Garant für Kontinuität im Wandel: Thomas Lutz

Garant für Kontinuität im Wandel: Thomas Lutz als Ratgeber und Vorsitzender des Internationalen Beirats der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 1991-2018

in: 30 Jahre Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors, Gedenkstättenrundbrief Nr. 210, 7/2023, S. 64-73

Günter Morsch

Am 30. Januar 1993 gründete die Landesregierung Brandenburg auf der Grundlage eines im Potsdamer Landtag beschlossenen Gesetzes per Verordnung die „rechtsfähige Stiftung öffentlichen Rechts ‚Brandenburgische Gedenkstäten‘“(StBG).[1] Sie war die erste rechtlich selbständige Gedenkstättenstiftung der nur gut zwei Jahre zuvor vereinten Bundesrepublik Deutschland. Als Vorbild und Vorläufer kann die vom Land Berlin 1992 errichtete und von ihrem ersten Direktor Reinhard Rürup maßbeglich initiierte und konzipierte „Stiftung Topographie des Terrors“ gelten. Das am Ort der verschiedenen zentralen SS-Dienststellen zunächst provisorisch entstandene Dokumentationszentrum wurde jedoch genauso wie die kurz nach der Brandenburger Einrichtungsverordnung in Thüringen gegründete „Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora“ erst sehr viele Jahre später als rechtsfähige Stiftungen von den jeweiligen Landesregierungen in die Selbständigkeit entlassen. Die in 15 Paragraphen gegossenen maßgeblichen Grundzüge und Prinzipien der brandenburgischen „Stiftungssatzung“ haben die weitere Entwicklung der großen Gedenkstätten in den verschiedenen Bundesländern zweifellos ganz maßgeblich beeinflusst. Fast alle in den folgenden Jahren von den Ländern mit Bundesbeteiligung neu gegründeten Gedenkstättenstiftungen übernahmen zu einem großen Teil die in diesen Paragraphen niedergelegten Strukturprinzipien und Aufgabenbeschreibungen. Dabei lassen sich aus den jeweiligen Abänderungen interessante Aufschlüsse über die geschichtspolitischen Besonderheiten der einzelnen Bundesländer herauslesen. Zuletzt verabschiedete im November 2019 nach jahrelangem Zögern die Hamburger Bürgerschaft das vom Senat vorgelegte Gesetz über die „Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen“. Auch in diesem Text lassen sich leicht wichtige Grundsätze und Ordnungsregeln der brandenburgischen Stiftungsverordnung bis in einzelne Formulierungen hinein wiederfinden.[2]

Die fast drei Jahrzehnte, die seit dem Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur nach der deutschen Einheit vergangen sind, waren mit Debatten und Diskussionen, mit Aufbrüchen und Anfängen, mit Konflikten und Kämpfen sowie mit Verlusten und Veränderungen prall gefüllt. Geschichte scheint sich zeitweilig eine Atempause zu nehmen und dann beschleunigt sie sich plötzlich in einem Atem beraubenden Tempo, bei dem wir, die wir doch als Subjekte die Akteure der Zeitverläufe sind oder zumindest sein sollten, uns eher wie in einem Strudel mitgerissen fühlen. Eine solche Zeit ungeheurer Beschleunigung und Verdichtung haben auch die in der StBG zusammengeschlossenen Gedenkstätten in Brandenburg/Havel, Ravensbrück und Sachsenhausen mit ihrer Außenstelle im Belower Wald erlebt. Blickt man allerdings auf die Entwicklung dieser Jahre zurück, so erstaunt eher die Kontinuität und Beharrlichkeit, in denen die Gedenkstättenstiftung trotz ständiger neuer Herausforderungen den grundlegenden und umfassenden Wandel von den Mahn- und Gedenkstätten der DDR hin zu modernen zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben bewältigen konnte.

In solchen Zeiten stürmischen Wandels ist es neben festen Grundsätzen, vorausschauenden, nachhaltigen Konzeptionen und belastbaren Strukturen vor allem das auch über längere Phasen und Brüche hinweg beharrliche Wirken von Personen, das unter den wechselnden Umständen von Krisen und Erfolgen Kontinuität zu erreichen vermag. Ein solch wichtiger Garant für Kontinuität im Wandel war für die Einrichtungen der StBG Thomas Lutz. Schon als Mitglied der 1991 von der Brandenburgischen Landesregierung einberufenen Expertengruppe war der Gedenkstättenreferent der „Stiftung Topographie des Terrors“ an der Erarbeitung eines umfangreichen Gutachtens beteiligt. Darin ging es um nichts weniger als um Empfehlungen zur umfassenden Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten. Unter dem Vorsitz des Bochumer Historikers Bernd Faulenbauch berieten sieben Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten auf der Grundlage einer kritischen Aufarbeitung der Rolle des Antifaschismus und der Mahn- und Gedenkstätten in der DDR über die Modernisierung, Neukonzeption und Umgestaltung der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten im neu gegründeten Bundesland Brandenburg. Für die Berufung von Thomas Lutz in die Brandenburgische Expertenkommission sprach vor allem seine damals schon herausragende Kenntnis der nationalen und internationalen Gedenkstätten, das Vertrauen, das er durch seine Tätigkeit bei den Organisationen der Überlebenden erworben hatte sowie seine profunde Expertise insbesondere im Bereich der Gedenkstättenpädagogik.

Nicht als Gedenkstättenreferent, sondern als offizieller Vertreter der gerade auch im Ausland anerkannten „Aktion Sühnezeichen“ wählten die im Herbst 1993 von den Organisationen der Überlebenden und den Betroffenenverbänden delegierten fast 20 Mitglieder des Internationalen Beirates Thomas Lutz auf ihrer ersten Sitzung einstimmig zu ihrem Vorsitzenden. In dieser wichtigen Funktion trug der Vorsitzende des Internationalen Beirates, der zumeist in zwei Arbeitskommissionen tagte, die Stimmen und Voten der Überlebenden des NS-Terrors ebenso wie der Opfer der sowjetischen Geheimpolizei und der SED-Diktatur in den Stiftungsrat. Als einer von sieben voll stimmberechtigten Mitgliedern entschied der Beiratsvorsitzende in diesem Gremium über grundsätzliche Fragen der Stiftungsentwicklung, wie vor allem über Fragen des Haushaltes, der Organisation und Personalausstattung. Zusammen mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, vertreten durch seinen Präsidenten Ignatz Bubis und den Gedenkstättenreferenten Peter Fischer, und dem Vorsitzenden der Fachkommission Bernd Faulenbach sah sich der Beiratsvorsitzende nicht selten in die Rolle gedrängt, die berechtigten Anliegen der Gedenkstätten gegenüber den finanziellen und politisch motivierten Bedenken und Einwänden der Beauftragten von Land und Bund, an ihrer Spitze die jeweiligen brandenburgischen Kulturministerinnen und Kulturminister, nachdrücklich zu unterstützen. In einer Zeit, in der relativ große Finanzmittel zur Restauration und Umgestaltung der historisch-authentischen Gelände mit zahlreichen, teilweise im Verfall begriffenen denkmalgeschützten Gebäuden dringend erforderlich waren, während zugleich die kontinuierliche Schrumpfung der staatlichen Ausgaben von maßgeblichen Teilen der Politik schon aus Gründen volkswirtschaftlicher Dogmatik angestrebt wurde, galt es allerdings auch vielfältige Konfliktlagen und Konfrontationen auszuhalten und durchzustehen. Wie sehr auch die Mitglieder des Internationalen Beirates ihrem Vorsitzenden sein konsequentes Eintreten für die Belange der Opferverbände und der Gedenkstätten, seine Beharrungskraft, seine Argumentationsstärke und sein diplomatisches Geschick schätzten, lässt sich allein schon aus der regelmäßigen, alle vier Jahre vorgenommenen und einmütigen Wiederwahl von Thomas Lutz in den fast drei Jahrzehnten seit 1993 erschließen.

