seines Lebens beschäftigte er sich auf unterschiedlichen Ebenen intensiv mit den Themen NS-Geschichte, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.

Unter folgendem Link kann die Diskussionsveranstaltung nachträglich angesehen werden: https://www.youtube.com/@vvn-bda/videos

„Jetzt spricht der Historiker. Presseartikel von Klaus D. Grote im Oranienburger Generalanzeiger vom 11./12.2021, S. 3

ORANIENBURG Sonnabend/Sonntag, 11./12. Dezember 2021
Nach der Veröffentlichung eines
Gutachtens über Gisela Gneist reißt die Kritik
an der Benennung einer Straße nach ihr in
Oranienburg nicht ab. Jetzt äußert sich der
frühere Gedenkstättenleiter Günter Morsch.
Von Klaus D. Grote

Im Streit um die Benennung einer
Straße im Baugebiet am Aderluch
nach Gisela Gneist hat sich jetzt
der Historiker und frühere Stiftungsdirektor
Günter Morsch zu
Wort gemeldet. In einem Brief an
Bürgermeister Alexander Laesicke (parteilos)
und an die Stadtverordnetenversammlung
weist Morsch Behauptungen
der Union der Opferverbände kommunistischer
Gewaltherrschaft (UOKG) zurück.
Im Gespräch mit der Redaktion
geht Morsch zudem auf seine persönlichen
Auseinandersetzungen mit der 2007
verstorbenen Gisela Gneist ein, die Vorsitzende
der Arbeitsgemeinschaft (AG)
Lager Sachsenhausen war.
Wie berichtet, hatte die UOKG auf ein
im Auftrag der Gedenkstätte Sachsenhausen
vom Institut für Zeitgeschichte
München-Berlin erstelltes Gutachten
über Gisela Gneist reagiert. Der frühere
CDU-Landtagsabgeordnete und
UOKG-Vorsitzende Dieter Dombrowski
erkennt in dem Gutachten keine Gründe,
von der Gisela-Gneist-Straße abzurücken
und bittet Bürgermeister und
Stadtverordnete am Namen festzuhalten.
Außerdem erklärt Dombrowski, es sei
„kein Sakrileg“, sich wie Gneist kritisch
mit Günter Morsch auseinanderzusetzen.
„Herr Professor Morsch musste sich
während seiner aktiven Zeit als Leiter der
Gedenkstätte Sachsenhausen auch im
Kulturausschuss des Landtages kritischen
Fragen stellen, weil er die Opfer
des sowjetischen Speziallagers von 1945-
1950 nicht ausreichend in Gedenken und
Aufarbeitung miteinbezogen hatte“,
schrieb Dombrowski.
Morsch weist dies entschieden zurück
und verweist auf einen Konsens, den er
mit der damaligen CDU-Vorsitzenden
und Kulturministerin Johanna Wanka, die
auch Vorsitzende des Stiftungsrates der
Gedenkstättenstiftung war, in Bezug auf
die Gedenkstättenarbeit gehabt habe.
Auch bei zahlreichen Besuchen von
CDU-Abgeordneten in der Gedenkstätte
habe es selten kritische Nachfragen
gegeben. „Ganz überwiegend drückten
sie dabei ihr Lob und ihre Anerkennung
für die Arbeit der Gedenkstätte gerade
auch im Umgang der Stiftung mit der
