Rede zur Verabschiedung von Stiftungsdirektor Prof. Dr. Detlef Garbe in den Ruhestand, Hamburg, den 30. Juni 2022

Prof. Dr. Günter Morsch

HAMBURG, DEN 30. JUNI 2022

Prof. Dr. Günter Morsch

Vorsitzender der Fachkommission der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung  an die Opfer der NS-Verbrechen

Sehr geehrte Frau Präsidentin

Sehr geehrter Herr Senator, lieber Herr Brosda

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Lieber Detlef,

Die Erinnerungskultur in Deutschland hat in den vergangenen vierzig Jahren einen starken und grundlegenden Wandel erlebt. Von der Leugnung, Verharmlosung, Verdrängung und Relativierung der NS-Verbrechen, die noch in den späten siebziger Jahre in der Bundesrepublik die Regel waren bis hin zu der sowohl in der Breite als auch in der Tiefe eindrucksvoll entwickelten Gedenkstättenlandschaft unserer Tage. Wie immer in der Geschichte gibt es auch in der Entwicklung der Erinnerungskultur Phasen, Brüche und Wendepunkte. Schauen wir uns dabei die verschiedenen Veränderungen, Wandlungen, Übergänge und Neugestaltungen näher an und fragen danach, wie sie zustande kamen, dann können wir nach meiner festen Überzeugung  konstatieren, dass Detlef Garbe dabei häufig eine wichtige Rolle als Initiator, Akteur, Gestalter, Historiker und Gedenkstättenvertreter spielte. Dass er dies natürlich nicht allein tat, sondern im Verbund mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern versteht sich nicht nur von selbst, sondern charakterisiert eine seiner wichtigsten Handlungsmaximen, die für den Erfolg verantwortlich waren und sind.

Mit einer etwa zehnjährigen Verspätung gegenüber den historischen Museen begannen sich verschiedene Initiativen Anfang der achtziger Jahre in der Bundesrepublik mit den „vergessenen KZ’s“ zu beschäftigen. Der damals 25 Jahre alte Student der Geschichte und Theologie gehörte einem Kreis von Initiatoren um die 1981 eröffnete und von Ludwig Eiber geleitete Dokumentationsstätte Neuengamme an, damals eine Untergliederung des Museums für Hamburgische Geschichte. Als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen kannte er die wesentlich weiter entwickelten KZ-Gedenkstätten in Polen. Sie verfügten ebenso wie die großen Mahn- und Gedenkstätten in der DDR über beachtliche Sammlungen, Archive, pädagogische Abteilungen sowie große Dauerausstellungen. Von Umfang und vom Selbstverständnis solcher großer Gedenkstätten waren auch die wenigen kleinen und häufig ehrenamtlich betriebenen Einrichtungen in der BRD noch meilenweit entfernt. Es konnte auf dem Boden einer durch den Zeitgeist der späten sechziger und siebziger Jahre sowie durch die weite Verbreitung des amerikanischen Fernsehfilm „Holocaust“ bewirkte allmähliche Zerbröckeln der Mauer aus Verdrängen und Verschweigen  zunächst nur darum gehen, die verschiedenen von den Verbänden der Überlebenden mitgetragenen Initiativen zusammenzubringen. Ein solches erstes Treffen, aus dem schließlich die bis heute regelmäßig stattfindenden Gedenkstättenseminare hervorgingen, fand in Hamburg statt. Der aus den verschiedenen Tagungsbeiträgen entstandene Sammelband wurde 1983 von Detlef Garbe unter dem Titel „Die vergessenen KZ’s“ herausgegeben. Die darin von Herausgeber im Vorwort gezogene Bilanz der deutschen Erinnerungskultur, von ihm als „organisierte Vergesslichkeit“ bezeichnet, war für die Bundesrepublik peinlich und beschämend.

Parallel zu den Bemühungen der grassroot-Bewegung, Gedenkstätten an den historischen Orten des Terrors zu gründen und zu etablieren, begann die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verfolgung der bisher vergessenen, verdrängten und häufig nach wie vor diskriminierten Opfergruppen, wie der Homosexuellen, der Sinti und Roma, der sowjetischen Kriegsgefangenen, der Wehrdienstverweigerer oder der sogenannten Bibelforscher. Die Anfänge seiner Beschäftigung mit dem Schicksal der Zeugen Jehovas setzte Garbe im Laufe der achtziger Jahre im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen fort.  Er widmete seine Dissertation der systematischen Verfolgung und dem erstaunlichen Widerstand dieser religiösen Sekte. Seine 1993 publizierte Studie gilt nach wie vor als ein Standartwerk, das viele weitere Forschungen zur Geschichte der Zeugen Jehovas initiiert hat. Sie hat seitdem vier Auflagen erlebt. 2008 erschien in Kooperation mit dem US-Holocaust-Museum auch eine englische Übersetzung.