Dabei konnte von Zusammenhalt und Einigkeit der Opfer- und Betroffenenverbände untereinander sowie von Vertrauen in die neuen Gedenkstättenleitungen vor Beginn der Stiftungsgründung keine Rede sein. Die durch die friedliche Revolution bewirkten politischen und erinnerungskulturellen Friktionen und Konfrontationen hatten auch die Mahn- und Gedenkstätten erfasst. Deren Praxis des instrumentalisierten Antifaschismus schlug zu Recht heftige Kritik und Forderungen nach sofortigen Änderungen entgegen. Das nicht immer sensible Verhalten der 1989/90 neu eingesetzten Kulturverwaltungen sowie der kommissarischen Gedenkstättenleitungen verschärfte die Konflikte. Misstrauen auf allen Seiten machte sich breit und führte zu heftigen gegenseitigen Angriffen und Vorwürfen, die in Einzelfällen auch physisch ausgetragen wurden. Von heute aus betrachtet sollte man die damaligen erregten Proteste, die die NS-Opferverbände ebenso wie große Teile der Öffentlichkeit erfassten, vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs eines alle Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts erfassenden Systemwechsels bewerten. Denn die „Tempel des Antifaschismus“ spielten eine wichtige Rolle bei der Legitimierung der DDR-Diktatur. Trotzdem gab es in den ersten Jahren des Übergangs eine Vielzahl von verstörenden Aktivitäten, Maßnahmen, Reden und Veröffentlichungen, die nicht nur die Überlebenden des NS-Terrors teilweise in höchste Erregung oder Depression trieben. Dazu zählten zum Beispiel der sogenannte Supermarkt-Skandal in Ravensbrück, die Umbenennung von Straßen und Schulen im Umfeld der Gedenkstätten, die nach Mordopfern der Nationalsozialisten benannt waren oder die politisch motivierte Schließung von Museen und Ausstellungen. Für nicht wenige Überlebende des NS-Terrors und ihre Angehörigen verdichteten sich alle diese Anzeichen zu einem vermeintlichen „Generalangriff“ auf die Mahn- und Gedenkstätten. Als schließlich Antisemiten und Rechtsextremisten im September 1992 nach dem Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin einen Brandanschlag auf die sogenannten jüdischen Baracken in Sachsenhausen verübten und dabei nicht nur großen materiellen, sondern auch politischen Schaden anrichteten, schienen sich für viele kritische Beobachter des Prozesses der deutschen Einheit ihre Befürchtungen zu bewahrheiten. Als Folge der Vertrauenskrise zogen Überlebende und ihre Familien ihre Artefakte und Dokumente aus den Archiven der Mahn- und Gedenkstätten ab, andere kehrten den Einrichtungen ihre Rücken zu und boykottierten sogar die Veranstaltungen zu den Jahrestagen der Befreiung.

Auch die sorgfältig erarbeiteten, intensiv recherchierten und differenziert argumentierenden, relativ umfangreichen Empfehlungen der Expertenkommission zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten, in denen vermutlich Thomas Lutz vor allem die Teile zur Neukonzeption der Gedenkstättenpädagogik maßgeblich beeinflusste,[3] stießen zunächst bei einem Großteil der Verbände auf heftigen Widerspruch. Der spätere Direktor der „Stiftung Topographie des Terrors“ Andreas Nachama sprach sicherlich nicht nur für sich, als er auf dem nach der Vorlage der Empfehlungen im März 1992 veranstalteten Colloquium den Programmverantwortlichen das „Misstrauen“ aussprach. Ein Dialog mit den Verfolgtenverbänden, so führte er aus, sei überhaupt nicht angestrebt worden und die Veranstaltung habe nur „Alibicharakter“.[4] Hauptsächlich aber kritisierte er die Empfehlungen der Kommission zum Umgang mit der zweifachen Vergangenheit in Sachsenhausen, als Konzentrationslager und als sowjetisches Speziallager. Wenn man deren Vorschlägen folgen wolle, sei es besser, „alle Anlagen zu schleifen und einen Gedenkhain anzulegen.“[5] Die von Nachama und anderen Vertretern der NS-Opfer, wie der Sprecherin der VVN-BdA Rosel Vadehra-Jonas, geäußerten Befürchtungen, dass es in den Brandenburgischen Gedenkstätten, insbesondere in Sachsenhausen, zu einer undifferenzierten Vermengung der beiden historischen Phasen vor und nach 1945 und damit zu einer Relativierung der NS-Verbrechen kommen könnte, waren im Hinblick auf die allgemeine politische Entwicklung in Deutschland und in Europa nicht unbegründet. Selbst das Europa-Parlament wandte sich deshalb mit einer entsprechenden Ermahnung an die internationale Öffentlichkeit.[6] Die Empfehlungen der Expertenkommission aber richteten sich eher im Gegenteil gegen solche Tendenzen, „braune“ und „rote“ Diktaturen, wie Nationalsozialismus und SBZ/DDR gelegentlich bezeichnet wurden, gleichzusetzen.

Vertreter der kommunistischen Opferverbände reklamierten zugleich energisch eine gleichwertige Berücksichtigung ihrer Leiden. „Opfer erster“ und „zweiter Klasse“, so ihre moralisch zweifellos berechtigten Appelle, dürfe es nicht geben. Doch viele ihrer Vorstellungen zur Zukunft der brandenburgischen Gedenkstätten gingen weit darüber hinaus. Im Sinne einer Publikation des späteren Vorsitzenden der „Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft“ (UOKG) und Überlebenden des sowjetischen Speziallagers Buchenwald Gerhart Finn[7] verlangten sie ein einheitliches Museum in Sachsenhausen, in dem „unter einem Dach“ über die Geschichte zwischen 1936 und 1950 informiert werden sollte, da es nur ein Konzentrationslager gegeben hätte.

Die in den Empfehlungen der Expertenkommission ausgeführte, später nach ihrem Vorsitzenden benannte „Faulenbach-Formel“ [8] löste zwar die unterschiedlichen historischen Einschätzungen über den Charakter der sowjetischen Speziallager nicht auf, aber sie trug dazu bei, einen Boykott der neu zu gründenden Gedenkstättenstiftung durch Opferverbände zu verhindern und bot eine Plattform für Verständigung und Gespräche. Erst danach aber kamen „die Mühen der Ebenen“ und diese zu bewältigen, war neben den Vertretern der Gedenkstättenstiftung eine der Hauptaufgaben, vor allem auch von Thomas Lutz. Laut Einrichtungsverordnung nämlich vertrat der Beiratsvorsitzende alle in diesem Beratungsgremium vertretenen bis zu 20 Opfer- und Interessenverbände. Es war neben der Stiftungsleitung vor allem seine Aufgabe, mit den anfänglich in zwei getrennten Räumen am Sitz der Stiftung im ehemaligen Verwaltungsgebäude der KZ-Inspektion gegründeten und zumeist zu unterschiedlichen Zeiten zweimal jährlich tagenden Arbeitskommissionen des Beirates, die sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte vor oder nach der Befreiung vom Nationalsozialismus befassten, gemeinsame Initiativen auszuhandeln und die mühsam geknüpften Gesprächsfäden zu pflegen und zu bewahren. Anders aber als erhofft, wurde die Verständigung und Kommunikation zwischen den beiden Kommissionen nicht einfacher, als im Sommer 1994 ein neuer Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945–50“ gewählt wurde. Zumindest eine Mehrheit im Vorstand und ein großer Teil der Mitglieder trat danach immer offener für revisionistische Positionen ein, lud Rechtsextremisten als Redner zu ihren Veranstaltungen ein und rief zu einer Gedenkveranstaltung für den Kindermassenmörder und T4-Gutachter Professor Hans Heinze auf.