zweifachen Vergangenheit Sachsenhausens
aus“, schreibt Morsch.
Der Historiker verweist zudem auf einen
von ihm und Ines Reich 2005 veröffentlichten
Text, der auch im Museum über
die Speziallager zu lesen ist. Darin heißt
es: „Mindestens 12.000 Menschen starben
zwischen 1945 und 1950 an Hunger,
Krankheiten und Seuchen in diesem Lager,
in dem neues Leid und Unrecht geschah,
das selbst vor dem Hintergrund
der Völker- und Kriegsverbrechen des
Nationalsozialismus nicht zu rechtfertigen
ist. In Sachsenhausen, wo auf das Nationalsozialistische
Konzentrationslager
das sowjetische Speziallager folgte, darf
das eine durch das andere weder relativiert
noch bagatellisiert werden.“ Gisela
Gneist habe bei der Eröffnung des Museums
für die Speziallager gegen die Ausstellung
demonstriert, so Morsch.
Wichtig sind diese Erklärungen auch
deshalb, weil Gisela Gneist Morsch wiederholt
vorgeworfen hatte, die Opfer des
Speziallagers nicht ausreichend zu würdigen.
Sie unterstellte ihm auch, diese als
„Opfer zweiter und dritter Klasse“ bezeichnet
zu haben. Weil Gneist trotz der
Aufforderung von Morsch zur Unterlassung
diese Behauptung wiederholte, verklagte
er die AG auf Unterlassung. Das
Gericht habe ihm damals Recht gegeben,
so Morsch. Die AG hätte bei Wiederholung
eine hohe sechsstellige Strafe zahlen
müssen. Die damalige Ministerin
Johanna Wanka habe ihn danach darum
gebeten, von weiteren Klagen gegen unwahre
Aussagen und Verleumdungen
der AG abzusehen, berichtet Morsch.
Es sei dann zu einem Gespräch zwischen
ihm und der AG gekommen, bei
dem der frühere Thüringer Ministerpräsident
Bernhard Vogel als Vermittler
auftrat.
Anders als unter ihren beiden
Vorgängern sei unter dem Vorsitz
von Gisela Gneist ein konstruktiver
Dialog mit der Lagergemeinschaft
nur schwer möglich gewesen, sagt
Morsch. Das habe sich mit der
Wahl des heutigen Vorsitzenden
wieder normalisiert. Die AG
habe das Leid der KZ-Häftlinge
relativiert sowie die Existenz
der Gaskammer in Sachsenhausen
bestritten und sich dabei
auf Aussagen eines ehemaligen
SS-Offiziers berufen, der auch
die Ermordung von mehr als
10.000 sowjetischen Häftlingen
geleugnet habe, so Morsch.
Selbst eine Schilderung, wonach
während des Todesmarsches viele
KZ-Häftlinge unter Kälte und Regen litten,
habe Gneist abgestritten. Es sei damals
sonnig und warm gewesen, habe sie
behauptet. Mit dem archivierten Wetterbericht
der Roten Armee habe er die Darstellung
der Gedenkstätte belegen
können.
„Die AG hat immer wieder versucht,
die Verbrechen der Nationalsozialisten
in Sachsenhausen zu relativieren“,
sagt der frühere Stiftungsdirektor
und Gedenkstättenleiter.
„Gleichzeitig unterstellte sie, die Gedenkstätte
