Garant für Kontinuität im Wandel: Thomas Lutz

Garant für Kontinuität im Wandel: Thomas Lutz als Ratgeber und Vorsitzender des Internationalen Beirats der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 1991-2018

in: 30 Jahre Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors, Gedenkstättenrundbrief Nr. 210, 7/2023, S. 64-73

Günter Morsch

Am 30. Januar 1993 gründete die Landesregierung Brandenburg auf der Grundlage eines im Potsdamer Landtag beschlossenen Gesetzes per Verordnung die „rechtsfähige Stiftung öffentlichen Rechts ‚Brandenburgische Gedenkstäten‘“(StBG).[1] Sie war die erste rechtlich selbständige Gedenkstättenstiftung der nur gut zwei Jahre zuvor vereinten Bundesrepublik Deutschland. Als Vorbild und Vorläufer kann die vom Land Berlin 1992 errichtete und von ihrem ersten Direktor Reinhard Rürup maßbeglich initiierte und konzipierte „Stiftung Topographie des Terrors“ gelten. Das am Ort der verschiedenen zentralen SS-Dienststellen zunächst provisorisch entstandene Dokumentationszentrum wurde jedoch genauso wie die kurz nach der Brandenburger Einrichtungsverordnung in Thüringen gegründete „Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora“ erst sehr viele Jahre später als rechtsfähige Stiftungen von den jeweiligen Landesregierungen in die Selbständigkeit entlassen. Die in 15 Paragraphen gegossenen maßgeblichen Grundzüge und Prinzipien der brandenburgischen „Stiftungssatzung“ haben die weitere Entwicklung der großen Gedenkstätten in den verschiedenen Bundesländern zweifellos ganz maßgeblich beeinflusst. Fast alle in den folgenden Jahren von den Ländern mit Bundesbeteiligung neu gegründeten Gedenkstättenstiftungen übernahmen zu einem großen Teil die in diesen Paragraphen niedergelegten Strukturprinzipien und Aufgabenbeschreibungen. Dabei lassen sich aus den jeweiligen Abänderungen interessante Aufschlüsse über die geschichtspolitischen Besonderheiten der einzelnen Bundesländer herauslesen. Zuletzt verabschiedete im November 2019 nach jahrelangem Zögern die Hamburger Bürgerschaft das vom Senat vorgelegte Gesetz über die „Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen“. Auch in diesem Text lassen sich leicht wichtige Grundsätze und Ordnungsregeln der brandenburgischen Stiftungsverordnung bis in einzelne Formulierungen hinein wiederfinden.[2]

Die fast drei Jahrzehnte, die seit dem Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur nach der deutschen Einheit vergangen sind, waren mit Debatten und Diskussionen, mit Aufbrüchen und Anfängen, mit Konflikten und Kämpfen sowie mit Verlusten und Veränderungen prall gefüllt. Geschichte scheint sich zeitweilig eine Atempause zu nehmen und dann beschleunigt sie sich plötzlich in einem Atem beraubenden Tempo, bei dem wir, die wir doch als Subjekte die Akteure der Zeitverläufe sind oder zumindest sein sollten, uns eher wie in einem Strudel mitgerissen fühlen. Eine solche Zeit ungeheurer Beschleunigung und Verdichtung haben auch die in der StBG zusammengeschlossenen Gedenkstätten in Brandenburg/Havel, Ravensbrück und Sachsenhausen mit ihrer Außenstelle im Belower Wald erlebt. Blickt man allerdings auf die Entwicklung dieser Jahre zurück, so erstaunt eher die Kontinuität und Beharrlichkeit, in denen die Gedenkstättenstiftung trotz ständiger neuer Herausforderungen den grundlegenden und umfassenden Wandel von den Mahn- und Gedenkstätten der DDR hin zu modernen zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben bewältigen konnte.

In solchen Zeiten stürmischen Wandels ist es neben festen Grundsätzen, vorausschauenden, nachhaltigen Konzeptionen und belastbaren Strukturen vor allem das auch über längere Phasen und Brüche hinweg beharrliche Wirken von Personen, das unter den wechselnden Umständen von Krisen und Erfolgen Kontinuität zu erreichen vermag. Ein solch wichtiger Garant für Kontinuität im Wandel war für die Einrichtungen der StBG Thomas Lutz. Schon als Mitglied der 1991 von der Brandenburgischen Landesregierung einberufenen Expertengruppe war der Gedenkstättenreferent der „Stiftung Topographie des Terrors“ an der Erarbeitung eines umfangreichen Gutachtens beteiligt. Darin ging es um nichts weniger als um Empfehlungen zur umfassenden Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten. Unter dem Vorsitz des Bochumer Historikers Bernd Faulenbauch berieten sieben Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten auf der Grundlage einer kritischen Aufarbeitung der Rolle des Antifaschismus und der Mahn- und Gedenkstätten in der DDR über die Modernisierung, Neukonzeption und Umgestaltung der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten im neu gegründeten Bundesland Brandenburg. Für die Berufung von Thomas Lutz in die Brandenburgische Expertenkommission sprach vor allem seine damals schon herausragende Kenntnis der nationalen und internationalen Gedenkstätten, das Vertrauen, das er durch seine Tätigkeit bei den Organisationen der Überlebenden erworben hatte sowie seine profunde Expertise insbesondere im Bereich der Gedenkstättenpädagogik.