Da Thomas Lutz allerdings zumindest im Stiftungsrat die Gesamtinteressen des Beirates zu vertreten hatte, war dies ein schwieriger Balanceakt, den er jedoch aufgrund seiner herausragenden dialogischen Kommunikationsstärke zumeist mit großem Erfolg bewältigte. Dabei kam ihm zu Hilfe, dass die vier aufeinander folgenden Vorsitzenden der Arbeitskommission zur Geschichte der Speziallager und der kommunistischen Verfolgung, Ulf Müller, Horst Jänichen, Kurt Noak und Hans-Joachim Schmidtchen, die als nicht stimmberechtigte Mitglieder an den Beratungen des Stiftungsrates teilnahmen, sich gleichfalls um eine Verständigung bemühten. Die vier Verfolgten der sowjetischen Geheimpolizei und der DDR-Diktatur, die in den Gefängnissen Bautzen und Hohenschönhausen sowie in den sowjetischen Speziallagern Sachsenhausen und Jamlitz gelitten hatten, bemühten sich gemeinsam mit Thomas Lutz darum, zu den im Beirat vertretenen NS-Opferorganisationen Brücken zu schlagen und vereinzelt auch persönliche Freundschaften zu knüpfen. Durch das bald schon aufgebaute Vertrauensverhältnis zwischen ihnen gelang es zwar nicht, die grundlegenden Differenzen und Meinungsunterschiede abzubauen. Trotzdem konnte Thomas Lutz alle Beiratsmitglieder davon überzeugen und dabei durchsetzen, dass wichtige Grundsatzentscheidungen der Gedenkstättenstiftung an bestimmten Wegmarken teils in gemeinsamen Beratungen oder zumindest in Übereinstimmung getroffen wurden. Übereinstimmung konnte dabei zum Beispiel in der Frage des für die Umgestaltung der Gedenkstätte Sachsenhausen grundlegenden dezentralen Gesamtkonzeptes erzielt werden. Der schon Ende 1994 den Stiftungsgremien vorgelegte und einstimmig angenommene Plan beendete den ursprünglichen Streit um die Frage eines alle historischen Phasen umfassenden Museums, indem er vorschlug, mehrere kleine Ausstellungen an bestimmten historischen Schauplätzen des historischen Areals einzurichten und sie mit der konkreten Geschichte des jeweiligen Ortes zu verknüpfen. Das große Museum zur Geschichte der Speziallager sollte demnach, einen Vorschlag der Expertenkommission aufgreifend, an der Schnittstelle zwischen den beiden Lagerzonen I und II des sowjetischen Speziallagers errichtet werden.[9] Zugleich aber enthalten alle dezentralen Ausstellungen einen einleitenden Teil, in dem alle historischen Phasen zwischen 1936 und 1989 kurz dargestellt werden. Auch der aus dem inhaltlichen und gestalterischen dezentralen Gesamtkonzept folgenden baulichen Zielplanung stimmten in einer gemeinsamen Beiratssitzung 1996 alle Mitglieder beider Kommissionen zu.[10]

Auf der Grundlage pauschaler Kostenschätzungen über die notwendigen Finanzmittel zur Restauration, zum Erhalt und zum Umbau der historischen Orte in Brandenburg/Havel, Ravensbrück und Sachsenhausen verlangten die Mittelgeber die Aufstellung eines für zehn Jahre gültigen Rahmeninvestitionsplans. Dieser sah innerhalb eines Gesamtrahmens von maximal 30 Millionen DM den Neubau eines Museums zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers erst in den Jahren 2003–2006 vor.[11] Thomas Lutz gelang es daraufhin, auch die Mitglieder der Arbeitskommission für die Geschichte des NS-Terrors von der Notwendigkeit zu überzeugen, gegen diesen Zeitplan zu votieren und eine zeitliche Vorverlegung der Errichtung des Speziallagermuseums zu fordern. Auch als daraufhin Ende der neunziger Jahre ein internationaler Wettbewerb stattfand, als dessen Ergebnis der preisgekrönte Entwurf des Frankfurter Büros Schneider und Schumacher ausgewählt wurde, gelang es dem Beiratsvorsitzenden, beide Arbeitskommissionen auf einer gemeinsamen Tagung in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück für die von der Stiftungsleitung vorgeschlagene Realisierung dieses an der Nordspitze des Lagerdreiecks geplanten und mit original erhaltenen, in der KZ-Zeit gebauten Steinbaracken verbundenen Neubaus zu gewinnen. Beide Beiratskommissionen sprachen sich zugleich ohne Gegenstimmen für die von der Gedenkstättenleitung vorgelegte Ausstellungskonzeption aus.[12]

Natürlich war das Vermittlungsgeschick des Beiratsvorsitzenden, der zugleich auch die Tagungen der Arbeitskommission zur Geschichte der NS-Verfolgung leitete, auch in der Vermittlung anderer Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlicher Sichtweisen gefragt, die nicht mit dieser sicherlich schwierigsten Problemlage der Stiftungspolitik in Brandenburg zusammenhängen. Einige weitere Beispiele finden sich im Artikel von Peter Fischer in der vorliegenden Publikation. Da hier leider nicht der Platz ist, dieses vielfältige und zumeist erfolgreiche Wirken des Beiratsvorsitzenden näher auszuführen, will ich nur kurz darauf verweisen, dass es vor allem auch dem Vorsitzenden zu verdanken ist, wenn der Präsident des Internationalen Sachsenhausenkomitees Pierre Gouffault im Zuge der Wiederwahl von Thomas Lutz im Juni 1998 im Rahmen einer bewegenden persönlichen Erklärung das „kooperative Arbeitsklima in der Beiratskommission“ würdigte.[13] Für das wachsende Vertrauen der Überlebenden von KZ und Gefängnishaft in die Erinnerungskultur Deutschlands im Allgemeinen und die Einrichtungen der Brandenburgischen Gedenkstättenstiftung im Besonderen trugen zu einem wichtigen Teil sicherlich auch die großen Veranstaltungen zu den runden Jahrestagen der Befreiung bei, zu denen zahlreiche Überlebende kamen. Insbesondere 1995, zum 50. Jahrestag der Befreiung, kamen auf Einladung der Landes- und Bundesregierungen sowie der Stiftung insgesamt ca. 3.400 Überlebende teilweise erstmals an die Orte der Verbrechen und ihrer Leiden zurück. In seiner Bilanz des Verlaufs der Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der Befreiung schrieb Thomas Lutz: „Die Durchführung des 50. Jahrestages mit zahlreichen Begleitveranstaltungen war ein Erfolg: Für die Überlebenden, die häufig zum zweiten Mal – diesmal eingeladen und freiwillig – nach Deutschland gekommen sind, war dies sowohl eine große gesellschaftliche Anerkennung als auch eine Möglichkeit, sich persönlich mit ihrem Schicksal auseinanderzusetzen. Diese humanitäre Leistung von deutscher Seite wurde in der ganzen Welt sehr dankbar angenommen.“[14]