verschweige die Existenz
von Massengräbern der Speziallager,
da sie entgegen wissenschaftlicher
Forschungen an völlig überhöhten
Totenzahlen festhielt“, so Morsch.
„Selbst die großflächigen Grabungen
und Bodenuntersuchungen von Archäologen
konnten die AG nicht
überzeugen.“ Quasi im Gegenzug, so
Morsch, bezeichnete die AG die von
der Gedenkstätte vorgelegten Schätzungen
über die Anzahl der Ermordeten
und Verstorbenen im Konzentrationslager
Sachsenhausen als grobe
Übertreibungen.
Schließlich wollte die Lagergemeinschaft
1996 ihren „Lagerkameraden“,
den Euthanasiearzt Hans Heinze,
anlässlich dessen 101. Geburtstages
ehren. Heinze war in der NS-Zeit
in der Landesheilanstalt Brandenburg-
Görden mitverantwortlich für
die Ermordung von kranken und behinderten
Menschen. Dort wurden
unter Heinze allein mehr als 100 Kinder
durch Giftgas erstickt und ihre
Gehirne an ein Forschungsinstitut in
Berlin versendet. Gisela Gneist habe sich
von der geplanten Ehrung für Heinze
trotz seiner Bitten nie öffentlich distanziert,
sagt Günter Morsch.
Die frühere Vorsitzende der Lagergemeinschaft
habe die deutsche Gedenkkultur
und ihn persönlich immer wieder
angegriffen. Dies habe mit dazu beigetragen,
dass er zur Zielscheibe von
Rechtsextremisten wurde, erklärt
Morsch. Es habe Mordaufrufe in sozialen
Medien gegeben. „Die AG sah aber
keinen Grund, sich davon öffentlich zu
distanzieren“, so Morsch. Er habe
schließlich sogar auf der Todesliste der
NSU-Terroristen gestanden. „Uwe Bönhardt
hat mich handschriftlich dort eingetragen.“
Auf die Frage, ob er Gisela Gneist für
geeignet als Namensgeberin einer Straße
halte, antwortet Morsch: „Nein, natürlich
nicht.“ Unabhängig von dem
schweren Leid und Unrecht, das Gisela
Gneist in ihrer Lagerhaft von
1945 bis 1950 zweifelsfrei erfahren
und an dem sie wohl bis an ihr
Lebensende sehr gelitten habe,
habe sie die Erinnerungspolitik
der Bundesrepublik und des Landes
Brandenburg „auf hochproblematische
Weise bekämpft“.
Sollte die Stadt an der Gisela-
Gneist-Straße festhalten und
die Rolle der Namensgeberin
ignorieren, „dann droht Oranienburg
in den Augen einer kritischen
Öffentlichkeit im In- und
Ausland das Dachau der
60er-Jahre zu werden“, warnt
Morsch. In Dachau bei München
wurde die KZ-Gedenkstätte
erst 1965 eröffnet.
Davor gab es Bestrebungen,
Spuren des Lagers
zu tilgen und das ehemalige
Krematorium
abzureißen.
Die Kritik an der
Straßenbenennung für
das Neubaugebiet auf
dem Gelände des ehemaligen
KZ-Außenlagers
„Zeppelin“ begann
mit dem Beschluss
im vergangenen
Jahr. Sie setzt sich
nun fort. Die norwegische
Online-Zeitung
Nettavisen titelte nun:
„Nazistraße durch
ehemaliges Konzentrationslager.“