Nicht als Gedenkstättenreferent, sondern als offizieller Vertreter der gerade auch im Ausland anerkannten „Aktion Sühnezeichen“ wählten die im Herbst 1993 von den Organisationen der Überlebenden und den Betroffenenverbänden delegierten fast 20 Mitglieder des Internationalen Beirates Thomas Lutz auf ihrer ersten Sitzung einstimmig zu ihrem Vorsitzenden. In dieser wichtigen Funktion trug der Vorsitzende des Internationalen Beirates, der zumeist in zwei Arbeitskommissionen tagte, die Stimmen und Voten der Überlebenden des NS-Terrors ebenso wie der Opfer der sowjetischen Geheimpolizei und der SED-Diktatur in den Stiftungsrat. Als einer von sieben voll stimmberechtigten Mitgliedern entschied der Beiratsvorsitzende in diesem Gremium über grundsätzliche Fragen der Stiftungsentwicklung, wie vor allem über Fragen des Haushaltes, der Organisation und Personalausstattung. Zusammen mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, vertreten durch seinen Präsidenten Ignatz Bubis und den Gedenkstättenreferenten Peter Fischer, und dem Vorsitzenden der Fachkommission Bernd Faulenbach sah sich der Beiratsvorsitzende nicht selten in die Rolle gedrängt, die berechtigten Anliegen der Gedenkstätten gegenüber den finanziellen und politisch motivierten Bedenken und Einwänden der Beauftragten von Land und Bund, an ihrer Spitze die jeweiligen brandenburgischen Kulturministerinnen und Kulturminister, nachdrücklich zu unterstützen. In einer Zeit, in der relativ große Finanzmittel zur Restauration und Umgestaltung der historisch-authentischen Gelände mit zahlreichen, teilweise im Verfall begriffenen denkmalgeschützten Gebäuden dringend erforderlich waren, während zugleich die kontinuierliche Schrumpfung der staatlichen Ausgaben von maßgeblichen Teilen der Politik schon aus Gründen volkswirtschaftlicher Dogmatik angestrebt wurde, galt es allerdings auch vielfältige Konfliktlagen und Konfrontationen auszuhalten und durchzustehen. Wie sehr auch die Mitglieder des Internationalen Beirates ihrem Vorsitzenden sein konsequentes Eintreten für die Belange der Opferverbände und der Gedenkstätten, seine Beharrungskraft, seine Argumentationsstärke und sein diplomatisches Geschick schätzten, lässt sich allein schon aus der regelmäßigen, alle vier Jahre vorgenommenen und einmütigen Wiederwahl von Thomas Lutz in den fast drei Jahrzehnten seit 1993 erschließen.

Dabei konnte von Zusammenhalt und Einigkeit der Opfer- und Betroffenenverbände untereinander sowie von Vertrauen in die neuen Gedenkstättenleitungen vor Beginn der Stiftungsgründung keine Rede sein. Die durch die friedliche Revolution bewirkten politischen und erinnerungskulturellen Friktionen und Konfrontationen hatten auch die Mahn- und Gedenkstätten erfasst. Deren Praxis des instrumentalisierten Antifaschismus schlug zu Recht heftige Kritik und Forderungen nach sofortigen Änderungen entgegen. Das nicht immer sensible Verhalten der 1989/90 neu eingesetzten Kulturverwaltungen sowie der kommissarischen Gedenkstättenleitungen verschärfte die Konflikte. Misstrauen auf allen Seiten machte sich breit und führte zu heftigen gegenseitigen Angriffen und Vorwürfen, die in Einzelfällen auch physisch ausgetragen wurden. Von heute aus betrachtet sollte man die damaligen erregten Proteste, die die NS-Opferverbände ebenso wie große Teile der Öffentlichkeit erfassten, vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs eines alle Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts erfassenden Systemwechsels bewerten. Denn die „Tempel des Antifaschismus“ spielten eine wichtige Rolle bei der Legitimierung der DDR-Diktatur. Trotzdem gab es in den ersten Jahren des Übergangs eine Vielzahl von verstörenden Aktivitäten, Maßnahmen, Reden und Veröffentlichungen, die nicht nur die Überlebenden des NS-Terrors teilweise in höchste Erregung oder Depression trieben. Dazu zählten zum Beispiel der sogenannte Supermarkt-Skandal in Ravensbrück, die Umbenennung von Straßen und Schulen im Umfeld der Gedenkstätten, die nach Mordopfern der Nationalsozialisten benannt waren oder die politisch motivierte Schließung von Museen und Ausstellungen. Für nicht wenige Überlebende des NS-Terrors und ihre Angehörigen verdichteten sich alle diese Anzeichen zu einem vermeintlichen „Generalangriff“ auf die Mahn- und Gedenkstätten. Als schließlich Antisemiten und Rechtsextremisten im September 1992 nach dem Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin einen Brandanschlag auf die sogenannten jüdischen Baracken in Sachsenhausen verübten und dabei nicht nur großen materiellen, sondern auch politischen Schaden anrichteten, schienen sich für viele kritische Beobachter des Prozesses der deutschen Einheit ihre Befürchtungen zu bewahrheiten. Als Folge der Vertrauenskrise zogen Überlebende und ihre Familien ihre Artefakte und Dokumente aus den Archiven der Mahn- und Gedenkstätten ab, andere kehrten den Einrichtungen ihre Rücken zu und boykottierten sogar die Veranstaltungen zu den Jahrestagen der Befreiung.

Auch die sorgfältig erarbeiteten, intensiv recherchierten und differenziert argumentierenden, relativ umfangreichen Empfehlungen der Expertenkommission zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten, in denen vermutlich Thomas Lutz vor allem die Teile zur Neukonzeption der Gedenkstättenpädagogik maßgeblich beeinflusste,[3] stießen zunächst bei einem Großteil der Verbände auf heftigen Widerspruch. Der spätere Direktor der „Stiftung Topographie des Terrors“ Andreas Nachama sprach sicherlich nicht nur für sich, als er auf dem nach der Vorlage der Empfehlungen im März 1992 veranstalteten Colloquium den Programmverantwortlichen das „Misstrauen“ aussprach. Ein Dialog mit den Verfolgtenverbänden, so führte er aus, sei überhaupt nicht angestrebt worden und die Veranstaltung habe nur „Alibicharakter“.[4] Hauptsächlich aber kritisierte er die Empfehlungen der Kommission zum Umgang mit der zweifachen Vergangenheit in Sachsenhausen, als Konzentrationslager und als sowjetisches Speziallager. Wenn man deren Vorschlägen folgen wolle, sei es besser, „alle Anlagen zu schleifen und einen Gedenkhain anzulegen.“[5] Die von Nachama und anderen Vertretern der NS-Opfer, wie der Sprecherin der VVN-BdA Rosel Vadehra-Jonas, geäußerten Befürchtungen, dass es in den Brandenburgischen Gedenkstätten, insbesondere in Sachsenhausen, zu einer undifferenzierten Vermengung der beiden historischen Phasen vor und nach 1945 und damit zu einer Relativierung der NS-Verbrechen kommen könnte, waren im Hinblick auf die allgemeine politische Entwicklung in Deutschland und in Europa nicht unbegründet. Selbst das Europa-Parlament wandte sich deshalb mit einer entsprechenden Ermahnung an die internationale Öffentlichkeit.[6] Die Empfehlungen der Expertenkommission aber richteten sich eher im Gegenteil gegen solche Tendenzen, „braune“ und „rote“ Diktaturen, wie Nationalsozialismus und SBZ/DDR gelegentlich bezeichnet wurden, gleichzusetzen.