Seine bereits im Titel des Beitrags, „Ende eines Gedenkjahres – Was bleibt?“, zugleich ausgesprochenen Bedenken und Befürchtungen hinsichtlich der Gefahren einer selbstzufriedenen Erinnerungskultur in Deutschland verstärkten sich in den Jahren danach eher. Trotzdem lobte Thomas Lutz auch zehn Jahre später die umfangreiche Weiterentwicklung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, „der von den Häftlings- und Betroffenenorganisationen große Anerkennung und hoher Respekt entgegen gebracht wird.“[15] Mit Sorge betrachtete er die auch wegen des politischen Erfolgs nicht nur in Brandenburg zunehmende Tendenz, das fast idealtypische Konstrukt einer inhaltlich unabhängigen Gedenkstättenstiftung, wie es in Brandenburg entwickelt worden war, zu verändern. Als Beiratsvorsitzender war Thomas Lutz der gewählte Repräsentant der Zivilgesellschaft, die zusammen mit den Vertretern einer unabhängigen Wissenschaft die Stiftungs- und Gedenkstättenleitungen in allen inhaltlichen Fragen beraten. Das dadurch institutionalisierte Subsidiaritätsprinzip beschränkte somit die Entscheidungen der politischen Exekutive hauptsächlich auf grundsätzliche Beschlüsse über Fragen der Stiftungsorganisation und des Haushaltes. Spätestens nach dem 60. Jahrestag der Befreiung aber häuften sich die Vorstöße, die darauf abzielten, die bereits in der Expertenkommission zugrunde gelegten Prinzipien der Einrichtungsverordnung der Stiftung zu ändern. Diese zielten zum einen auf eine Erweiterung der inhaltlichen Zuständigkeit der Stiftung im Hinblick auf die Nachkriegsgeschichte mit dem Ziel einer äquivalenten Bewertung der historischen Phasen. Zum zweiten sollte die Bedeutung der Beratungsgremien geschwächt und im Gegenzug die Entscheidungen der Exekutive im Sinne einer größeren inhaltlichen Kompetenz des Stiftungsrates verstärkt werden. Schließlich gab es zum dritten Überlegungen, die Kompetenzen des Stiftungsvorstandes und der Gedenkstättenleitungen mit der Begründung der Einführung eines „Kollegialprinzips“ zugunsten der Verwaltungsleitung abzuschwächen. Ähnliche „Reformvorschläge“, denen Gutachten von privaten Beratungsfirmen und dem Bundesverwaltungsamt zugrunde lagen, wie zum Beispiel die Befristung der Zeitverträge von Leitungspositionen in den Gedenkstätten, wurden auch in anderen Einrichtungen der Erinnerungskultur betrieben und teilweise durchgesetzt, entsprachen sie doch darüber hinaus dem damaligen neoliberalen Zeitgeist. Parteipolitische Unterschiede waren daher nicht ausschlaggebend, auch wenn die Initiative in Brandenburg von einer konservativen Kulturministerin ausgegangen war.

In dieser mehrjährigen, schwierigen und politisch brisanten Auseinandersetzung konnte sich der Stiftungsvorstand uneingeschränkt auf die Unterstützung des Internationalen Beirats, vertreten vor allem durch seinen Vorsitzenden Thomas Lutz, die Generalsekretärin des Internationalen Sachsenhausenkomitees Sonja Reichert und die Vertreter des Zentralrats der Juden, Stefan Kramer und Peter Fischer, verlassen. Dabei bemühte sich der Beiratsvorsitzende stets um eine enge Abstimmung sowohl mit dem Vorstand als auch den Leitern und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Obwohl Thomas Lutz immer dazu bereit war, Erfahrungen, Erfolge ebenso wie Misserfolge, mit allen Beteiligten, auch der politischen Exekutive, ergebnisoffen zu diskutieren, vermochte er keinen Grund zu erkennen, warum die 1992 erstmals von ihm mitformulierten und 1993 in der Einrichtungsverordnung der Gedenkstättenstiftung formulierten Grundsätze und Ordnungsprinzipien abgeschafft oder verändert werden sollten. Es ist mir daher ein Bedürfnis und eine große Freude, Thomas Lutz für diese feste Beharrlichkeit und große Unterstützung im Prozess der Umgestaltung, Modernisierung und  Neuorganisation der brandenburgischen Gedenkstätten zu danken. Für die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten war Thomas Lutz ein wichtiger und unverzichtbarer Garant für Kontinuität im Wandel.

Prof. Dr. Günter Morsch, Historiker und Politkwissenschaftler, war von Januar 1993 bis Juni 2018 Leiter von Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen und seit 1997 auch Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.


[1] Die 1. Fassung ist abgedruckt in: Jahresbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für die Jahre 1993 bis 1995, S. 106ff. Sie wurde mehrfach, allerdings ohne entscheidende Veränderungen novelliert.

[2] Das Gesetz ist abgedruckt in: https://www.gedenkstaetten-hamburg.de/fileadmin/shgul/Stiftung/2019.11.08_HmbGVBl__Nr._41_HmbGedenkStG-1.PDF.

[3] Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) Empfehlungen zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten. Januar 1992, Berlin August 1992.

[4] Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Brandenburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes. Perspektiven, Kontroversen und internationale Vergleiche. Beiträge des internationalen Gedenkstätten-Colloquiums in Potsdam am 8. und 9. März 1992, Berlin 1992, S. 191f.

[5] Ebenda.

[6] Entschließung zum europäischen und internationalen Schutz der Stätten der von den Nationalsozialisten errichteten Konzentrationslager als historische Mahnmale vom 11.02.1993, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft vom 15.03.1993, Nr. C 72/118ff.

[7] Gerhart Finn, Sachsenhausen 1936–1950. Geschichte eines Lagers, Bad Münstereifel 1988.

[8] „Die NS-Verbrechen dürfen weder durch die Verbrechen des Stalinismus relativiert, noch die Verbrechen des Stalinismus mit Hinweis auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden.“ In:  B. Faulenbach, Einleitung, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur (Hrsg.), Perspektiven, Kontroversen, S. 17.

[9] Während das vormalige „Schutzhaftlager“ des KZ von der sowjetischen Lagerverwaltung als Zone I für die Unterbringung von Internierten nach dem Potsdamer Abkommen benutzt wurde, befanden sich in dem nordöstlich anschließenden Areal des ehemaligen KZ-Sonderlagers, das als Zone II bezeichnet wurde, die von Sowjetischen Militärtribunalen Verurteilten. Günter Morsch, Ines Reich (Hrsg.), Sowjetisches Speziallager Nr. 7/Nr. 1 in Sachsenhausen (1945–1950), Berlin 2005 (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 14).

[10] Günter Morsch, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen. Von der Baugeschichte zum dezentralen Gesamtkonzept, von der Zielplanung zur Realisierung. Stationen und Umwege eines geradlinigen Entwicklungskonzepts, in: Günter Morsch/Horst Seferens (Hrsg.): Gestaltete Erinnerung. 25. Jahre Bauen in der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 1993–2018. Eine Dokumentation, Berlin 2020, S. 45ff.

[11] Günter Morsch, Gestaltete Erinnerung. 25 Jahre Bauen, in: ebenda, S. 37. Zwischen 1993 und 2018 verauslagte die Stiftung für Baumaßnahmen insgesamt 73,2 Millionen Euro.