Stellungnahme zum offenen Brief des Vorstandsvorsitzenden der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) Dieter Dombrowski vom 2. Dezember 2021 betr. Straßenbenennung auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenkommandos „Zeppelin“ nach Gisela Gneist

Betr.: Stellungnahme des vormaligen Direktors der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (1997-6/2018) zum  Brief des Vorstandsvorsitzenden der UOKG vom 2.12.2021 betr. Straßenbenennung Gisela Gneist

                                                                                         Oranienburg, den 4. Dezember 2021

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Stadtverordnete,

im Internet wird oben genannter offener Brief des Vorsitzenden der UOKG verbreitet, in dem auch meine Person namentlich in einem, wie ich meine, nicht richtigen Zusammenhang kritisiert wird. Dazu sende ich Ihnen folgende Stellungnahme mit der Bitte zu, diese auch allen Stadtverordneten zukommen zu lassen. Sollten sich daraus Fragen an mich ergeben, so würde ich mich freuen, diese auf die eine oder andere Weise beantworten zu dürfen:                                        

Es ist zweifellos richtig, dass, wie in dem oben genannten Brief angeführt wird,  es“ kein Sakrileg“ war und ist, sich kritisch mit der u. a. vom Stiftungsdirektor verantworteten Erinnerungspolitik  auseinanderzusetzen – und dies gilt nicht nur hinsichtlich der Bewertung der Geschichte der sowjetischen Speziallager. Dabei verschweigt der Vorstand der UOKG bedauerlicherweise aber, dass diese nicht allein vom Stiftungsvorstand, sondern vor allem auch von den Beratungs- und Beschlussgremien der Stiftung konsensual erarbeitet und getragen wurde. Lange Jahre, während derer u. a. das neu errichtete Museum sowjetisches Speziallager eröffnet wurde, stand an der Spitze des von Bund und Land sowie von den Repräsentanten der Opferverbände getragenen Stiftungsrates Kulturministerin Prof. Dr. Johanna Wanka, Mitglied und zeitweise sogar Vorsitzende der brandenburgischen CDU. Der Vorsitzende der UOKG Dieter Dombrowski gehörte seinerzeit  auch zur CDU-Fraktion des Brandenburgischen Landtages. Die Abgeordneten haben über viele Jahre regelmäßig, mindestens einmal jährlich, den Bericht des Stiftungsvorstandes zur Kenntnis genommen. Kritische Nachfragen von Abgeordneten daran hat es dabei höchstens vereinzelt gegeben. Hingegen kamen Abgeordnete, insbesondere  des Kulturausschusses, nicht selten zur Ortsbesichtigung in die Gedenkstätte Sachsenhausen. Ganz überwiegend drückten sie dabei ihr Lob und ihre Anerkennung für die Arbeit der Gedenkstätte gerade auch im Hinblick auf den Umgang der Stiftung mit der zweifachen Vergangenheit Sachsenhausens aus. Der Stiftungsdirektor hatte dazu eine neun Punkte umfassende Erklärung der Leitlinien zum Gedenken an Orten zweifacher Vergangenheit schriftlich vorgelegt, die nicht nur von den beiden Arbeitsgruppen des internationalen Beirats, sondern dezidiert auch vom damaligen Innenminister und CDU-Vorsitzenden Jörg Schönbohm (CDU) gebilligt wurden.

 Leider verschweigt das Anschreiben der UOKG auch , dass sich die „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945-1950“ (AG)  in ihren Kampagnen gegen die die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten im Allgemeinen und den Stiftungsdirektor im Besonderen – im Sprachgebrauch der AG wurde er als „ultralinker Alt-68-iger“ denunziert –   jedoch auch Methoden der Verleumdung bediente, die von einem ordentlichen Gericht als Lügen enttarnt und im Falle der Wiederholung mit einer hohen, sechsstelligen Geldstrafe sanktioniert wurden. Trotzdem hat sich die AG dieser formellen Rechtsprechung nicht gebeugt, sondern selbst bei offiziellen Anlässen ihre nachweislich falschen Behauptungen wiederholt, weshalb sie teilweise sogar in Publikationen Eingang fanden. Auch hat sich die AG zur Amtszeit von Gisela Gneist trotz vielfacher Bitten des Stiftungsdirektors nicht öffentlich von rechtsextremistischen Aktivitäten im Umfeld der Gedenkstätte Sachsenhausen distanziert, sondern in dieser Zeit eher Kontakte in dieses Milieu gesucht. So hat sich die AG auch nicht gegen Mordaufrufe in den einschlägigen sozialen Medien der Neonazis gewandt, die sich mit Verweis auf Kritik der AG an der Erinnerungspolitik der Stiftung gegen den damaligen Stiftungsdirektor persönlich richteten. Dies gilt nicht weniger für die Gedenkveranstaltung für den Massenmörder und maßgeblichen Gutachter der sogenannten Kindereuthanasie Prof. Heinze. Vielmehr hat die Vorsitzende der AG  in einer öffentlichen Veranstaltung, an der sie gemeinsam mit dem Stiftungsdirektor auf dem Podium teilnahm,  das Gedenken an den Massenmörder Heinze noch nachträglich mit dem Verweis auf seine Rehabilitation durch die russische Staatsanwaltschaft gerechtfertigt. Weitere Beispiel ließen sich leicht ergänzen. Einige wenige davon sind , wie die antisemitischen Ausfälle von Frau Gneist gegenüber dem Stiftungsdirektor, im Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte erwähnt.

