Rede zur Verabschiedung von Stiftungsdirektor Prof. Dr. Detlef Garbe in den Ruhestand, Hamburg, den 30. Juni 2022

Prof. Dr. Günter Morsch

HAMBURG, DEN 30. JUNI 2022

Prof. Dr. Günter Morsch

Vorsitzender der Fachkommission der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung  an die Opfer der NS-Verbrechen

Sehr geehrte Frau Präsidentin

Sehr geehrter Herr Senator, lieber Herr Brosda

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Lieber Detlef,

Die Erinnerungskultur in Deutschland hat in den vergangenen vierzig Jahren einen starken und grundlegenden Wandel erlebt. Von der Leugnung, Verharmlosung, Verdrängung und Relativierung der NS-Verbrechen, die noch in den späten siebziger Jahre in der Bundesrepublik die Regel waren bis hin zu der sowohl in der Breite als auch in der Tiefe eindrucksvoll entwickelten Gedenkstättenlandschaft unserer Tage. Wie immer in der Geschichte gibt es auch in der Entwicklung der Erinnerungskultur Phasen, Brüche und Wendepunkte. Schauen wir uns dabei die verschiedenen Veränderungen, Wandlungen, Übergänge und Neugestaltungen näher an und fragen danach, wie sie zustande kamen, dann können wir nach meiner festen Überzeugung  konstatieren, dass Detlef Garbe dabei häufig eine wichtige Rolle als Initiator, Akteur, Gestalter, Historiker und Gedenkstättenvertreter spielte. Dass er dies natürlich nicht allein tat, sondern im Verbund mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern versteht sich nicht nur von selbst, sondern charakterisiert eine seiner wichtigsten Handlungsmaximen, die für den Erfolg verantwortlich waren und sind.

Mit einer etwa zehnjährigen Verspätung gegenüber den historischen Museen begannen sich verschiedene Initiativen Anfang der achtziger Jahre in der Bundesrepublik mit den „vergessenen KZ’s“ zu beschäftigen. Der damals 25 Jahre alte Student der Geschichte und Theologie gehörte einem Kreis von Initiatoren um die 1981 eröffnete und von Ludwig Eiber geleitete Dokumentationsstätte Neuengamme an, damals eine Untergliederung des Museums für Hamburgische Geschichte. Als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen kannte er die wesentlich weiter entwickelten KZ-Gedenkstätten in Polen. Sie verfügten ebenso wie die großen Mahn- und Gedenkstätten in der DDR über beachtliche Sammlungen, Archive, pädagogische Abteilungen sowie große Dauerausstellungen. Von Umfang und vom Selbstverständnis solcher großer Gedenkstätten waren auch die wenigen kleinen und häufig ehrenamtlich betriebenen Einrichtungen in der BRD noch meilenweit entfernt. Es konnte auf dem Boden einer durch den Zeitgeist der späten sechziger und siebziger Jahre sowie durch die weite Verbreitung des amerikanischen Fernsehfilm „Holocaust“ bewirkte allmähliche Zerbröckeln der Mauer aus Verdrängen und Verschweigen  zunächst nur darum gehen, die verschiedenen von den Verbänden der Überlebenden mitgetragenen Initiativen zusammenzubringen. Ein solches erstes Treffen, aus dem schließlich die bis heute regelmäßig stattfindenden Gedenkstättenseminare hervorgingen, fand in Hamburg statt. Der aus den verschiedenen Tagungsbeiträgen entstandene Sammelband wurde 1983 von Detlef Garbe unter dem Titel „Die vergessenen KZ’s“ herausgegeben. Die darin von Herausgeber im Vorwort gezogene Bilanz der deutschen Erinnerungskultur, von ihm als „organisierte Vergesslichkeit“ bezeichnet, war für die Bundesrepublik peinlich und beschämend.