[12] Jahresbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für das Jahr 1999, S. 82f. Das hinderte aber leider die im Beirat durch ihre Vorsitzende vertretene AG Lager Sachsenhausen 1945–50 nicht, am Tag der Eröffnung des Speziallagermuseums am 9.12.2001 gegen Konzept, Lage und Ausgestaltung des Museums öffentlich zu protestieren.

[13] Jahresbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für das Jahr 1998, S. 62.

[14] T. Lutz, Ende eines Gedenkjahres – Was bleibt? Thesen zur aktuellen und zukünftigen gesellschaftspolitischen Bedeutung und inhaltlichen Arbeit der KZ-Gedenkstätten, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg (Hrsg.), Erinnerung und Begegnung. Gedenken im Land Brandenburg zum 50. Jahrestag der Befreiung, Potsdam 1996, S. 56ff, hier S. 57.

[15] Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (Hrsg.), 60. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge aus den Konzentrationslagerns Sachsenhausen und Ravensbrück sowie aus dem Zuchthaus Brandenburg, Oranienburg 2005, S. 59.

Menschen im Fadenkreuz des rechten Terrors. Vortrag auf der Landesstrategiekonferenz Politisch motivierte Kriminalität 5. November 2021

Pressestelle.PP@polizei.Brandenburg.de

Pressemeldung Nr. 29/2021 vom 5.11.2021

„G. Morsch/H. Seferens (Hrsg.), Gestaltete Erinnerung. 25 Jahre Bauen in der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 1993-2018“. Rezension von Matthias Richter, in: Märkische Allgemeine Zeitung, 21. Januar 2021, S. 10

25 Jahre Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Begrüssung der Gäste anlässlich des Festempfangs des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und der Stiftung Brandenburgische Gedenksätten am 18. April 2018 in der Staatskanzlei

Günter Morsch

25 JAHRE STIFTUNG BRANDENBURGISCHE GEDENKSTÄTTEN

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Dr. Woidke,

sehr geehrter Herr Landtagsvizepräsident Dombrowski,

Sehr geehrte Überlebende der Konzentrationslager des sowjetischen Speziallagers sowie der Gefängnisse

sehr geehrte Mitglieder der Landesregierung und des brandenburgischen Landtages,

sehr geehrte Mitglieder der drei Gremien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der verschiedenen Opfer- und Interessenverbände

Exzellenzen, Vertreter ausländischer Staaten,

Sehr geehrte Frau Bering,

Lieber Herr Faulenbach,

lieber Herr Lutz,

lieber Herr Beattie

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

 

im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten möchte auch ich Sie zunächst ganz herzlich zu unserem Festakt aus Anlass unseres fünfundzwanzigsten Geburtstages begrüßen. Im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung bedanke ich mich bei der Landesregierung, insbesondere bei Herrn Ministerpräsidenten Dr. Woidke, für die Ehre, die der Gedenkstättenstiftung mit diesem Festakt hier in der Staatskanzlei erwiesen wird.

 

Am 9. November 2010 fand im ehemaligen Erschießungsgraben des Konzentrationslagers Sachsenhausen die seit vielen Jahren regelmäßig stattfindende Gedenkveranstaltung für die Opfer einer Massenmordaktion an mindestens 33 polnischen Häftlingen statt. Mühselig und im Rollstuhl sitzend war der damals 95-jährige Sachsenhausen-Überlebende Karl Stenzel aus seinem Altersitz in Groß-Köris nach Sachsenhausen gekommen, um seiner polnischen Kameraden zu gedenken. Seine letzte Rede in der Gedenkstätte, für die er über Jahrzehnte als Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausen-Komitees gekämpft und sich eingesetzt hatte, war für uns alle, die wir ihm zuhörten, bestürzend. „Wir, die ehemaligen KZ-Häftlinge, wir haben versagt, so sagte er fast flüsternd. „Wir haben geglaubt, die Welt würde aus unserer Erfahrung lernen, sie würde besser werden, keine Völkermorde mehr, kein Rassismus und Antisemitismus, kein Nationalismus,  kein Krieg mehr, so haben wir in unseren unterschiedlichen Erklärungen nach der Befreiung aus den Lagern gefordert. Doch was“, so fragte Karl Stenzel weiter, hat die Welt aus unseren Erfahrungen gemacht?“

Der ehemalige deutsche Kommunist, der in den neunziger Jahren ganz entscheidend an der Neugestaltung der brandenburgischen Gedenkstätten  konstruktiv mitgewirkt und sie voran getrieben hat, steht mit dieser Feststellung im Kreise auch seiner internationalen Kameradinnen und Kameraden nicht allein.  In dem 2009 von den Präsidenten der verschiedenen Häftlingskomitees, unter ihnen die im internationalen Beirat der Stiftung Brandenburgische Gedenkstäten vertretenen Präsidenten von Ravensbrück und Sachsenhausen, Dr. Annette Chalut und Pierre Gouffault, verfassten das, wie sie es nannten,  „Vermächtnis der Überlebenden“ und übergaben es in zahlreichen Veranstaltungen verschiedenen namhaften staatlichen Repräsentanten . Darin  heißt es in ganz ähnlicher Weise: „Nach unserer Befreiung schworen wir eine neue Welt des Friedens und der Freiheit aufzubauen. Wir haben uns engagiert, um eine Wiederkehr dieser unvergleichlichen Verbrechen zu verhindern. Zeitlebens haben wir Zeugnis abgelegt, zeitlebens waren wir darum bemüht, junge Menschen über unsere Erlebnisse und unsere Erfahrungen und deren Ursachen zu informieren. Gerade deshalb schmerzt und empört es uns sehr, heute feststellen zu müssen: Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt.“

Einige von Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, mögen diese uns in tiefe Zweifel stürzende  Zitate der Zeitzeugen des Terrors und der Kriege als unpassend für den heutigen Anlass empfinden. Doch angesichts der gerade im Moment zunehmenden antisemitischen und rassistischen Übergriffe, der Wiederkehr nationalistischer Bewegungen, der zunehmenden Flut aggressiver, die Opfer der Diktaturen beleidigender Äußerungen,  angesichts der selbst im Deutschen Bundestag zu hörenden Stellungnahmen von anscheinend ohne jegliches kritisches historische Bewusstsein und jegliche  Sensibilität  rücksichtslos nach Einfluss und Macht strebenden rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen sowie angesichts des am Horizont drohenden Zerfalls der Europäischen Union und der Zunahme von Konflikten zwischen den europäischen Nachbarn müssen wir uns  gerade an einem solchen Tag, an dem wir auf die vergangenen Erfolge zurück blicken wollen, auch den neuen Herausforderungen der Gegenwart stellen. Dabei kommen wir nicht umhin, feststellen zu müssen:  Die wirkliche Probe auf die Festigkeit und Nachhaltigkeit der Erinnerungskultur in Deutschland und in Europa, sie scheint erst jetzt zu kommen!

Jetzt – da die ständigen Weckrufe und Mahnungen, die zumeist mit großer menschlicher  Wärme und Überzeugungskraft vorgetragenen Erlebnisse und Erfahrungen der Zeitzeugen weitgehend verstummt sind und zu verblassen scheinen.

Jetzt – da die allermeisten Nachbarn Deutschlands, die zweimal im Laufe des vorigen Jahrhunderts unter der aggressiven Kriegspolitik des Deutschen Reiches leiden mussten,  der vereinten Bundesrepublik des Grundgesetzes nicht zuletzt aufgrund ihrer offenen und breit entwickelten, fest in der Zivilgesellschaft verankerten, staatlich unterstützten neuen Erinnerungskultur vertrauen.