Vertreter der kommunistischen Opferverbände reklamierten zugleich energisch eine gleichwertige Berücksichtigung ihrer Leiden. „Opfer erster“ und „zweiter Klasse“, so ihre moralisch zweifellos berechtigten Appelle, dürfe es nicht geben. Doch viele ihrer Vorstellungen zur Zukunft der brandenburgischen Gedenkstätten gingen weit darüber hinaus. Im Sinne einer Publikation des späteren Vorsitzenden der „Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft“ (UOKG) und Überlebenden des sowjetischen Speziallagers Buchenwald Gerhart Finn[7] verlangten sie ein einheitliches Museum in Sachsenhausen, in dem „unter einem Dach“ über die Geschichte zwischen 1936 und 1950 informiert werden sollte, da es nur ein Konzentrationslager gegeben hätte.

Die in den Empfehlungen der Expertenkommission ausgeführte, später nach ihrem Vorsitzenden benannte „Faulenbach-Formel“ [8] löste zwar die unterschiedlichen historischen Einschätzungen über den Charakter der sowjetischen Speziallager nicht auf, aber sie trug dazu bei, einen Boykott der neu zu gründenden Gedenkstättenstiftung durch Opferverbände zu verhindern und bot eine Plattform für Verständigung und Gespräche. Erst danach aber kamen „die Mühen der Ebenen“ und diese zu bewältigen, war neben den Vertretern der Gedenkstättenstiftung eine der Hauptaufgaben, vor allem auch von Thomas Lutz. Laut Einrichtungsverordnung nämlich vertrat der Beiratsvorsitzende alle in diesem Beratungsgremium vertretenen bis zu 20 Opfer- und Interessenverbände. Es war neben der Stiftungsleitung vor allem seine Aufgabe, mit den anfänglich in zwei getrennten Räumen am Sitz der Stiftung im ehemaligen Verwaltungsgebäude der KZ-Inspektion gegründeten und zumeist zu unterschiedlichen Zeiten zweimal jährlich tagenden Arbeitskommissionen des Beirates, die sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte vor oder nach der Befreiung vom Nationalsozialismus befassten, gemeinsame Initiativen auszuhandeln und die mühsam geknüpften Gesprächsfäden zu pflegen und zu bewahren. Anders aber als erhofft, wurde die Verständigung und Kommunikation zwischen den beiden Kommissionen nicht einfacher, als im Sommer 1994 ein neuer Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945–50“ gewählt wurde. Zumindest eine Mehrheit im Vorstand und ein großer Teil der Mitglieder trat danach immer offener für revisionistische Positionen ein, lud Rechtsextremisten als Redner zu ihren Veranstaltungen ein und rief zu einer Gedenkveranstaltung für den Kindermassenmörder und T4-Gutachter Professor Hans Heinze auf.

Da Thomas Lutz allerdings zumindest im Stiftungsrat die Gesamtinteressen des Beirates zu vertreten hatte, war dies ein schwieriger Balanceakt, den er jedoch aufgrund seiner herausragenden dialogischen Kommunikationsstärke zumeist mit großem Erfolg bewältigte. Dabei kam ihm zu Hilfe, dass die vier aufeinander folgenden Vorsitzenden der Arbeitskommission zur Geschichte der Speziallager und der kommunistischen Verfolgung, Ulf Müller, Horst Jänichen, Kurt Noak und Hans-Joachim Schmidtchen, die als nicht stimmberechtigte Mitglieder an den Beratungen des Stiftungsrates teilnahmen, sich gleichfalls um eine Verständigung bemühten. Die vier Verfolgten der sowjetischen Geheimpolizei und der DDR-Diktatur, die in den Gefängnissen Bautzen und Hohenschönhausen sowie in den sowjetischen Speziallagern Sachsenhausen und Jamlitz gelitten hatten, bemühten sich gemeinsam mit Thomas Lutz darum, zu den im Beirat vertretenen NS-Opferorganisationen Brücken zu schlagen und vereinzelt auch persönliche Freundschaften zu knüpfen. Durch das bald schon aufgebaute Vertrauensverhältnis zwischen ihnen gelang es zwar nicht, die grundlegenden Differenzen und Meinungsunterschiede abzubauen. Trotzdem konnte Thomas Lutz alle Beiratsmitglieder davon überzeugen und dabei durchsetzen, dass wichtige Grundsatzentscheidungen der Gedenkstättenstiftung an bestimmten Wegmarken teils in gemeinsamen Beratungen oder zumindest in Übereinstimmung getroffen wurden. Übereinstimmung konnte dabei zum Beispiel in der Frage des für die Umgestaltung der Gedenkstätte Sachsenhausen grundlegenden dezentralen Gesamtkonzeptes erzielt werden. Der schon Ende 1994 den Stiftungsgremien vorgelegte und einstimmig angenommene Plan beendete den ursprünglichen Streit um die Frage eines alle historischen Phasen umfassenden Museums, indem er vorschlug, mehrere kleine Ausstellungen an bestimmten historischen Schauplätzen des historischen Areals einzurichten und sie mit der konkreten Geschichte des jeweiligen Ortes zu verknüpfen. Das große Museum zur Geschichte der Speziallager sollte demnach, einen Vorschlag der Expertenkommission aufgreifend, an der Schnittstelle zwischen den beiden Lagerzonen I und II des sowjetischen Speziallagers errichtet werden.[9] Zugleich aber enthalten alle dezentralen Ausstellungen einen einleitenden Teil, in dem alle historischen Phasen zwischen 1936 und 1989 kurz dargestellt werden. Auch der aus dem inhaltlichen und gestalterischen dezentralen Gesamtkonzept folgenden baulichen Zielplanung stimmten in einer gemeinsamen Beiratssitzung 1996 alle Mitglieder beider Kommissionen zu.[10]