Blick man auf diese erste Phase zurück und betrachtet die Rolle von Detlef Garbe in dieser Zeit, so kann man ihn wohl als ein Urgestein der von unten entstandenen und erkämpften bundesdeutschen Gedenkstättenbewegung bezeichnen. Er war als Teil seiner Generation über die Erinnerungsverweigerung der Eltern und Großeltern tief erschrocken. Für sie war die von zahlreichen Skandalen geprägte Nachgeschichte des NS-Terrors Teil der eigenen Lebenserfahrung. Sie waren im wörtlichen Sinn davon betroffen, wurden häufig als „Nestbeschmutzer“ beschimpft und nicht selten mit Ausrufen wie „Euch hat man vergessen zu vergasen!“ verbal und physisch bedroht. Umso unverständlicher und absurder ist es für mich, wenn gelegentlich denjenigen, die sich vor dem Hintergrund der nachwirkenden Diskriminierung mit den Verfolgten solidarisierten,  unterstellt wird, sie hätten durch Identifikation mit den Opfern der Beschäftigung mit den Tätern ausweichen wollen.

Die deutsche Einheit führte zu einem weiteren in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden grundsätzlichen Wandel in der deutschen Erinnerungskultur. Er kann als ein wirklicher Paradigmenwechsel bezeichnet werden. Denn die maßgeblichen Politiker fragten nun nicht mehr, was sie tun könnten, um den Forderungen der Gedenkstättenbewegung entgegenzukommen, sondern sie betrachteten umgekehrt die Fortentwicklung der deutschen Erinnerungskultur als eine conditio sine qua non, um die außenpolitische Akzeptanz des vereinten Deutschland vor allem in seinen Nachbarstaaten zu erreichen. Es war wohl eher ein glücklicher Zufall, dass zum gleichen Zeitpunkt Detlef Garbe die Leitung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme übertragen wurde. Zwei Jahre später legte eine Expertenkommission ein umfassendes Konzept zur Neugestaltung vor. Darin wurden nicht nur die Ausdehnung der Gedenkstätte auf das ehemalige, von der Justizvollzugsanstalt genutzte Häftlingslager, sondern auch wichtige Fortschritte hin zu einem modernen Ausstellungs- und Lernort vorgeschlagen. Die Umsetzung dieser weitreichenden Pläne konnte zwar erst rund zehn Jahre später nach dem durch die neue Regierungskoalition aus CDU, Schill-Partei und FdP verursachten national und international Aufsehen erregenden Skandal seit Frühjahr 2002 realisiert werden. Trotzdem trieb die neue Gedenkstättenleitung die Modernisierung, Professionalisierung und Neugestaltung in vielen Bereichen schon in den neunziger Jahren energisch voran.

Als ein Beispiel dafür will ich die von der Gedenkstätte Neuengamme und ihrem Leiter herausgegebene wissenschaftliche Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ nennen. Sie brachte es zwischen 1994 und 2020 auf insgesamt 19 Hefte.  Zwar stehen regional- und lokalgeschichtliche Perspektiven darin im Vordergrund, doch thematisieren die zahlreichen Aufsätze häufig grundsätzliche historische Forschungsfragen, teilweise sogar zum ersten Mal. Das Kaleidoskop der Beiträge reicht von Aspekten der Täterforschung über die Geschichte der verschiedenen Lager und den Umgang der Nachkriegsjustiz mit den NS-Verbrechen bis hin zu Fragen der musealen Präsentation. Auch die vergessenen und verdrängten Opfergruppen, wie die sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, werden behandelt. Um den Wert der Hefte zu verdeutlichen, muss man wissen, dass es bis zur Mitte der neunziger Jahre so gut wie keine wissenschaftliche Forschung über die Geschichte der Konzentrationslager gab.