Der im letzten Absatz des Briefes formulierte Grundsatz „Auch wenn das NS-Unrecht…als Begründung herangezogen werden.“ – war eine in der Stiftung  sowohl von den Stiftungsgremien als auch von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stets getragene Leitlinie ihrer historischen Bewertung des sowjetischen Speziallagers. Nachzulesen ist eine solche Passage etwa in dem von Günter Morsch und Ines Reich herausgegebenen Band „Sowjetisches Speziallager Nr. 7/Nr. 1 in Sachsenhausen (1945-1950)“, Berlin 2005, S. 49, wo es heißt: „Mindestens 12.000 Menschen starben zwischen 1945 und 1950 an Hunger, Krankheiten und Seuchen in diesem Lager, in dem neues Leid und Unrecht geschah, das selbst vor dem Hintergrund der Völker- und Kriegsverbrechen des Nationalsozialismus nicht zu rechtfertigen ist. In Sachsenhausen, wo auf das Nationalsozialistische Konzentrationslager das sowjetische Speziallager folgte, darf das eine durch das andere weder relativiert noch bagatellisiert werden.“ Dieser Satz ist Teil des einleitenden Museumstextes. Nicht nur in der nach wie vor existierenden Dauerausstellung des Museums, die von Wissenschaft und Öffentlichkeit ganz überwiegend als beispielhaft gelobt wurde, sondern auch in den zahlreichen Reden des damaligen Stiftungsdirektors  finden sich ähnliche Formulierungen. Sie spiegeln den Forschungsstand, wie er in zwei  von der Wissenschaft allgemein als Standartwerke bezeichneten und u. a. auch von Günter Morsch herausgegebenen, dickleibigen Publikationen zur Geschichte der sowjetischen Speziallager veröffentlicht wurde. Auch andere in der Amtszeit von Günter Morsch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte Sachsenhausen publizierte Schriften zur Geschichte der sowjetischen Speziallager in Brandenburg, werden nach wie vor als Grundlagenwerke verlegt.

Spätestens mit der Wahl von Dieter Dombrowski  2015 zum Vorstandsvorsitzenden der UOKG und  eines neuen Vorsitzenden der AG begann nach schwierigen Jahren der Zusammenarbeit in der Amtszeit von Frau Gneist eine erneute Phase des Dialogs mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Konstruktive Lösungen wurden gemeinsam gesucht und erreicht;  polemische und verleumderische Angriffe auf Wissenschaftler und Gedenkstättenmitarbeiter seitens einzelner Verbände  der UOKG , wie die von einem Gericht verurteilten tätlichen Angriffe eines Repräsentanten der UOKG auf die Leiterin der Gedenkstätte  Potsdam-Leistikowstraße, gehören zunehmend der Vergangenheit an. Dieser erfolgversprechende und kooperative Weg sollte weiter verfolgt werden. Dazu gehört aber auch, dass sich die Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft von revisionistischen, rechtsradikalen, antisemitischen  und verleumderischen Angriffen und Tendenzen der Vergangenheit endlich öffentlich und ehrlich distanzieren.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Günter Morsch

„G. Morsch/H. Seferens (Hrsg.), Gestaltete Erinnerung. 25 Jahre Bauen in der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 1993-2018“. Rezension von Matthias Richter, in: Märkische Allgemeine Zeitung, 21. Januar 2021, S. 10

„Jeder Stein vermittelt eine Geschichte“

30 Jahre Brandenburg. Jeder Stein vermittelt eine Geschichte. Mit Historiker Günter Morsch in der Gedenkstätte Sachsenhausen.