Auf der Grundlage pauschaler Kostenschätzungen über die notwendigen Finanzmittel zur Restauration, zum Erhalt und zum Umbau der historischen Orte in Brandenburg/Havel, Ravensbrück und Sachsenhausen verlangten die Mittelgeber die Aufstellung eines für zehn Jahre gültigen Rahmeninvestitionsplans. Dieser sah innerhalb eines Gesamtrahmens von maximal 30 Millionen DM den Neubau eines Museums zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers erst in den Jahren 2003–2006 vor.[11] Thomas Lutz gelang es daraufhin, auch die Mitglieder der Arbeitskommission für die Geschichte des NS-Terrors von der Notwendigkeit zu überzeugen, gegen diesen Zeitplan zu votieren und eine zeitliche Vorverlegung der Errichtung des Speziallagermuseums zu fordern. Auch als daraufhin Ende der neunziger Jahre ein internationaler Wettbewerb stattfand, als dessen Ergebnis der preisgekrönte Entwurf des Frankfurter Büros Schneider und Schumacher ausgewählt wurde, gelang es dem Beiratsvorsitzenden, beide Arbeitskommissionen auf einer gemeinsamen Tagung in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück für die von der Stiftungsleitung vorgeschlagene Realisierung dieses an der Nordspitze des Lagerdreiecks geplanten und mit original erhaltenen, in der KZ-Zeit gebauten Steinbaracken verbundenen Neubaus zu gewinnen. Beide Beiratskommissionen sprachen sich zugleich ohne Gegenstimmen für die von der Gedenkstättenleitung vorgelegte Ausstellungskonzeption aus.[12]

Natürlich war das Vermittlungsgeschick des Beiratsvorsitzenden, der zugleich auch die Tagungen der Arbeitskommission zur Geschichte der NS-Verfolgung leitete, auch in der Vermittlung anderer Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlicher Sichtweisen gefragt, die nicht mit dieser sicherlich schwierigsten Problemlage der Stiftungspolitik in Brandenburg zusammenhängen. Einige weitere Beispiele finden sich im Artikel von Peter Fischer in der vorliegenden Publikation. Da hier leider nicht der Platz ist, dieses vielfältige und zumeist erfolgreiche Wirken des Beiratsvorsitzenden näher auszuführen, will ich nur kurz darauf verweisen, dass es vor allem auch dem Vorsitzenden zu verdanken ist, wenn der Präsident des Internationalen Sachsenhausenkomitees Pierre Gouffault im Zuge der Wiederwahl von Thomas Lutz im Juni 1998 im Rahmen einer bewegenden persönlichen Erklärung das „kooperative Arbeitsklima in der Beiratskommission“ würdigte.[13] Für das wachsende Vertrauen der Überlebenden von KZ und Gefängnishaft in die Erinnerungskultur Deutschlands im Allgemeinen und die Einrichtungen der Brandenburgischen Gedenkstättenstiftung im Besonderen trugen zu einem wichtigen Teil sicherlich auch die großen Veranstaltungen zu den runden Jahrestagen der Befreiung bei, zu denen zahlreiche Überlebende kamen. Insbesondere 1995, zum 50. Jahrestag der Befreiung, kamen auf Einladung der Landes- und Bundesregierungen sowie der Stiftung insgesamt ca. 3.400 Überlebende teilweise erstmals an die Orte der Verbrechen und ihrer Leiden zurück. In seiner Bilanz des Verlaufs der Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der Befreiung schrieb Thomas Lutz: „Die Durchführung des 50. Jahrestages mit zahlreichen Begleitveranstaltungen war ein Erfolg: Für die Überlebenden, die häufig zum zweiten Mal – diesmal eingeladen und freiwillig – nach Deutschland gekommen sind, war dies sowohl eine große gesellschaftliche Anerkennung als auch eine Möglichkeit, sich persönlich mit ihrem Schicksal auseinanderzusetzen. Diese humanitäre Leistung von deutscher Seite wurde in der ganzen Welt sehr dankbar angenommen.“[14]

Seine bereits im Titel des Beitrags, „Ende eines Gedenkjahres – Was bleibt?“, zugleich ausgesprochenen Bedenken und Befürchtungen hinsichtlich der Gefahren einer selbstzufriedenen Erinnerungskultur in Deutschland verstärkten sich in den Jahren danach eher. Trotzdem lobte Thomas Lutz auch zehn Jahre später die umfangreiche Weiterentwicklung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, „der von den Häftlings- und Betroffenenorganisationen große Anerkennung und hoher Respekt entgegen gebracht wird.“[15] Mit Sorge betrachtete er die auch wegen des politischen Erfolgs nicht nur in Brandenburg zunehmende Tendenz, das fast idealtypische Konstrukt einer inhaltlich unabhängigen Gedenkstättenstiftung, wie es in Brandenburg entwickelt worden war, zu verändern. Als Beiratsvorsitzender war Thomas Lutz der gewählte Repräsentant der Zivilgesellschaft, die zusammen mit den Vertretern einer unabhängigen Wissenschaft die Stiftungs- und Gedenkstättenleitungen in allen inhaltlichen Fragen beraten. Das dadurch institutionalisierte Subsidiaritätsprinzip beschränkte somit die Entscheidungen der politischen Exekutive hauptsächlich auf grundsätzliche Beschlüsse über Fragen der Stiftungsorganisation und des Haushaltes. Spätestens nach dem 60. Jahrestag der Befreiung aber häuften sich die Vorstöße, die darauf abzielten, die bereits in der Expertenkommission zugrunde gelegten Prinzipien der Einrichtungsverordnung der Stiftung zu ändern. Diese zielten zum einen auf eine Erweiterung der inhaltlichen Zuständigkeit der Stiftung im Hinblick auf die Nachkriegsgeschichte mit dem Ziel einer äquivalenten Bewertung der historischen Phasen. Zum zweiten sollte die Bedeutung der Beratungsgremien geschwächt und im Gegenzug die Entscheidungen der Exekutive im Sinne einer größeren inhaltlichen Kompetenz des Stiftungsrates verstärkt werden. Schließlich gab es zum dritten Überlegungen, die Kompetenzen des Stiftungsvorstandes und der Gedenkstättenleitungen mit der Begründung der Einführung eines „Kollegialprinzips“ zugunsten der Verwaltungsleitung abzuschwächen. Ähnliche „Reformvorschläge“, denen Gutachten von privaten Beratungsfirmen und dem Bundesverwaltungsamt zugrunde lagen, wie zum Beispiel die Befristung der Zeitverträge von Leitungspositionen in den Gedenkstätten, wurden auch in anderen Einrichtungen der Erinnerungskultur betrieben und teilweise durchgesetzt, entsprachen sie doch darüber hinaus dem damaligen neoliberalen Zeitgeist. Parteipolitische Unterschiede waren daher nicht ausschlaggebend, auch wenn die Initiative in Brandenburg von einer konservativen Kulturministerin ausgegangen war.