Jetzt – da die meisten Angehörigen der Opfer in ihrer Trauer einen mitfühlenden Widerhall und ein sympathetisches Verständnis bei vielen Menschen in Deutschland vorfinden und

Jetzt – da die meisten Verbände der verschiedenen Opfergruppen, die über Jahrzehnte  immer wieder an das Gewissen der Deutschen appellierten und gegen Verdrängungsprozesse ankämpften entweder sich aufzulösen beginnen oder aber angesichts ihrer begrenzten Kraft  den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf neue Herausforderungen legen müssen.

 

Ich bin allerdings fest davon überzeugt, sehr geehrte Anwesende, dass die vor 25 Jahren in der Einrichtungsverordnung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten einschließlich ihrer 1997 und 2016 vorgenommenen Novellierungen festgeschriebenen Grundsätze eine nach wie vor sichere Grundlage und Basis bieten, um diesen neuen Herausforderungen stand zu halten und Antworten darauf zu finden. Welche sind dies?

  1. Im Zentrum der Erinnerungskultur in Brandenburg stehen die historischen, bzw. die authentischen Orte der Verbrechen. Sie zu erhalten und zu bewahren, sollte oberste Aufgabe bleiben, auch wenn das angesichts der zahlreichen baulichen Zeugnisse bedeutet, eine nicht geringe Finanzierung auf Dauer sicher zu stellen, damit sowohl die Denkmale aus der Zeit als auch die Denkmale an die Zeit auch künftigen Generationen erhalten bleiben.
  2. In den historischen Orten fokussiert sich die Erinnerung; sie geht von ihnen aus. Ihre Kraft darf nicht durch Verwaltungsreformen oder andere in Zeiten von Zentralisierungen und vermeintlich Synergien bündelnden Maßnahmen geschwächt, sondern muss  im Gegenteil weiter gestärkt werden.
  3. Gedenkstätten können nur als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben in einer stark von den neuen Medien bestimmten Gesellschaft Wirkung und Nachhaltigkeit erzielen und sich behaupten. Ihre feste Verankerung in der Wissenschaft, die Aufarbeitung und Ergänzung ihrer Sammlungen, die stets den sich ändernden Fragen an die Geschichte sich öffnenden Dauer-, Sonder- und Wechselausstellungen sowie Veröffentlichungen aller Art, aber vor allem auch eine offene, moderner Didaktik gegenüber aufgeschlossene, vor allem aber personell und finanziell besser als bisher ausgestatte pädagogische Arbeit, bleiben unverzichtbare fundamentale Aufgaben der Gedenkstätten.
  4. Die Gedenkstättenstiftungen müssen auch weiterhin in Deutschland, wo es auch auf absehbare Zeit keine starke etablierte und tradierte private Kulturförderung gibt, öffentlich rechtlich verfasst bleiben. Umso wichtiger ist es, dass Staat und Politik die inhaltliche Autonomie der Gedenkstätten und der Stiftung achten und bewahren. Gerade auf dem Hintergrund der in den neuen Bundesländern noch stark  nachwirkenden Erfahrungen des staatlich instrumentalisierten Antifaschismus muss den offenbar gegenwärtig  wachsenden Versuchungen widerstanden werden, auf die inhaltliche Ausrichtung der Gedenkstätten administrativ Einfluss zu nehmen oder gar sie zu bestimmen.
  5. Staatliche Verwaltungen, Parteien und Verbände sind aber aufgefordert, sich am möglichst pluralistischen Diskurs über Ziele und Inhalte zu beteiligen. Dabei müssen neue Wege gefunden werden, um auch in der Zukunft die Beteiligung einer internationalen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft an der Fortentwicklung der Gedenkstätten sicher zu stellen. Denn in Below und in Brandenburg an der Havel, in der Potsdamer Leistikowstraße ebenso wie in Lieberose, in Ravensbrück ebenso wie in Sachsenhausen bündelt sich nicht allein deutsche, sondern europäische Vorkriegs- Kriegs- und Nachkriegsgeschichte.

 

Die heutige Festveranstaltung bietet der Stiftung auch eine gern genutzte  Gelegenheit, um unseren aufrichtigen Dank an alle die Stiftung in vielfältigen Formen helfenden, unterstützenden und tragenden Einrichtungen sowie Personen zum Ausdruck zu bringen. Lassen Sie mich im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung daher zum Schluss meiner Ausführungen, Ihnen allen versichern, wie sehr wir die Unterstützung und Hilfe, die wir von vielen Seiten erhalten, schätzen und anerkennen. Vor fünf Jahren, aus Anlass des zwanzigsten Geburtstages unserer Stiftung, habe ich versucht, nahezu alle Institutionen, Organisationen und Personen namentlich zu nennen, denen wir diesen Dank schulden. Die dazu gemachten Ausführungen füllten mehr als zwei Seiten meines Manuskripts. Trotzdem bin ich an dieser gerne übernommenen Aufgabe gescheitert, wie spätere Beschwerden zeigten.  Daher bitte ich um Verständnis, wenn ich heute Ihnen allen ganz herzlich danken möchte, ohne erneut peinliche und unbeabsichtigte Versäumnisse zu riskieren. Der Dank kommt trotzdem von ganzem Herzen. Eine Ausnahme will ich trotzdem machen:  Mein letzter Satz  soll den ihre Haft überlebenden Opfern von Holocaust und KZ-Verbrechen, von Gefängnis- und Speziallager-Haft  gelten. Ihnen schulden wir vor allem deshalb Dank, weil sie trotz des ihnen angetanen Leids und Unrechts uns allen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenso wie den Leiterinnen und Leitern der Gedenkstätten sowie dem Vorstand und Direktor der Stiftung stets eine nicht zu ersetzende, moralische Stütze waren und sind.

Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, Ausstellungseröffnung 21. Juni 2016

ERÖFFNUNG DER Sonderausstellung „Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1945“
Der Ständigen Konferenz der Leiter NS-Gedenkorte im Berliner Raum
21. Juni 2016
Begrüßung: Staatsministerin Frau Prof. Grütters,
Exzellenz, Herr Botschafter Grinin,
Damen und Herren,
Kolleginnen und Kollegen

STäKO: HdW, GuMS, Denkmal Juden, GdW, Topographie,

Verweis auf Ausstellung zum 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges mit Überfall auf Polen 2014 auf Pariser Platz, große Aufmerksamkeit