Claudia Duda, in Märkische Oderzeitung/Oranienburger Generalanzeiger, 29. August 2020

Vergegenständlichte Erinnerung. Die deutsche Einheit und die Folgen für die Erinnerungskultur – eine persönliche Bilanz nach 25 Jahren

Eine Videoaufzeichnung des Vortrages im Rahmen der „Lüdenscheider Gespräche“ im Mai 2019. Moderation Prof. Dr. Wolfgang Kruse

https://www.fernuni-hagen.de/videostreaming/archiv/ksw/luedenscheider_gespraeche.shtml

Interview im Mai 2018 mit der „Tageszeitung“ (TAZ)

Günter Morsch leitet seit 1993 die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen, seit 1997 ist er Direktor der Stiftung Brandenburger Gedenkstätten. Wenn er Ende Mai in den Ruhestand geht, hat er dort viel erreicht – allerdings auch einiges im Zustand der Gedenkstätten zu beklagen. Vor allem wundert ihn, dass Sachsenhausen, das ehemalige „KZ bei der Reichshauptstadt“ bisher im Bewusstsein vieler Berliner nicht zu einer Berliner Gedenkstätte und nicht zu einem Bestandteil Berliner Geschichte geworden ist

 

taz: Wie haben sich Sachsenhausen und die Brandenburgischen Gedenkstätten seit den 1990er entwickelt?

 

Günter Morsch: Es gab damals so gut wie keine wissenschaftliche Forschung, der Bauzustand der historischen Relikte und der DDR-Denkmäler war ein Desaster, die Ausstellungen waren dringend überarbeitungsbedürftig. Wir haben die Gedenkstätten zu modernen zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben weiterentwickelt, was dann zu einer gewissen Vorbildfunktion für andere wurde. Vor allem ging es darum, die Geschichte von Sachsenhausen insgesamt zu erzählen: die des NS-Konzentrationslagers, die Phase des sowjetischen Speziallagers, die in der DDR völlig tabuisiert war, und schließlich, wie die Gedenkstätte in der DDR-Zeit entstanden ist.

 

Sachsenhausen ist 1936 gegründet worden als „Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt“. Wie war die Verbindung zwischen Berlin und Sachsenhausen?

 

Schon ab 1933 kam die politische, künstlerische und intellektuelle Elite Berlins zu einem großen Teil in das KZ Oranienburg. Und 1936, während Millionen Menschen auch aus dem Ausland Berlin besuchten und über die Olympiade jubelten, wurde Sachsenhausen als völlig neues, Himmler sagte, „modernes Konzentrationslager“, aufgebaut. Man wollte die kleinen Lager, etwa Papestraße oder Columbiadamm, aus der Stadt herausschaffen, so, wie man zur Olympiade auch alle Sinti und Roma nach Marzahn verschleppte, die später auch zu einem großen Teil nach Sachsenhausen kamen. Das Konzentrationslager wird mit Absicht bei der Reichshauptstadt gegründet.

 

Warum wollte man ein Konzentrationslager bei Berlin aufbauen?

 

Das hat etwas mit der Ansicht aller traditionellen Führungseliten zu tun, dass Berlin als rote Hauptstadt eine Gefahr für den von Anfang an geplanten neuen Krieg sei. Das Militär, weniger die NSDAP, wollte dicht bei Berlin ein großes Lager für dieses aufständische, querulatorische Volk. Nach der so genannten Reichskristallnacht kam der überwiegende Teil der über 6000 Juden, die nach Sachsenhausen verschleppt wurden, aus Berlin. 1939 wurden die so genannten polnischen und staatenlosen Juden aus dem „Scheunenviertel“  unter pogromartigen Begleitumständen über die Bahnhöfe Berlins nach Sachsenhausen transportiert. Umgekehrt entstanden ab 1942 mitten in Berlin insgesamt ca. 30 Außenlager.

 

Wo sind heute noch Spuren dieser Außenlager in Berlin zu sehen?

 

Häufig hat man die Spuren beseitigt. Beim Außenlager Lichterfelde engagiert sich eine Bürgerinitiative, dort gibt es regelmäßige Gedenkveranstaltungen, in Spandau gibt es eine Geschichtswerkstatt. Aber ein großer Teil der Außenlager ist bis heute nicht markiert.

 

Woran liegt das?