Mir als ehemaligen Leiter einer der beiden nach der Wiedervereinigung besonders im geschichtspolitischen Streit stehenden KZ-Gedenkstätten, Buchenwald und Sachsenhausen, ist außerdem wichtig, ein weiteres großes  Verdienst Garbes in dieser entscheidenden Phase der Modernisierung und Umgestaltung hervorzuheben:  Anders als andere Urgesteine der westdeutschen Gedenkstättenbewegung sah der Leiter von Neuengamme nach anfänglichen Irritationen wegen einer nicht zu Unrecht befürchteten Relativierung der NS-Verbrechen im Zuge des Aufarbeitungsprozesses der SED-Diktatur vornehmlich die Chancen, die der Paradigmenwechsel bedeutete. Das Urgestein wurde, um im Bild zu bleiben, zu einem der tragenden Brückenpfeiler zwischen heftig widerstreitenden Positionen der Erinnerungspolitik.  Das lag nicht nur an seinem verbindlichen dialogischen Aushandlungsstil, sondern gerade auch an dem beruflichen Selbstverständnis als Wissenschaftler und Museumsmensch. Das in den neunziger Jahren auf Bundesebene durchgesetzte Konzept moderner Gedenkstätten als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben stieß bei ihm daher auf breite Zustimmung und Unterstützung. Er empfand es nicht als antiquarisch oder gar bildungsfeindlich, sondern als ein Weg, historische Forschung, museale Bewahrung, Denkmalschutz und moderne Präsentationsformen mit emphatischem Gedenken und moderner Pädagogik zu verbinden. Insoweit war es konsequent und richtig, dass die verschiedenen Bundesregierungen ihn als Vertreter der Länder in das Expertengremium der Bundeskulturbeauftragten beriefen, das über die Verteilung der sogenannten Projektmittel entscheidet. Gleichermaßen logisch war es, dass Garbe, der sich aktiv in der 1997 gegründeten Arbeitsgemeinschaft der Leiter der großen KZ-Gedenkstätten engagierte, 2018 zu deren Sprecher bestimmt wurde.

Die in den Jahren 1989 bis 2002 voran getriebenen inhaltlichen und praktischen Modernisierungen waren die Voraussetzung, dass in den folgenden drei Jahren bis zum 60. Jahrestag der Befreiung die umfassende Neugestaltung realisiert werden konnte. Institutionell allerdings blieb der Wandlungsprozess insoweit lange Zeit unvollständig, als die KZ-Gedenkstätte mit ihren Außenstellen am Bullenhuser Damm, in Poppenbüttel und Fuhlsbüttel eine nachgeordnete staatliche Einrichtung blieb. Die Selbständigkeit und die damit verbundene institutionelle Förderung durch den Bund strebte Garbe zwar an, konnte aber die dem Bundestrend folgende Umwandlung in eine politisch unabhängige, selbständige Stiftung erst 2020 erreichen.  Obwohl gerade in den letzten Jahren die Erinnerungskultur in der Hansestadt eine beeindrucke Ausgestaltung erfahren hat, an der der Leiter von Neuengamme großen Anteil hatte, sieht Detlef Garbe spätestens seit 2015 die geschichtspolitische Erfolgsgeschichte der Gedenkstätten eher wieder im Gegenwind. Nur wenige Jahre nach seinem häufig zitierten Aufsatz über die Entwicklung der Gedenkstätten von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur konstatiert er ein vor allem aus intellektuellem Milieu geäußertes neues Unbehagen an der Erinnerungskultur. Drei Gefahren, die die bisherige Erfolgsgeschichte bedrohen, meint er dabei identifizieren zu können: 1. Die Gefahr des Aufarbeitungsstolzes, 2. Den drohenden Verlust der gesellschaftlichen Unterstützung im Zeichen des Endes der Zeitzeugenschaft und des Rückzugs der Aufarbeitungsgeneration sowie 3. die erneut wachsende Gefahr der Relativierung der NS-Verbrechen. Er verweist dabei u. a. auf die Versuche von europäischen Politikern und der EU-Kommission, ein historisches Masternarrativ quasi per Dekret durchzusetzen, das einer banalisierten Totalitarismustheorie folgt. Natürlich entwickelt Garbe im gleichen Atemzug eine Reihe von Initiativen und Vorschlägen, wie die Gedenkstätten diesen Gefahren begegnen sollten. Dabei spart er auch nicht an Selbstkritik, etwa wenn er zu bedenken gibt, dass im Streben nach wissenschaftlicher Objektivität die Gedenkstätten in ihren Ausstellungen und Präsentationen das Verstörende zu sehr eingeebnet hätten. „Verlieren aber Gedenkstätten das Unbequeme und ihre Anstößigkeit“, dann, so befürchtet er, „sind sie als Lernorte nicht zukunftsfähig.“[1]