Parallel zu den Bemühungen der grassroot-Bewegung, Gedenkstätten an den historischen Orten des Terrors zu gründen und zu etablieren, begann die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verfolgung der bisher vergessenen, verdrängten und häufig nach wie vor diskriminierten Opfergruppen, wie der Homosexuellen, der Sinti und Roma, der sowjetischen Kriegsgefangenen, der Wehrdienstverweigerer oder der sogenannten Bibelforscher. Die Anfänge seiner Beschäftigung mit dem Schicksal der Zeugen Jehovas setzte Garbe im Laufe der achtziger Jahre im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen fort.  Er widmete seine Dissertation der systematischen Verfolgung und dem erstaunlichen Widerstand dieser religiösen Sekte. Seine 1993 publizierte Studie gilt nach wie vor als ein Standartwerk, das viele weitere Forschungen zur Geschichte der Zeugen Jehovas initiiert hat. Sie hat seitdem vier Auflagen erlebt. 2008 erschien in Kooperation mit dem US-Holocaust-Museum auch eine englische Übersetzung.

Blick man auf diese erste Phase zurück und betrachtet die Rolle von Detlef Garbe in dieser Zeit, so kann man ihn wohl als ein Urgestein der von unten entstandenen und erkämpften bundesdeutschen Gedenkstättenbewegung bezeichnen. Er war als Teil seiner Generation über die Erinnerungsverweigerung der Eltern und Großeltern tief erschrocken. Für sie war die von zahlreichen Skandalen geprägte Nachgeschichte des NS-Terrors Teil der eigenen Lebenserfahrung. Sie waren im wörtlichen Sinn davon betroffen, wurden häufig als „Nestbeschmutzer“ beschimpft und nicht selten mit Ausrufen wie „Euch hat man vergessen zu vergasen!“ verbal und physisch bedroht. Umso unverständlicher und absurder ist es für mich, wenn gelegentlich denjenigen, die sich vor dem Hintergrund der nachwirkenden Diskriminierung mit den Verfolgten solidarisierten,  unterstellt wird, sie hätten durch Identifikation mit den Opfern der Beschäftigung mit den Tätern ausweichen wollen.

Die deutsche Einheit führte zu einem weiteren in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden grundsätzlichen Wandel in der deutschen Erinnerungskultur. Er kann als ein wirklicher Paradigmenwechsel bezeichnet werden. Denn die maßgeblichen Politiker fragten nun nicht mehr, was sie tun könnten, um den Forderungen der Gedenkstättenbewegung entgegenzukommen, sondern sie betrachteten umgekehrt die Fortentwicklung der deutschen Erinnerungskultur als eine conditio sine qua non, um die außenpolitische Akzeptanz des vereinten Deutschland vor allem in seinen Nachbarstaaten zu erreichen. Es war wohl eher ein glücklicher Zufall, dass zum gleichen Zeitpunkt Detlef Garbe die Leitung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme übertragen wurde. Zwei Jahre später legte eine Expertenkommission ein umfassendes Konzept zur Neugestaltung vor. Darin wurden nicht nur die Ausdehnung der Gedenkstätte auf das ehemalige, von der Justizvollzugsanstalt genutzte Häftlingslager, sondern auch wichtige Fortschritte hin zu einem modernen Ausstellungs- und Lernort vorgeschlagen. Die Umsetzung dieser weitreichenden Pläne konnte zwar erst rund zehn Jahre später nach dem durch die neue Regierungskoalition aus CDU, Schill-Partei und FdP verursachten national und international Aufsehen erregenden Skandal seit Frühjahr 2002 realisiert werden. Trotzdem trieb die neue Gedenkstättenleitung die Modernisierung, Professionalisierung und Neugestaltung in vielen Bereichen schon in den neunziger Jahren energisch voran.