 

Diese Orte liegen meistens in Industriegebieten, weniger in Wohnvierteln, und  sie sind nur noch schwer auffindbar. Umso wichtiger ist es, dass Berlin sie systematisch kennzeichnet. Es gibt auch kaum einen Friedhof in Berlin, auf dem nicht Häftlinge von Sachsenhausen liegen, weil Sachsenhausen erst ab 1940 ein eigenes Krematorium hatte. Diese Friedhöfe haben wir umfangreich dokumentiert, auch da würde ich mir wünschen, dass es endlich gemeinsam mit Berlin eine Kennzeichnung dieser Gräber und eine entsprechende  Broschüre gibt. Aber leider sind wir immer wieder daran gescheitert, dass die Bezirke für die Friedhöfe zuständig sind, und wir können nicht mit allen Bezirken einzeln reden. Oder nehmen Sie den Ort, an dem wir das Interview führen, das T-Gebäude. Es war ab 1938 Sitz der Inspektion der Konzentrationslager. Es ist der wichtigste noch vollständig original erhaltene Ort der Schreibtischtäter. Das ist in Berlin weitgehend unbekannt. Sachsenhausen hat nach wie vor in Berlin nicht den Stellenwert, wie das für Dachau in München  inzwischen selbstverständlich ist.

 

Sachsenhausen ist bisher also nicht zu einer „Berliner Gedenkstätte“ geworden. Warum nicht?

 

Da scheint nicht selten  immer noch die Mauer im Kopf  wirksam zu sein. Wir stellen leider nach wie vor die Vorherrschaft einer Geschichtsinterpretation fest, die sehr stark aus der Sicht Westdeutschlands und West-Berlins bestimmt wird. Vor allem die“ Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ hat systematisch versucht, die Geschichte des Konzentrationslagers in Vergessenheit zu bringen und stattdessen das so genannte „Rote Konzentrationslager“  zwischen 1945 und 1950 in den Vordergrund gestellt. Diese Sicht auf die Geschichte war im kalten Krieg dominierend und hat sogar jemanden wie Willy Brandt ergriffen.

 

Inwiefern?

 

Die SPD im Vorfeld der Gründung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte 1961 in Bad Godesberg eine Art  Gegenkongress abgehalten, und in der Rede des Regierenden Bürgermeisters kommt mit keinem Wort das Konzentrationslager vor, obwohl Menschen wie Julius Leber, den er selbst als Lehrer immer verehrt hat und viele andere Sozialdemokraten, nicht zuletzt aus Berlin,  in Sachsenhausen waren. Stattdessen behauptete er,  dass die Mehrheit aller Häftlinge des ehemaligen „roten Konzentrationslagers“ Sozialdemokraten gewesen wären. Unsere Forschungen zeigen heute ein ganz anderes Bild. Unter 60.000 Häftlingen im sowjetischen Speziallager konnten wir nur wenig mehr als 100 Sozialdemokraten identifizieren. Das sind die Mythen, die teilweise weiterleben und das setzte sich auch nach der deutschen Einheit fort.

 

Kommen mehr Schulen aus Ostdeutschland nach Sachsenhausen?

 

Die Anzahl der  Brandenburger Schulgruppen steigen nach wie vor an, der Zuspruch der Schulen aus Berlin ist dagegen insgesamt seit 2006 stark gesunken. Das geht allerdings nicht nur Sachsenhausen so, auch an Orten wie dem Haus der Wannseekonferenz bleiben Schulgruppen aus Berlin vermehrt weg.

 

Wie erklären Sie sich das?

 

Die Bedingungen für Gedenkstättenbesuche haben sich deutlich verschlechtert und es ist schwierig, mit den dezentralen, bezirklichen Schulverwaltungen zu kommunizieren. Gut, dass mit dem Vorstoß von Sawsan Chebli wieder über die Beziehung zwischen Schulen und Gedenkstättenpädagogen diskutiert wird, man muss aber keine Pflichtbesuche einführen, man sollte die Bedingungen verbessern.

 

Wie sollte das Erinnern und Gedenken heute aussehen?