In dieser mehrjährigen, schwierigen und politisch brisanten Auseinandersetzung konnte sich der Stiftungsvorstand uneingeschränkt auf die Unterstützung des Internationalen Beirats, vertreten vor allem durch seinen Vorsitzenden Thomas Lutz, die Generalsekretärin des Internationalen Sachsenhausenkomitees Sonja Reichert und die Vertreter des Zentralrats der Juden, Stefan Kramer und Peter Fischer, verlassen. Dabei bemühte sich der Beiratsvorsitzende stets um eine enge Abstimmung sowohl mit dem Vorstand als auch den Leitern und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Obwohl Thomas Lutz immer dazu bereit war, Erfahrungen, Erfolge ebenso wie Misserfolge, mit allen Beteiligten, auch der politischen Exekutive, ergebnisoffen zu diskutieren, vermochte er keinen Grund zu erkennen, warum die 1992 erstmals von ihm mitformulierten und 1993 in der Einrichtungsverordnung der Gedenkstättenstiftung formulierten Grundsätze und Ordnungsprinzipien abgeschafft oder verändert werden sollten. Es ist mir daher ein Bedürfnis und eine große Freude, Thomas Lutz für diese feste Beharrlichkeit und große Unterstützung im Prozess der Umgestaltung, Modernisierung und  Neuorganisation der brandenburgischen Gedenkstätten zu danken. Für die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten war Thomas Lutz ein wichtiger und unverzichtbarer Garant für Kontinuität im Wandel.

Prof. Dr. Günter Morsch, Historiker und Politkwissenschaftler, war von Januar 1993 bis Juni 2018 Leiter von Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen und seit 1997 auch Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.


[1] Die 1. Fassung ist abgedruckt in: Jahresbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für die Jahre 1993 bis 1995, S. 106ff. Sie wurde mehrfach, allerdings ohne entscheidende Veränderungen novelliert.

[2] Das Gesetz ist abgedruckt in: https://www.gedenkstaetten-hamburg.de/fileadmin/shgul/Stiftung/2019.11.08_HmbGVBl__Nr._41_HmbGedenkStG-1.PDF.

[3] Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) Empfehlungen zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten. Januar 1992, Berlin August 1992.

[4] Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Brandenburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes. Perspektiven, Kontroversen und internationale Vergleiche. Beiträge des internationalen Gedenkstätten-Colloquiums in Potsdam am 8. und 9. März 1992, Berlin 1992, S. 191f.

[5] Ebenda.

[6] Entschließung zum europäischen und internationalen Schutz der Stätten der von den Nationalsozialisten errichteten Konzentrationslager als historische Mahnmale vom 11.02.1993, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft vom 15.03.1993, Nr. C 72/118ff.

[7] Gerhart Finn, Sachsenhausen 1936–1950. Geschichte eines Lagers, Bad Münstereifel 1988.

[8] „Die NS-Verbrechen dürfen weder durch die Verbrechen des Stalinismus relativiert, noch die Verbrechen des Stalinismus mit Hinweis auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden.“ In:  B. Faulenbach, Einleitung, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur (Hrsg.), Perspektiven, Kontroversen, S. 17.

[9] Während das vormalige „Schutzhaftlager“ des KZ von der sowjetischen Lagerverwaltung als Zone I für die Unterbringung von Internierten nach dem Potsdamer Abkommen benutzt wurde, befanden sich in dem nordöstlich anschließenden Areal des ehemaligen KZ-Sonderlagers, das als Zone II bezeichnet wurde, die von Sowjetischen Militärtribunalen Verurteilten. Günter Morsch, Ines Reich (Hrsg.), Sowjetisches Speziallager Nr. 7/Nr. 1 in Sachsenhausen (1945–1950), Berlin 2005 (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 14).

[10] Günter Morsch, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen. Von der Baugeschichte zum dezentralen Gesamtkonzept, von der Zielplanung zur Realisierung. Stationen und Umwege eines geradlinigen Entwicklungskonzepts, in: Günter Morsch/Horst Seferens (Hrsg.): Gestaltete Erinnerung. 25. Jahre Bauen in der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 1993–2018. Eine Dokumentation, Berlin 2020, S. 45ff.

[11] Günter Morsch, Gestaltete Erinnerung. 25 Jahre Bauen, in: ebenda, S. 37. Zwischen 1993 und 2018 verauslagte die Stiftung für Baumaßnahmen insgesamt 73,2 Millionen Euro.

[12] Jahresbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für das Jahr 1999, S. 82f. Das hinderte aber leider die im Beirat durch ihre Vorsitzende vertretene AG Lager Sachsenhausen 1945–50 nicht, am Tag der Eröffnung des Speziallagermuseums am 9.12.2001 gegen Konzept, Lage und Ausgestaltung des Museums öffentlich zu protestieren.

[13] Jahresbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für das Jahr 1998, S. 62.

[14] T. Lutz, Ende eines Gedenkjahres – Was bleibt? Thesen zur aktuellen und zukünftigen gesellschaftspolitischen Bedeutung und inhaltlichen Arbeit der KZ-Gedenkstätten, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg (Hrsg.), Erinnerung und Begegnung. Gedenken im Land Brandenburg zum 50. Jahrestag der Befreiung, Potsdam 1996, S. 56ff, hier S. 57.

[15] Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (Hrsg.), 60. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge aus den Konzentrationslagerns Sachsenhausen und Ravensbrück sowie aus dem Zuchthaus Brandenburg, Oranienburg 2005, S. 59.

Tag der Opfer des Nationalsozialismus 27. Januar 2018: Norwegische Häftlinge im KZ Sachsenhausen

TAG DER OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS
27. JANUAR 2018

NORWEGISCHE HÄFTLINGE IM KONZENTRATIONSLAGER SACHSENHAUSEN 1940-45

BEGRÜSSUNG UND EINFÜHRUNG
PROF. DR. GÜNTER MORSCH

„Unser Land ist von feindlichen Mächten belagert
Wir selber sind deportiert worden und gehen in Häftlingskleidung
Hier kriegen wir Schweinefutter und brennen vor Hass
Wir schmieden den Stahl für Germaniens Rüstung

Wir stehen auf dem Appellplatz im eiskalten Wind
Wir ziehen unsere Lumpen an
Die stinken wie die Pest
Wir schlafen zu zweit in einem Bett
Wir werden schwach mit allen Sklaven in unserer Buchte
Und der Tod schlägt uns oft

Es wird ein Tag kommen, und der ist nicht fern
Dann sprengen wir das Tor, obwohl es von Eisen ist
Denn hinter dem fernen Horizont und hinter dem Meer und dem Strand
Ist unser Norwegen unser wieder gewonnenes Land.“