In meiner kurzen Würdigung ist leider nicht die Zeit, diesen spannenden Diskurs über eine neuerliche „Zeitenwende“ in der deutschen Erinnerungskultur zu vertiefen. Anzeichen dafür gibt es sehr wohl. Da Ich aber von den Organisatoren gebeten wurde, in meiner Funktion als Vorsitzender der Fachkommission zu sprechen, will ich es keinesfalls versäumen, im Namen aller Kolleginnen und Kollegen, die die Gedenkstätte und Stiftung in inhaltlichen Fragen beraten dürfen, ganz herzlich für eine wirklich sehr gute, vertrauensvolle,  stets anregende und angenehme Zusammenarbeit zu danken. In der Fachkommission sind sowohl auswärtige Experten als auch Vertreterinnen und Vertreter der vielfältigen Hamburger Wissenschaftslandschaft präsent. Dabei kann ich mich als langjähriges Mitglied kaum an irgendwelche Konkurrenzen oder Unstimmigkeiten erinnern. Die Fachkommission hat im Gegenteil die anregenden wissenschaftlichen Forschungsleistungen der Gedenkstätte und ihres Direktors stets als wertvolle, qualitativ herausragende und innovative Ergänzung der universitären und außeruniversitären Forschungleistungen begrüßt und entsprechend gewürdigt. Für dieses fruchtbringende Miteinander waren zu einem Teil die von Garbe intensiv gepflegten persönlichen Kontakte und Freundschaften ein kaum zu überschätzender Vorteil. Zum anderen Teil ist sie das Ergebnis seiner persönlichen Überzeugung und Berufsauffassung, die ich abschließend zitieren will: „Ohne Wissen über die Ereignisse und Personen, an die erinnert und um die getrauert werden soll, ist Gedenken nicht möglich. Die wissenschaftliche Erschließung der jeweiligen historischen Orte ist zudem Voraussetzung jeder Vermittlungstätigkeit und pädagogischen Bemühung. Insofern ist die Forschung keine additive Aufgabe, sondern Grundbestandteil jeder Gedenkstättenarbeit.“[2]


[1] Detlef Garbe, Gedenkstätten in der Bundesrepublik. Eine geschichtspolitische Erfolgsgeschichte im Gegenwind, in: Detlef Garbe, Neuengamme im System der Konzentrationslager. Studien zur Ereignis- und Rezeptionsgeschichte, Berlin 2015, S. 485.

[2] Detlef Garbe, Eine ‚moderne‘ Gedenkstätte? Die Konzeption der KZ-Gedenkstätte neuengamme als zeitgeschichtliches Museum und historisch-politische Bildungsstätte, in: Ebenda,  S. 439.

Vergegenständlichte Erinnerung. Die deutsche Einheit und die Folgen für die Erinnerungskultur – eine persönliche Bilanz nach 25 Jahren

Eine Videoaufzeichnung des Vortrages im Rahmen der „Lüdenscheider Gespräche“ im Mai 2019. Moderation Prof. Dr. Wolfgang Kruse

https://www.fernuni-hagen.de/videostreaming/archiv/ksw/luedenscheider_gespraeche.shtml

Neujahrsansprache 2. Februar 2018

NEUJAHRSEMPFANG DES ARBEITSKREISES DER BERLIN-BRANDENBURGISCHEN NS-GEDENKSTÄTTEN
AM 2. Februar 2018
GRUSSWORT
Prof. Dr. Günter Morsch

Sehr geehrte Frau Dr. Kaminsky,
Exzellenz,
sehr geehrter Herr Staatssekretär,
lieber Herr Eppelmann,
sehr geehrter Herr Sello,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, des Berliner Abgeordnetenhausen und des Brandenburgischen Landtages,
verehrte Mitglieder des diplomatischen Corps,
sehr geehrte Vertreter der Opferverbände und der religiösen Gemeinschaften,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Namen der Mitglieder des Arbeitskreises I der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg möchte ich mich zunächst ganz herzlich bei denjenigen bedanken, die nun zum dritten Mal diesen Neujahrsempfang ermöglicht und organisiert haben. Ich danke vor allem der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ganz herzlich dafür, dass wir nach unserem turnusmäßigen Ausflug zur „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Ihren Räumen wieder zu Gast sein dürfen. Ich freue mich, dass so viele Kolleginnen und Kollegen zusammen mit unseren Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kultur die Chance nutzen wollen, um im zwanglosen Rahmen miteinander hoffentlich nicht nur über die Geschichte beider Diktaturen und ihre Darstellung ins Gespräch zu kommen.