Als ein Beispiel dafür will ich die von der Gedenkstätte Neuengamme und ihrem Leiter herausgegebene wissenschaftliche Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ nennen. Sie brachte es zwischen 1994 und 2020 auf insgesamt 19 Hefte.  Zwar stehen regional- und lokalgeschichtliche Perspektiven darin im Vordergrund, doch thematisieren die zahlreichen Aufsätze häufig grundsätzliche historische Forschungsfragen, teilweise sogar zum ersten Mal. Das Kaleidoskop der Beiträge reicht von Aspekten der Täterforschung über die Geschichte der verschiedenen Lager und den Umgang der Nachkriegsjustiz mit den NS-Verbrechen bis hin zu Fragen der musealen Präsentation. Auch die vergessenen und verdrängten Opfergruppen, wie die sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, werden behandelt. Um den Wert der Hefte zu verdeutlichen, muss man wissen, dass es bis zur Mitte der neunziger Jahre so gut wie keine wissenschaftliche Forschung über die Geschichte der Konzentrationslager gab.

Mir als ehemaligen Leiter einer der beiden nach der Wiedervereinigung besonders im geschichtspolitischen Streit stehenden KZ-Gedenkstätten, Buchenwald und Sachsenhausen, ist außerdem wichtig, ein weiteres großes  Verdienst Garbes in dieser entscheidenden Phase der Modernisierung und Umgestaltung hervorzuheben:  Anders als andere Urgesteine der westdeutschen Gedenkstättenbewegung sah der Leiter von Neuengamme nach anfänglichen Irritationen wegen einer nicht zu Unrecht befürchteten Relativierung der NS-Verbrechen im Zuge des Aufarbeitungsprozesses der SED-Diktatur vornehmlich die Chancen, die der Paradigmenwechsel bedeutete. Das Urgestein wurde, um im Bild zu bleiben, zu einem der tragenden Brückenpfeiler zwischen heftig widerstreitenden Positionen der Erinnerungspolitik.  Das lag nicht nur an seinem verbindlichen dialogischen Aushandlungsstil, sondern gerade auch an dem beruflichen Selbstverständnis als Wissenschaftler und Museumsmensch. Das in den neunziger Jahren auf Bundesebene durchgesetzte Konzept moderner Gedenkstätten als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben stieß bei ihm daher auf breite Zustimmung und Unterstützung. Er empfand es nicht als antiquarisch oder gar bildungsfeindlich, sondern als ein Weg, historische Forschung, museale Bewahrung, Denkmalschutz und moderne Präsentationsformen mit emphatischem Gedenken und moderner Pädagogik zu verbinden. Insoweit war es konsequent und richtig, dass die verschiedenen Bundesregierungen ihn als Vertreter der Länder in das Expertengremium der Bundeskulturbeauftragten beriefen, das über die Verteilung der sogenannten Projektmittel entscheidet. Gleichermaßen logisch war es, dass Garbe, der sich aktiv in der 1997 gegründeten Arbeitsgemeinschaft der Leiter der großen KZ-Gedenkstätten engagierte, 2018 zu deren Sprecher bestimmt wurde.

Die in den Jahren 1989 bis 2002 voran getriebenen inhaltlichen und praktischen Modernisierungen waren die Voraussetzung, dass in den folgenden drei Jahren bis zum 60. Jahrestag der Befreiung die umfassende Neugestaltung realisiert werden konnte. Institutionell allerdings blieb der Wandlungsprozess insoweit lange Zeit unvollständig, als die KZ-Gedenkstätte mit ihren Außenstellen am Bullenhuser Damm, in Poppenbüttel und Fuhlsbüttel eine nachgeordnete staatliche Einrichtung blieb. Die Selbständigkeit und die damit verbundene institutionelle Förderung durch den Bund strebte Garbe zwar an, konnte aber die dem Bundestrend folgende Umwandlung in eine politisch unabhängige, selbständige Stiftung erst 2020 erreichen.  Obwohl gerade in den letzten Jahren die Erinnerungskultur in der Hansestadt eine beeindrucke Ausgestaltung erfahren hat, an der der Leiter von Neuengamme großen Anteil hatte, sieht Detlef Garbe spätestens seit 2015 die geschichtspolitische Erfolgsgeschichte der Gedenkstätten eher wieder im Gegenwind. Nur wenige Jahre nach seinem häufig zitierten Aufsatz über die Entwicklung der Gedenkstätten von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur konstatiert er ein vor allem aus intellektuellem Milieu geäußertes neues Unbehagen an der Erinnerungskultur. Drei Gefahren, die die bisherige Erfolgsgeschichte bedrohen, meint er dabei identifizieren zu können: 1. Die Gefahr des Aufarbeitungsstolzes, 2. Den drohenden Verlust der gesellschaftlichen Unterstützung im Zeichen des Endes der Zeitzeugenschaft und des Rückzugs der Aufarbeitungsgeneration sowie 3. die erneut wachsende Gefahr der Relativierung der NS-Verbrechen. Er verweist dabei u. a. auf die Versuche von europäischen Politikern und der EU-Kommission, ein historisches Masternarrativ quasi per Dekret durchzusetzen, das einer banalisierten Totalitarismustheorie folgt. Natürlich entwickelt Garbe im gleichen Atemzug eine Reihe von Initiativen und Vorschlägen, wie die Gedenkstätten diesen Gefahren begegnen sollten. Dabei spart er auch nicht an Selbstkritik, etwa wenn er zu bedenken gibt, dass im Streben nach wissenschaftlicher Objektivität die Gedenkstätten in ihren Ausstellungen und Präsentationen das Verstörende zu sehr eingeebnet hätten. „Verlieren aber Gedenkstätten das Unbequeme und ihre Anstößigkeit“, dann, so befürchtet er, „sind sie als Lernorte nicht zukunftsfähig.“[1]