Mit diesen drei Strophen aus dem 1943 verfassten Lagerlied der norwegischen Häftlinge möchte ich Sie alle, sehr geehrte Gäste unserer heutigen Gedenkveranstaltung, ganz herzlich begrüßen. Der Liedtext wurde von dem bekannten Schriftsteller Arnulf Överland geschrieben, der wegen seines Widerstandes gegen die deutsche Besatzungsmacht seit 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert war. Ganz besonders freuen wir uns darüber, dass Bernt Lund zum wiederholten Mal die beschwerliche Reise von Oslo nach Oranienburg auf sich genommen hat, um heute als Zeitzeuge zu uns zu sprechen. Lieber Herr Lund, seien Sie herzlich willkommen! Ich begrüße den Vizepräsidenten des Brandenburger Landtag Dieter Dombrowski, den Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhausen Herr Wieland und den Botschafter des Königreichs Norwegen Petter Ölberg. Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen sowie der Landtag in Brandenburg begehen gemeinsam den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus seit seiner Einführung im Jahre 1996 am historischen Ort, dem ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen, dort wo sich auch die Verwaltungszentrale des KZ-Terrors befand. Dafür möchte ich Ihnen sehr geehrter Her Landtagsvizepräsident, dem Präsidium sowie allen Fraktionen des Brandenburgischen Landtages, die diesen Beschluss mittragen, ganz herzlich danken.
Es ist mir dabei eine große Freude, auch in diesem Jahr wieder die anwesenden Abgeordneten des Brandenburgischen Landtages sowie des Berliner Abgeordnetenhauses begrüßen zu dürfen. Ich begrüße ferner die Mitglieder der Brandenburgischen Landesregierung und des Berliner Senats. Ich begrüße die Vertreterin der Staatsministerin für Kultur, den Landrat des Kreises Oberhavel, den Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die Mitglieder des Kreistages sowie der Stadtverordnetenversammlung. Ganz besonders dankbar sind wir, dass erneut zahlreiche Angehörige und Repräsentanten ausländischer Botschaften sowie Angehörige von Verfolgten des Nationalsozialismus an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ich danke außerdem allen Vertretern der Parteien, der Gewerkschaften und der Wirtschaft, der Kirchen sowie der jüdischen Gemeinden. Ich begrüße ferner die Vertreter von Hochschulen und Schulen sowie der verschiedenen Opferverbände, insbesondere den Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausenkomitees, Dik de Boef, und die Mitglieder des internationalen Beirates der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Ganz besonders freuen wir uns auch über die Anwesenheit von Schülerinnen und Schülern. Schon jetzt danke ich den Schülerinnen und Schülern des Georg-Mendheim-Oberstufenzentrums sowie des Gymnasiums Panketal, die an der Ausgestaltung unserer Gedenkveranstaltung mitwirken.