In den ersten Wochen des neuen Jahres haben die Gedenk- und Dokumentationsstätten zur Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen eine besondere und unerwartete Aufmerksamkeit in Politik und Medien erfahren. Anlass dafür gaben Äußerungen der Berliner „Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales“ Sawsan Chebli. Auf dem Hintergrund skandalöser Vorkommnisse in der Mitte Berlins, als im Rahmen einer Protestaktion gegen die Beschlüsse der amerikanischen Regierung zur Verlegung ihrer Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem israelische Fahnen verbrannt wurden, forderte sie, dass jeder, der in diesem Land lebt, verpflichtet wird, mindestens einmal in seinem Leben eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Obwohl die in Berlin geborene Tochter palästinensischer Flüchtlinge, die für ihren Kampf gegen Antisemitismus bekannt ist, ihre Anregung auf alle Teile der in Deutschland lebenden Bevölkerung ausgedehnte hatte, rückten schnell Migranten und Geflüchtete in den Fokus der Diskussion.

Grundsätzlich müssen wir Frau Chebli dafür dankbar sein, dass sie den Anstoß zu einer danach schon sehr bald intensiv geführten Debatte gab, die auf dem Hintergrund der Veranstaltungen zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus bis in bekannte Talk-shows-Formate des Deutschen Fernsehens hinein reichte. Einige von uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind in diesem Zusammenhang von Journalisten und Politikern nach unserer Meinung zu den Forderungen der Berliner Staatssekretärin befragt worden. Auch mich hat das große Medieninteresse gerade auch ausländischer Journalisten überrascht. Glaubten wir doch in den vergangenen Jahren uns schon des Öfteren mit der immer wieder von unterschiedlicher Seite aktualisierten Forderung nach verpflichtenden Gedenkstättenbesuchen auseinandergesetzt und dabei mehrheitlich eine sorgfältig erwogene und diskutierte, kritische Haltung dazu formuliert zu haben.

Nun ist nicht zu leugnen, dass es zahlreiche Anlässe gibt, um diese aufgeworfenen Fragen erneut zu diskutieren. Denn es scheinen, wie nicht nur vielfach Beobachtungen und Stimmungen, sondern auch repräsentative Umfragen bestätigen, antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen erneut zu wachsen. Die erschreckend hohe Anzahl von zumeist rechtsextremistisch motivierten Anschlägen auf Leben und Gesundheit von Geflüchteten und Asylbewerbern, fremdenfeindliche Demonstrationen wie Pegida und vor allem auch die Ergebnisse der letzten Bundestagswahlen geben, wie auch ich meine, allen Grund zur Besorgnis. Dass nun sogar im Deutschen Bundestag eine Partei fast einhundert Sitze einnimmt, aus deren Reihen offen und unverblümt die mühselig in vielen Jahrzehnten vorwiegend bürgerschaftlichen Kampfes errungene Erinnerungskultur in Deutschland in ihren Grundüberzeugungen in Zweifel gezogen und nationalistische, revisionistische sowie negationistische Forderungen nach einer Neubewertung der Geschichte des Nationalsozialismus erhoben werden, habe ich mir, wie ich zugeben muss, nicht mehr vorstellen können.