 

Im vergangenen Jahrzehnt haben sich die Lernformen verändert und wir müssen unsere Fragestellungen anpassen, stärker von den Opfern auf die Täter fokussieren, denn in ihren Strukturen, in ihren Mentalitäten liegen die Ursachen für den Terror. Aber die Gedenkstätten sind im Vergleich zu großen Museen finanziell und personell immer noch unterprivilegiert. Wir haben zwar viele Honorarkräfte, die wir für Führungen einsetzen, aber wir können die vielen, interessierten Menschen aus aller Welt gar nicht so betreuen, wie wir das wollen. Ein oder zwei Tage, idealerweise eine ganze Wochen an diesem Ort zu lernen, ist viel nachhaltiger, als in zwei Stunden einmal über das Gelände geführt  zu werden. Letzteres  ist eine wenig diskursive, lebendige und dialogische Pädagogik, wie wir sie uns wünschen.

 

Wie würden Sie die Vermittlung angehen?

 

Wir setzen auf selbstständiges Lernen, gehen auf Interessen und unterschiedliche Bewusstseinslagen ein. Wir haben ja mit Absicht keine große, mehrere tausend Quadratmeter umfassende zentrale Ausstellung, sondern spezifische, kleine Museen in den authentischen Gebäuden, zum Beispiel zu der Frage, die sich noch immer aus der Bewältigung der eigenen Familienerzählungen ergibt: was wusste eigentlich die Umgebung? Oder was zeichnet die Täter in ihren Biographien aus? Was uns vielfach fehlt, sind Zeit und Personal, um dies intensiv mit vielen Gruppen über einen längeren Zeitraum zu bearbeiten.

 

Sie entwickeln auch eine Handy-App, wie wichtig sind solche Medien, um junge Menschen zu erreichen?

 

Natürlich müssen auch moderne Gedenkstätten in ihren Präsentationsformen mit der technischen Entwicklung Schritt halten Viele Besucherinnen und Besucher, gerade junge Menschen,  beurteilen Museen nach dem Internetauftritt. Allerdings interessieren sich  auch die Jugendlichen hauptsächlich  für die dinglichen Artefakte in unseren Museen und weniger für die Medien, als man gemeinhin annimmt. Mit der App, mit der man die Außenlager in Berlin erkunden kann, wollen wir diejenigen stärker interessieren, die sich fragen, was vor ihrer Haustür, in Wilmersdorf oder in Lichterfelde, geschah.

 

Jenseits von der Forderung nach Pflichtbesuchen bleiben Gedenkstättenbesuche also wichtig.

 

Gedenkstätten sind wichtige Mosaiksteine der historisch-politischen Bildung. Aber  wir dürfen uns angesichts des vielfachen Lobs nicht zurücklehnen, sondern unsere pädagogischen Angebote immer überprüfen, ob sie noch die aktuellen Fragen von jungen Menschen aufgreifen. Leider ist das Koalitionsabkommen der neuen Regierung  für uns eher enttäuschend. . Gegenüber anderen Museen, die von Fläche und Besucherzahl vergleichbar sind, sollen die NS-Gedenkstätten offenbar nach wie vor deutlich unterprivilegiert bleiben.

 

Wie würden Sie Sachsenhausen stärker im Berliner Bewusstsein verankern?

 

Im so genannten Humboldt-Forum soll eine stadtgeschichtliche Ausstellung entstehen, die wohl vor allem Berlins Rolle in der Welt thematisiert. Ich würde mir wünschen, dass Sachsenhausen daran einen relevanten Anteil hat. In Sachsenhausen waren Häftlinge aus 40 Nationen und aus zahlreichen Gruppen, hier waren die späteren Repräsentanten  ganzer Nachkriegsregierungen inhaftiert: in Norwegen z. B. kamen bis in die 70er Jahre vom Ministerpräsident bis zum Sozialminister alle aus Sachsenhausen. Wenn man die Beziehungen von Berlin zu europäischen Ländern verstehen will, muss man begreifen, welche Rolle Sachsenhausen dabei spielt .