In meiner kurzen Würdigung ist leider nicht die Zeit, diesen spannenden Diskurs über eine neuerliche „Zeitenwende“ in der deutschen Erinnerungskultur zu vertiefen. Anzeichen dafür gibt es sehr wohl. Da Ich aber von den Organisatoren gebeten wurde, in meiner Funktion als Vorsitzender der Fachkommission zu sprechen, will ich es keinesfalls versäumen, im Namen aller Kolleginnen und Kollegen, die die Gedenkstätte und Stiftung in inhaltlichen Fragen beraten dürfen, ganz herzlich für eine wirklich sehr gute, vertrauensvolle,  stets anregende und angenehme Zusammenarbeit zu danken. In der Fachkommission sind sowohl auswärtige Experten als auch Vertreterinnen und Vertreter der vielfältigen Hamburger Wissenschaftslandschaft präsent. Dabei kann ich mich als langjähriges Mitglied kaum an irgendwelche Konkurrenzen oder Unstimmigkeiten erinnern. Die Fachkommission hat im Gegenteil die anregenden wissenschaftlichen Forschungsleistungen der Gedenkstätte und ihres Direktors stets als wertvolle, qualitativ herausragende und innovative Ergänzung der universitären und außeruniversitären Forschungleistungen begrüßt und entsprechend gewürdigt. Für dieses fruchtbringende Miteinander waren zu einem Teil die von Garbe intensiv gepflegten persönlichen Kontakte und Freundschaften ein kaum zu überschätzender Vorteil. Zum anderen Teil ist sie das Ergebnis seiner persönlichen Überzeugung und Berufsauffassung, die ich abschließend zitieren will: „Ohne Wissen über die Ereignisse und Personen, an die erinnert und um die getrauert werden soll, ist Gedenken nicht möglich. Die wissenschaftliche Erschließung der jeweiligen historischen Orte ist zudem Voraussetzung jeder Vermittlungstätigkeit und pädagogischen Bemühung. Insofern ist die Forschung keine additive Aufgabe, sondern Grundbestandteil jeder Gedenkstättenarbeit.“[2]


[1] Detlef Garbe, Gedenkstätten in der Bundesrepublik. Eine geschichtspolitische Erfolgsgeschichte im Gegenwind, in: Detlef Garbe, Neuengamme im System der Konzentrationslager. Studien zur Ereignis- und Rezeptionsgeschichte, Berlin 2015, S. 485.

[2] Detlef Garbe, Eine ‚moderne‘ Gedenkstätte? Die Konzeption der KZ-Gedenkstätte neuengamme als zeitgeschichtliches Museum und historisch-politische Bildungsstätte, in: Ebenda,  S. 439.