Am 9. April 1940 überfielen deutsche Wehrmachtstruppen das Königreich Norwegen. Während die norwegischen Soldaten einen tapferen aber aussichtlosen Kampf gegen die deutschen Invasoren führten, gelang König Haakon VII die Flucht nach Großbritannien. Dort baute er eine Exilregierung auf. Die Herrschaft im Land übernahmen der ehemalige NSDAP-Gauleiter des Ruhrgebietes, Josef Terboven, sowie der Befehlshaber der Wehrmacht Nikolaus von Falkenhorst. Obwohl das „Dritte Reich“ sich um eine enge Zusammenarbeit mit dem sogenannten „Nordischen Brudervolk“ bemühte, blieb der Erfolg gering, da der eingesetzte Ministerpräsident Vidkun Quisling kaum Rückhalt in der norwegischen Bevölkerung fand. Im Lauf der Besatzungszeit nahmen daher der Widerstand aus der norwegischen Bevölkerung einerseits und der Terror der deutschen Besatzungsmacht andererseits immer mehr zu. Nicht nur aus ideologischen, sondern vor allem auch aus wirtschaftlichen Gründen gingen die Deutschen in den skandinavischen Staaten vorsichtiger als anderswo vor. Trotzdem kam es vielfach zu offenem Terror. Standrecht, Hinrichtungen, Deportationen und Verhaftungen .
Während die meisten Norweger in Polizeihaftlagern und Gefängnissen auf norwegischen Boden inhaftiert wurden, verschleppte die SS mehr als 9.000 ganz überwiegend politische Widerstandskämpfer in Konzentrationslager. Fast 800 Juden wurden vor allem nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dass die meisten Norweger, mehr als 2.500, in das Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt transportiert wurden, lag wohl am wenigsten in der geographischen Lage Oranienburgs begründet. Vielmehr war wohl die schon 1939 vorgenommene Einstufung des KZ Sachsenhausen als ein, wie es die SS nannte, Lager für besserungsfähige Häftlinge entscheidend. Möglicherweise nahm darauf auch der kurz davor abgelöste Kommandant von Sachsenhausen Hans Loritz Einfluss, der im September 1942 die Führung der SS-Inspektion in Norwegen übernahm. Denn schon bald nach seiner Ernennung wuchs die Anzahl der mit Schiffen und Eisenbahnen hauptsächlich aus dem Polizeihaftlager Grini bei Oslo verschleppten Norweger stark an.
Der erste Häftlingstransport aus Norwegen war bereits am 24. August 1940 von der Lagerverwaltung erfasst worden. Im weiteren Verlauf des Jahres sowie auch im darauf folgenden Jahr 1941 blieb es bei vereinzelten Transporten. Erst am 27. Mai 1942 erreichte ein neuer Großtransport mit 113 Norwegern das Konzentrationslager Sachsenhausen. Unter ihnen befanden sich 66 Männer aus der kleinen Fischersiedlung Telavag[Telawohg] im Westen Norwegens. Aus Rache für die Unterstützung der westlichen Alliierten und die Erschießung zweier Gestapobeamter ließ Reichskommissar Terboven das gesamte Dorf in Schutt und Asche legen und verschleppte am 30. April 1942 alle Kinder und Frauen sowie ältere Männer nach Bergen. Die zwischen 15 und 65 Jahre alten Männer dagegen transportierte die SS fast alle über Grini nach Sachsenhausen. Nicht einmal die Hälfte von ihnen überlebte.
Ende 1942 verstärkten die Nationalsozialisten angesichts der an allen Fronten sich abzeichnenden militärischen Niederlagen ihre Rüstungsanstrengungen. Die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen bekam dadurch einen völlig neuen Stellenwert. Aus allen besetzten Ländern, so auch aus Norwegen, verschleppten die Nationalsozialisten Hundertausende von Menschen in das sich explosiv ausweitende und verzweigende Lagersytem. Zeitweise erreichten 1943 fast täglich große Häftlingstransporte aus Norwegen das Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt. Diese großen Transporte dauerten auch im ersten Halbjahr 1944 an. Dadurch erhöhte sich die Anzahl der norwegischen Häftlinge, die zur gleichen Zeit im Oranienburger Hauptlager sowie in den Nebenlagern, vor allem in den Außenlagern Falkensee, Heinkel sowie Bad Saarow, inhaftiert waren, auf über 2.000.
Die ganz überwiegende Anzahl der Norweger mussten im KZ Sachsenhausen das rote Dreieck der politischen Häftlinge an ihre Kleidung nähen. Über norwegische Häftlinge mit anderen Winkelfarben ist kaum etwas bekannt; nur vereinzelt waren auch Juden unter ihnen. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge kam aus den verschiedenen Organisationen der norwegischen Arbeiterbewegung, insbesondere aus den Jugendorganisationen. Da der vom britischen Exil aus angeleitete Widerstand in Norwegen sehr straff militärisch organisiert war, gehörten auch zahlreiche Polizisten, wie z. B. der Polizeidirektor von Kristiansand, Kristian Wilhelm Rynning-Tönnessen, sowie ehemalige Soldaten der norwegischen Armee zu den Inhaftierten. Auch zahlreiche Intellektuelle, wie z. B. der Rektor der Osloer Universität Didrik Arup Seip, der eingangs zitierte Schriftsteller Arnulf Överland, der Sohn des Nobelpreisträges und Polarforschers Odd Nansen sowie evangelische Geistliche, wie Pedder Scheie, befanden sich unter den norwegischen Häftlingen.
In Sachsenhausen erwartete die Norweger zunächst das übliche demütigende und grausame Aufnahmeritual. In den ersten zwei bis drei Wochen wurden sie in den Quarantäneblocks zusammen gepfercht. Die meisten von ihnen mussten in dieser Zeit die Qualen des sogenannten Schuhelaufens auf der über den Appellplatz herumführenden, von der deutschen Schuhindustrie eingerichteten Teststrecke erdulden. Die übermenschlichen Anstrengungen und sadistischen Quälereien auf dem täglichen, etwa 40 Kilometer langen Marsch über unterschiedliche Bodenbeläge, häufig in zu engen und kleinen Stiefeln, haben sich in das Gedächtnis der Überlebenden besonders stark eingegraben. Himmlers auf die Giebel des ersten Barackenrings angebrachten Sinnspruch, wonach die Freiheit angeblich von der Befolgung der Sekundärtugenden, also Fleiß, Ordnungssinn, Ehrlichkeit und Vaterlandsliebe, abhing, haben viele Norweger auch noch nach ihrer Befreiung als Ausdruck einer typisch deutschen Mentalität interpretiert.
Solange die Lagerverwaltung die norwegischen Häftlinge aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl auf die 58 Baracken des Häftlingslagers verteilte, teilten sie das Schicksal aller übrigen Häftlinge. Überdurchschnittlich viele Norweger starben daher in diesen ersten beiden Jahren. Spätestens nach der Ankunft der Massentransporte im Jahre 1943 gelang es ihnen, die Zusammenlegung in eigenen Blocks, den sogenannten Norweger-Baracken, zu erreichen. Der dadurch bewirkte Zusammenhalt stärkte die Identität der norwegischen Häftlingsgruppe, die sich durch eine starke Heimatorientierung auszeichnete, die nicht selten mit einem ausgeprägten nationalen Stolz sowie einem starken antideutschen Widerstandsgeist einherging. Alle erhaltenen Erinnerungsberichte der Überlebenden zeugen von einem intensiven kulturellen Leben der Norweger in diesen Baracken. Mindestens genauso wichtig für das Überleben der norwegischen Häftlinge war die im Dezember 1942 erteilte Erlaubnis zum Paketempfang. Monatlich konnten danach privilegierte Häftlingsgruppen Pakete mit Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten empfangen. Nicht nur die Angehörigen der Häftlinge, sondern vor allem auch das norwegische, dänische und schwedische Rote Kreuz sandten von 1943 an bis zu 5 Kilogramm schwere Pakete, die den meisten Empfängern die Chancen des Überlebens im Lager auf vielfache Weise entscheidend verbesserten.
Da die Pakete nur an namentlich bekannte Häftlinge verschickt werden durften, partizipierten zunächst nicht alle Norweger an dieser wichtigen Hilfsaktion. Es ist der seinerzeit mit ihrer Familie in Groß-Kreuz internierten, damals 21-jährigen Wanda Heger vor allem zu verdanken, dass diese Aktion sich auf fast alle skandinavischen Häftlinge ausdehnen konnte. Der genau heute vor einem Jahr leider verstorbenen Norwegerin nämlich gelang es, mit norwegischen Häftlingen, die in den Außenkommandos des Lagers arbeiteten, zum Teil unter den Augen des SS-Wachen Kontakt aufzunehmen und über sie die Namen weiterer Landsleute zu ermitteln, die sie an das Rote Kreuz weitergab.
Aus der Paketaktion der Skandinavier entwickelte sich eine der größten Solidaritätsaktionen, die auch in den Erinnerungen anderer Häftlingsgruppen, eine wichtige Rolle spielen. Denn vielfach verteilten die Norweger einen Teil des Inhalts der Pakete vorwiegend an die Kranken und die sogenannten Muselmänner. Mark Tilevic, der im Sommer diesen Jahres leider verstorbene langjährige Präsident des russischen Sachsenhausenkomitees, schreibt darüber in seinen Erinnerungen: „Die Tatsache, dass sich Norweger in unserem Lager befanden, war eine enorme Stütze, besonders für uns Russen, denn sie gaben sich große Mühe, uns jede erdenkliche Hilfe zu leisten, da wir die Elendsten von allen waren…Wir hatten mit ihnen eine äußerst herzliche und warme Freundschaft, die sich das Leben über fortsetzte.“
In dankbarer Erinnerung vieler Häftlinge blieben vor allem auch die verschiedenen Hilfsaktionen, mit denen sich norwegische Häftlingsärzte in den Revieren des Lagers um die Kranken bemühten. So organisierte Dr. Sven Oftedal gemeinsam mit seinem norwegischen Kameraden Dr. Per Graesli eine Blutspendeaktion im Lager, an der sich rund einhundert Häftlinge beteiligten. Beiden sowie dem norwegischen Pfleger Per Roth war es wohl auch in der Hauptsache zu verdanken, dass die elf jüdischen Kinder, die im Krankenrevier II für medizinische Experimente missbraucht wurden, nicht als Zeugen der NS-Verbrechen wie andere ermordet, sondern auf den Todesmarsch geschickt wurden, den alle überlebten.
Die allermeisten norwegischen Häftlinge im KZ Sachsenhausen empfanden sich nicht nur gegenüber den anderen Häftlingsgruppen als privilegiert, sie waren es zweifellos in vieler Hinsicht auch. Das wurde wahrscheinlich durch die Rettungsaktion des dänischen und schwedischen Roten Kreuzes am sichtbarsten, die unter dem Namen „Aktion Bernadotte“ weltweit bekannt ist. Zwischen dem 18. und dem 30. März 1945 gelang es, mehr als 2.000 skandinavische Häftlinge mit weiß gestrichenen Bussen und Lastwagen aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen zu befreien. Zurück blieb, folgt man der Lagerregistratur, nur ein einziger norwegischer Häftling, der offenbar todkrank im Revier lag. Es handelte sich um Johannes Christopher Telle, ein im Rahmen der erwähnten kollektiven Sühnemaßnahme verschleppter Fischer aus Telavag [Telawohg]. Er verstarb am 2. April 1945. Insgesamt kehrten wohl etwa 200 der mehr als 2.500 nach Sachsenhausen verschleppten Norweger nicht mehr nach Hause zurück. Die meisten verstarben in den ersten beiden Jahren infolge der katastrophalen Lebensbedingungen. Eher eine, allerdings bezeichnende Ausnahme scheint der norwegische Jude Moritz Rabinowitz zu sein. Er wurde, so erinnern sich verschiedene norwegische Häftlinge, von der SS am 27. Februar 1942 zu Tode gefoltert.
Nach Hause zurückgekehrt, versuchten viele der norwegischen Überlebenden an ihre Tätigkeiten vor dem Krieg anzuknüpfen. Norwegische Sachsenhausen-Überlebende bestimmten bis in die siebziger Jahre hinein maßgeblich die Politik dieses skandinavischen Landes. Noch im Konzentrationslager, so erinnert sich Finn Kleppe, sei die erste Nachkriegsregierung Norwegens gebildet worden: Am 9. Mai 1944 habe der spätere Ministerpräsident Einar Gerhardsen eine Reihe von norwegischen Häftlingen aus Anlass seines Geburtstages in seine Baracke eingeladen. Dort am Tisch habe er seine Kameraden Halvard Lange zum Außenminister, Nils Langhelle zum Verkehrsminister, Sven Oftedahl zum Sozialminister, Lars Moen zum Kirchenminister und Johan Johansen zum Arbeitsminister ernannt. Es kann von mir nicht entschieden werden, inwieweit der Bericht von Finn Kleppe die Vergangenheit doch etwas zu sehr verklärt. Richtig bleibt aber, dass nicht nur die Genannten, sondern auch viele weitere Sachsenhausen-Überlebende, so auch unser Ehrengast Bernt Lund, noch über viele Jahrzehnte wichtige politische Ämter in Norwegen bekleideten und dadurch auch die Politik Europas maßgeblich mitprägten.