Der Krieg gegen die Sowjetunion, der vor 75 Jahren begann, war ein rassistisch, antislawisch und antisemitisch motivierter Weltanschauungs-, Vernichtungs- und Eroberungskrieg. Brutalität und Grausamkeit, mit der Vernichtungskrieg und Völkermord durchgeführt wurden, waren und sind beispiellos. Die Einzelheiten und Details entziehen sich fast jeder Vorstellung. Sie lassen selbst den Historiker, der mit den Quellen, den amtlichen Dokumenten ebenso wie mit den Berichten der Zeitzeugen, vertraut ist, immer wieder erschaudern. Die Wurzeln von Vernichtungskrieg und Völkermord lassen sich mindestens bis in die ersten Jahre der Weimarer Republik zurückverfolgen. Ihre große Breitenwirkung, die nicht nur fanatische Nationalsozialisten, sondern auch die Träger von Wehrmacht, Staat und Wirtschaft sowie zweifellos auch einen Großteil der deutschen Soldaten erfasste, lässt sich gerade aus dem Zusammenwirkung der in ihren Anfängen unterschiedlichen Ursachen erklären. Das furchtbare, spätestens nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 immer wieder durch die Propaganda eingeübte Amalgam von Antislawismus, Antisemitismus, Antibolschewismus und imperialen Eroberungs- und Herrschaftsplänen lieferte für jede Gruppe, jede Institution und jede Organisation des „Dritten Reiches“ die den jeweiligen entweder lange tradierten oder neu erzeugten Feindbildern gemäße Rechtfertigung zum geplanten Massenmord an Millionen von Menschen.
Für Hitler und die allermeisten seiner Anhänger, aber auch für einen Großteil der deutschnationalen Eliten in Staat, Wirtschaft und Wehrmacht galt schon lange das Dogma, dass Deutschland seinen Lebensraum im Osten suchen müsse. 1933, nur vier Tage nach dem Beginn seiner Kanzlerschaft, kündigt Hitler daher vor den höchsten Offizieren der Reichswehr die rücksichtslose Germanisierung des neu zu gewinnenden Lebensraumes im Osten an. Zuvor allerdings müsse er den „Marxismus“ in Deutschland ausrotten, was den Schluss nahe legt, dass die Ausrottung des Bolschewismus darauf unmittelbar folgen soll. Zur gleichen Zeit debattiert man in führenden Wirtschaftskreisen über die angeblich unendlich großen Chancen und Möglichkeiten eines deutschen Großwirtschaftsraumes, der sich vom Baltikum über die Ukraine bis in den Kaukasus erstrecken soll. Polen ist zunächst die Rolle eines Glacis zugedacht, von dessen Boden aus der entscheidende Kampf beginnen soll. Mit dem deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag 1934 verknüpft die NS-Diktatur die Hoffnung auf eine mit mehr oder wenig Druck erreichte einvernehmliche Lösung, um den Durch- und Aufmarsch der hochgerüsteten deutschen Armeen zu ermöglichen. Im Antikominternpakt will man alle anti-bolschewistischen Kräfte sammeln, um die Sowjetunion einzukreisen. Ein „Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus“ wird proklamiert. Bekanntlich scheitern diese Pläne, obwohl Frankreich und Großbritannien Hitler im Münchener Abkommen weit entgegen kommen. Deutschland vollzieht mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt eine taktische Kehrtwende, die alle Gegner Hitlers, sowohl im deutschen Widerstand als auch im Ausland, in tiefe Ratlosigkeit und Resignation stürzt.
Die Spitzen des NS-Regimes sind sich jedoch darin einig, dass die Realisierung ihrer Vorstellungen vom Lebensraum im Osten nur aufgeschoben und nicht aufgehoben ist. Schon im November 1939 deutet Hitler an, dass er eine große Operation gegen Rußland plane. Indes üben vor allem SS und Polizei im besetzten Polen bereits die Methoden des Vernichtungskrieges ein, vor allem polnische Intellektuelle, Militärs und Lehrer aber auch psychisch Kranke und Juden sind die Hauptopfer.

Die konkreten Vorbereitungen der Wehrmacht für den großen Ostkrieg setzen bereits im Frühsommer 1940 ein. Mit dem Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941, verfasst vom Chef des OKW Wilhelm Keitel, wird der Truppe weitgehend freie Hand bei Gewalttaten gegen Zivilisten gelassen, ein Freibrief für den Vernichtungskrieg.
Nach dem Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941, unterzeichnet von Alfred Jodl, gleichfalls OKW, sollen alle politischen Kommissare sofort hinter der Front ermordet werden. In den Bestimmungen des Befehls kommt die Vermischung von antijüdischen und antibolschwistischen Feindbildern, wie sie auch von der Wehrmacht geteilt werden, klar und deutlich zum Ausdruck. Etwa zur gleichen Zeit arbeiten Wissenschaftler der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft an gigantischen Plänen zur Besiedlung der durch Hunger, Massenmord und Vertreibungen leer gesäuberten neuen Siedlungsgebiete für deutsche Bauern und Kriegsgewinnler, von ca. 30 Millionen Opfern auf Seiten der sowjetischen Bevölkerung gehen die Wissenschaftler dabei aus. SS und Polizei bereiten sich darauf vor, im Rücken der Front eine schon in Polen eingeübte und noch zu steigernde Terrorherrschaft aufzubauen.

Die allumfassende Gewalt beginnt schon in den ersten Tagen nach dem Angriff. In Litauen verüben die Deutschen mit Unterstützung der örtlichen Bevölkerung die ersten Massaker an Juden. Schon im Sommer 1941 gehen diese vereinzelten Massaker in die Praxis der systematischen Judenvernichtung, den Holocaust, über. Zusammen mit den Juden werden, ohne dass es eines besonderen Befehls bedurft hätte, Roma sowie Kranke in psychiatrischen Anstalten und Pflegeheimen ermordet. Der Krieg gegen die SU beseitigt jegliche möglicherweise noch existierende Skrupel. Die unvergleichlichen Völkermordverbrechen beginnen zwar in der Sowjetunion, sie dehnen sich aber bald von dort auf das ganze besetzte Europa aus.
In den Kriegsgefangenlagern setzt die geplante Vernachlässigung der sowjetischen Soldaten ein mit der Folge, dass bis zum Ende des gleichen Jahres bereits etwa 1,4 Millionen Rotarmisten, das sind fast 60 Prozent aller sowjetischen Kriegsgefangenen, unter erbärmlichsten Bedingungen an Hunger und Seuchen sterben. Die dem Kommissarbefehl folgenden, vielfach willkürlichen Selektionen, die immer häufiger auch einfache Soldaten erfassen, führen auch schon im Juli zu ersten Massenmordaktionen. Am 1. September 1941, also nur 10 Wochen nach Kriegsbeginn, werden auch die reichsdeutschen Konzentrationslager zu Tatorten der Massenmorde an den sowjetischen Kriegsgefangenen. In der zentralen Verwaltung des KZ Terrors, im sogenannten T-Gebäude von Oranienburg, wird von den KZ-Kommandanten über die Tötungsmethoden an Zehntausenden Rotarmisten diskutiert. 13.000 von ihnen werden mit Hilfe einer Genickschußanlage, nur 30 Kilometer entfernt von hier im KZ Sachsenhausen innerhalb von zehn Wochen ermordet. Zur gleichen Zeit füllen sich die Massengräber, die neben den zahlreichen Stalags der Wehrmacht in der Nachbarschaft deutscher Städte und Dörfer ausgehoben werden.
Als sich im besetzten Hinterland nicht zuletzt aufgrund der großen Brutalität des Vernichtungskrieges der erste Widerstand regt, steigern sich auch die Anti-Partisanen-Aktionen zu einem massenhaften Gemetzel. Wir wissen bis heute nicht, wie viele Dörfer zusammen mit ihren Bewohnern, mit Kindern, Frauen und Männern, völlig zerstört, niedergebrannt und von der Landkarte getilgt werden. Sind es Hunderte, sind es Tausende? Vor allem in Weißrußland tobt der als Anti-Partisanenkampf verharmloste und bis in unsere Tage hinein als unvermeidliche Repressalie gerechtfertigte Vernichtungskrieg,
Gemäß den schon 1941 formulierten ausgearbeiteten Plänen, wie sie der Generalplan Ost oder der Kahlfraß- und Hungerplan von Staatssekretär Herbert Backe vorsehen, rauben die deutschen und die mit ihnen verbündeten Truppen der Bevölkerung in der SU nicht nur jegliche Lebensgrundlagen, sondern zerstören sie auch langfristig. Viele Privatbilder der Soldaten, die sie in die Heimat zurückschicken, zeigen die Männer unter den Stahlhelmen, wie sie lachend Schweine und Kühe aus den Ställen heraustreiben, wohl wissend, dass sie die Bauern und ihre Familien damit dem Hungertod überantworten. Das völlige Aushungern ganzer Städte, wie Leningrad, gehöre zum Monate zuvor kühl kalkulierten Schlacht- und Kriegsplan der Wehrmacht, wie Panzerangriffe und Luftterror. Besonders schwer betroffen von der Hungerpolitik sind u. a. die Städte in der Nordostukraine.