Auch wir müssen daher, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, manche scheinbare Gewissheiten der vergangenen Jahre erneut auf den Prüfstand stellen. Wir müssen die Rolle und Bedeutung der Gedenk- und Dokumentationsstätten im Kontext historisch-politischer Bildung auf dem Hintergrund gewandelter Einstellungen und politischer Bedingungen kritisch hinterfragen. Sicher können wir auch in der Zukunft nur ein Mosaikstein im Gesamtbild der Erziehung zu einem demokratischen Geschichtsbewusstsein sein. Trotzdem sollten wir uns selbstkritisch fragen, inwieweit in den genannten gesellschaftlichen und politischen Abirrungen auch ein partielles Scheitern unserer Bildungsarbeit zum Ausdruck kommt? Haben wir uns rechtzeitig auf neue Herausforderungen eingestellt? Erreichen wir mit unseren Veranstaltungen, Ausstellungen und pädagogischen Konzepten noch unser Zielpublikum? Auch wenn der enorme Zuwachs an Besucherinnen und Besuchern von NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten, der seit Jahren anhält, eine andere Sprache zu sprechen scheint, so wissen wir, wie auch die meisten anderen Bildungseinrichtungen, im Grunde wenig über die pädagogischen Effekte und die Nachhaltigkeit unserer Arbeit.

Immer wieder begegnen uns besorgte Fragen und Behauptungen, wonach es vor allem das Ende der Zeitzeugenschaft sei, das die Bedeutung der NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten in der gesellschaftlichen Debatte verändert. Das ist zweifellos nicht falsch, denn wir können die emphatischen und emotionalen Begegnungen mit den Überlebenden des NS-Terrors nicht ersetzen. Gerade deshalb aber haben die Gedenkstätten seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen grundsätzlichen Wandel von Orten in erster Linie des Gedenkens und Trauerns sowie emotionaler Betroffenheit und Erschütterung einerseits hin zu zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben andererseits in Gang gesetzt. Historisches Lernen, das sich unter Zuhilfenahme überkommener Relikte, Artefakte und Zeugnisse selbständig eine konkrete Vorstellung von Geschichte und ihrer Bedeutung für die Gegenwart erarbeitet, scheint uns nachhaltiger zu wirken als eine Didaktik, die die Lernenden zur Replikation eines vorab festgeschriebenen Lehrstoffs verpflichtet. Doch dafür brauchen unsere Pädagogen nicht nur Zeit und Freiräume, wir brauchen vor allem auch mehr Personal. Insoweit irritiert es mich schon, wenn bei der breit geführten Debatte über die Verbesserung historisch-politischer Bildung in den Gedenk- und Dokumentationsstätten die personellen und logistischen Voraussetzungen, die für eine nachhaltige Bildungsarbeit unverzichtbar sind, kaum mit reflektiert, sondern vielfach sogar schlicht ausgeblendet werden.

Das Forum für zeitgeschichtliche Bildung, das die beiden Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten im vergangenen Jahr zum vierzehnten Mal durchführten, ist zweifellos eine wichtige und unbedingt beizubehaltende Veranstaltung, auf der ein Teil der genannten selbstkritischen Fragen reflektiert werden kann. In der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen, die im vergangenen Jahr Gastgeber des Forums sein durfte, haben wir in kontinuierlicher Aufnahme der Kontroversen und Debatten über die richtigen Wege zur Vertiefung und Verbesserung historisch-politischer Bildung und in Zusammenarbeit mit Schulen und Schulverwaltungen versucht, verschiedene Methoden zu diskutieren, um die Brücke zwischen der Vergangenheit und der Lebenswelt der Jugendlichen immer wieder neu zu befestigen. Ich meine, dass wir diese Diskussionsplattformen, auf denen NS- und SED-Gedenkstätten zusammen mit Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sowie mit der Wissenschaft und den Einrichtungen der Kultur- und Bildungseinrichtungen exemplarische Projekte vorstellen und diskutieren, angesichts der genannten neuen Herausforderungen eher noch vertiefen, intensivieren und verstetigen sollten. Gerade in unserer dezentralen Gedenkstättenlandschaft kommt es darauf an, den kontinuierlichen Dialog zwischen allen Beteiligten zu organisieren.

Dabei sollten sich die NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten auch noch stärker als bisher bewusst und aktiv in die Debatten um die zukünftige Erinnerungspolitik einbringen. Wir dürfen den Parteien, den Medien und gesellschaftlichen Organisationen nicht den sich verschärfenden Diskurs um die Bedeutung historischer Bildung über den Nationalsozialismus überlassen. Viele Äußerungen aus diesen Bereichen belegen, wie wenig manchen Protagonisten der Erinnerungspolitik unsere tägliche Arbeit bekannt ist. Wenn wir nicht von vermeintlichen Sachzwängen oder Vorurteilen, bewussten Verfälschungen oder politischen Zielsetzungen und Instrumentalisierungen bestimmt werden wollen, dann müssen wir den Mut haben, uns auch öffentlich zu äußern, selbst wenn wir dadurch möglicherweise in schwierige Konflikte mit Mittelgebern und Entscheidungsträgern geraten. Denn anders als die meisten Museen befinden sich die Gedenkstätten an einer sensiblen Nahtstelle zwischen Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit einerseits sowie Aufgabenerfüllung und Alltag andererseits. Dieser eminente Bedeutungszuwachs ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels, wie er z. B. von Pierre Nora oder Hermann Lübbe schon in den achtziger Jahren beschrieben wurde. Er erreichte die NS-Gedenkstätten zwar erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, er hält seitdem aber an. Die NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten sind daher selbst politische Akteure, die sich bei gesellschaftlichen Debatten nicht verstecken dürfen.

Das Jahr 2018 und erst recht das darauf folgende Jahr 2019 ermöglichen uns, im Rückblick auf entscheidende historische Wegmarken der Jahre 1938 und 1939, als der Terror gegen politische, soziale und sogenannte rassische Feinde des NS-Regimes erheblich ausgeweitet und erste militärische Interventionen und Gewaltakte der geplanten Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch das „Dritte Reich“ den Weg bereiteten, das historische Bewusstsein für gegenwärtige innen- und außenpolitische Bedrohungen und Probleme zu schärfen. Zugleich können wir auf das weit verbreitete Versagen einer Weltgemeinschaft hinweisen, die die meisten vom Terror Betroffenen im Stich ließ und keine Hilfe leistete. Das Bewusstsein für den notwendigen und aus der Erfahrung der historischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges erwachsenen Zusammenhalt vor allem auch in Europa zu stärken, das ist nicht nur eine Aufgabe, sondern eine Chance für die NS-Gedenkstätten. Es gilt das in der Geschichte ihrer Orte eingeschlossene Potential zu entfalten, denn wir sind nicht allein deutsche Einrichtungen, sondern von europäischer und internationaler Bedeutung. Denn nicht nur die Geschichte Europas zwischen 1933 und 1945, sondern gerade auch die europäische Nachkriegsgeschichte ist an unseren historischen Orten eingeschrieben.

In seinem vor kurzem mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Roman „Die Hauptstadt“ schildert der österreichische Schriftsteller Robert Menasse das Scheitern eines auf die Gründungsgeschichte der Europäischen Union rekurrierenden Projekts. Um die allmählich sich auflösende Europa-Begeisterung zu stärken, plant die europäische Kommission anlässlich ihres fünfzigsten Gründungstages einen Festakt in Auschwitz. Dabei soll ein KZ-Überlebender noch einmal an das Vermächtnis und den Schwur der Häftlinge erinnern, den Frieden durch die europäische Einigung herzustellen und auf Dauer zu sichern. Das Vorhaben scheitert schließlich, weil den unterschiedlichen Repräsentanten der EU-Staaten die Verteilung der Quoten für Schweinefleisch wichtiger und präsenter ist als die Befestigung europäischer Einheit auf dem Hintergrund historischer Erfahrung. Dieser deprimierende Schluss des Romans, der m. E. weniger fiktional als realistisch ist, sollte uns Ansporn sein, um unseren kleinen, aber, wie ich meine, nicht unmaßgeblichen Teil dazu beizutragen, dass aus der Geschichte die richtigen Schlüsse gezogen werden.

Die Neujahrsempfänge der beiden Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten sind auch eine gute Gelegenheit, um allen unseren Mitstreiterinnen und Mitstreitern, um unseren Verbündeten in Politik und Verwaltung, in den Medien ebenso wie in den verschiedenen Bildungseinrichtungen, in den Opfer- und Interessenverbänden ebenso wie in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen den herzlichen Dank von allen Gedenkstätten und Dokumentationsorten auszusprechen. Wir wissen um ihre steten Anstrengungen und sind ihnen dankbar dafür. Wir ahnen oder kennen die Herausforderungen und Probleme, denen sie begegnen müssen, um unsere Interessen und Bedürfnisse zu vertreten. Umso dankbarer sind wir nicht nur für Ihre Unterstützung und Hilfe, sondern auch für Ihre Empathie und Sympathie, aus denen nicht selten Freundschaften entstanden sind. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns ein gutes und erfolgreiches Jahr 2018.