Nach dem Scheitern des Blitzkrieges vor Moskau im Winter 1941 erkennen die Spitzen von Staat, Wehrmacht, Partei und Wirtschaft, dass sie den Krieg nur weiter führend können, wenn sie Millionen von Zwangsarbeitern nach Deutschland verschleppen. Für viele Männer, Frauen und sogar Kinder, die die die systematischen Menschenjagden, veranstaltet u. a. von Beamten deutscher Arbeitsämter, überleben, bedeutet der Arbeitseinsatz jedoch keinesfalls, dass sich ihre Situation entscheidend verbessert. Die als Ostarbeiter stigmatisierten Menschen leben unter den Deutschen vielmehr wie Parias, erhalten kaum Nahrung und sterben auch weiterhin in großer Zahl an Misshandlungen, Hunger und Krankheiten und werden bei der geringsten Widersetzlichkeit an Ort und Stelle oder in Konzentrationslagern hingerichtet. Besonders schlimm ist z. B. die Situation der sowjetischen Kriegsgefangenen in den Kohlengruben des Ruhrgebietes, in denen Krupp und andere Unternehmer die Arbeitskräfte der Zwangsarbeiter bis zum Tod durch völlige Erschöpfung skrupellos auspressen. Das Leben eines „Russen“, wie man die vor sich hin taumelnden Skelette abfällig nennt, ist keines Aufhebens wert. So beteiligt sich nicht nur die Front, sondern auch die Heimat am Vernichtungskrieg.
Mit dem Vormarsch der Roten Armee und der sich abzeichnenden Niederlage des „Dritten Reiches“, das jetzt an allen Fronten harte militärische Abwehrkämpfe führt, sind nicht etwa die Massenmorde an den Zivilisten rückläufig, sondern sie steigern sich erneut. Die Politik der verbrannten Erde hinterlässt kein lebendiges Wesen mehr. Die Menschen werden vor den sich zurückziehenden Truppen her getrieben und, wenn sie den Rückzug behindern, ohne große Umstände getötet. Das unermessliche Ausmaß der Rückzugsverbrechen liegt weitgehend immer noch im Dunkeln. Die Sicherheitspolizei richtet eigene Sonderkommandos ein, um die über alle vorhandenen Massengräber auszuheben und die Leichen zu verbrennen.
Auch in Deutschland steigert sich die Politik der allgemeinen Lebensvernichtung immer mehr, je näher die Fronten rücken. Selbst wenn der Geschützdonner der alliierten Armeen schon zu hören ist, werden die Opfer zusammen getrieben und auf die unterschiedlichste Art und Weise grausam ermordet, so z. B. in Zuchthäusern und in den verschiedensten Lagern. Dabei fällt auf, dass neben den Juden vor allem die sogenannten Ostarbeiter als erste selektiert und getötet werden.

Es hat in Deutschland sehr lange gedauert, bis die schrecklichen Dimensionen des Vernichtungskrieges in der SU zumindest in groben Zügen anerkannt wurden. Eine Strafverfolgung fand wenn überhaupt dann ab dem Ende der fünfziger Jahre nur gegen SS- und Polizeieinheiten statt. Schon im Nürnberger Prozess hatte die Wehrmachtsführung alle Schuld auf Hitler, Himmler und seine SS-Einheiten geschoben. Trotz zahlloser Wehrmachtsverbrechen kam es vor deutschen Gerichten nur in ganz wenigen Ausnahmefällen zur Anklageerhebung gegen Offiziere und Soldaten. Die Lüge von der „sauberen Wehrmacht“ ermöglichte es vielmehr, dass jemand wie Adolf Heusinger, der für die Koordination des Anti-Partisanen-Kampfes zuständig gewesen war, zum ersten Generalinspekteur der Bundeswehr ernannt wurde. Zahlreiche Kasernen trugen noch in den achtziger und neunziger Jahren die Namen von ranghohen Wehrmachtsoffizieren, wie z. B. die in Füssen nach Generaloberst Eduard Dietl benannte Unterkunft der Bundeswehrsoldaten. Der von Hitler sehr geschätzte Wehrmachtsoffizier hatte sich aktiv an den Massenmorden im Rahmen des Kommissarbefehls beteiligt. Erst 1995 wurde die Kaserne gegen den heftigen Widerstand der Traditionsverbände umbenannt. Über viele Jahrzehnte wurden die geplanten und mit großer Grausamkeit begangenen Massenmorde und Verbrechen des Vernichtungskrieges gegen die SU entweder verharmlost oder relativiert, indem man auf die Übergriffe und Verbrechen von Soldaten der Roten Armee bei der Besetzung Deutschlands hinweist.
Zwar hat sich seit der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mitte der neunziger Jahre die Beurteilung des Vernichtungskrieges gegen die SU und insbesondere die Einschätzung der Rolle der Wehrmacht geändert, aber nach wie vor liegen die im Rahmen des Barbarossa-Feldzuges begangenen, heute hier nur in Ansätzen zu beschreibenden Verbrechen im Erinnerungsschatten, wie Bundespräsident Joachim Gauck im vorigen Jahr zurecht gesagt hat. Immer noch begegnet man nicht selten einer irritierenden Reserviertheit bei nicht wenigen Deutschen, wenn nicht sogar einer von starken Vorurteilen gegenüber Rußland geprägten Ablehnung, obwohl sich diese nur noch bei ganz wenigen Menschen mit eigenen möglicherweise schlimmem Erfahrungen begründen läßt. Daher ist es an der Zeit, nein es ist lange überfällig, dass endlich hier im Zentrum Berlins ein Gedenkort und ein Erinnerungszeichnen für die Millionen Opfer der geplanten Lebensvernichtung im Osten errichtet werden.
Hinweis auf Beschluss des Arbeitskreises I der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten auch deshalb den Schwerpunkt der Veranstaltungen in diesem Jahr auf die Erinnerung an die Millionen Opfer des Vernichtungskrieges gegen die SU zu legen. Bis Dezember werden mindestens 15 Veranstaltungen in den Berlin.-Brandenburgischen Gedenkstätten dazu stattfinden, Lesungen, Zeitzeugengespräche, Ausstellungen, Filmvorführungen und Gedenkveranstaltungen. Damit wollen die NS-Gedenkstätten die besondere Bedeutung dieses 75. Jahrestages würdigen.

Dank an:
– Kulturstaatsministerin für Finanzierung der Ausstellung
– An das Bezirksamt Mitte für die Erlaubnis die Ausstellung am Potsdamer Platz zu zeigen,
– An Frau Dagmar von Wilcken für die Gestaltung
– An Frau Breithoff, der Koordinatorin der Ausstellung

Anhörung Enquete-Kommission, Landtag Brandburg 2011

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Rede: Kontinuität im Wandel. 20 Jahre Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 26. Februar 2013

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