Als Ignaz Bubis sel. Ang. 1996 dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog den Tag der Befreiung der im Lager Auschwitz verbliebenen Häftlinge als Gedenktag vorschlug, war er sich sicherlich der Singularität des Völkermords an den europäischen Juden bewusst. Kein anderer der vielen Feinde des Nationalsozialismus und kein anders Zielobjekt ihres Rassenwahns sollte vollständig, vom Baby bis zum Greis, Männer ebenso wie Frauen, in Gänze und weltweit ausgerottet werden. Trotzdem wollte Bubis den Gedenktag allen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet wissen. Denn allen überlebenden Opfern des Nationalsozialismus stand bis zum Ende ihres Lebens die den inneren Kern der NS-Ideologie bestimmende generelle Menschenfeindlichkeit vor Augen, die sich gegen Kranke und Schwache ebenso wie gegen politische Gegner, gegen Angehörige angeblich minderwertiger Rassen ebenso wie gegen soziale Außenseiter, gegen sexuelle Minderheiten ebenso wie gegen Unangepasste richtete. Es ist gerade heute, da die Stimmen der Zeitzeugen weitgehend verstummt sind und Feindbilder von Rechtspopulisten und -extremisten fast nach Belieben ergänzt, aktualisiert und verändert werden, immer wichtiger, sich dieser generellen antihumanen Bedrohung bewusst zu bleiben. Noch sind es nur wenige, die sogar den Holocaust abstreiten oder relativieren. Bedenklicher scheint mir dagegen die sich, teils aus Unbedacht und teils aus Kalkül, ausbreitende Gewohnheit zu sein, die Verbrechen des Nationalsozialismus auf den Holocaust an den Juden zu beschränken und die generelle Menschenfeindlichkeit auszublenden.
Im Konzentrationslager Sachsenhausen waren Menschen aus über vierzig Nationen inhaftiert. Sie waren aus den verschiedensten Gründen in das Konzentrationslager bei Reichshauptstadt und seine Außenlager verschleppt worden, aus rassischen, politischen, religiösen, sozialen, biologischen und ökonomischen Gründen. Auch wenn die Todesbedrohungen unterschiedlich ausgeprägt waren, so befanden sich unter den vielen zehntausenden von Opfern Angehörige aller Haftgruppen. Dieser Nationen, Schichten und Gruppen überwölbenden Gemeinsamkeit sollten wir uns bewusst bleiben. Sie war eine der zentralen Anliegen der überlebenden KZ-Häftlinge. Nicht zuletzt deshalb versäumte es keiner der drei inzwischen leider verstorbenen Präsidenten des Internationalen Sachsenhausen Komitees, in ihren Reden immer wieder auf die aus ihrer Erfahrung im KZ heraus wichtigste und unverzichtbare Grundlage humanen Zusammenlebens hinzuweisen, auf die „solidarité“, wie Charles Désirat, Pierre Gouffault und Roger Bordage als Franzosen formulierten. Im Vermächtnis der Überlebenden, das zehn Präsidenten der Häftlingsverbände der großen Konzentrationslager 2009 verfassten und zahlreichen hohen Repräsentanten europäischer Staaten überreichten, heißt es in eben diesem Sinn: „Aber auch Europa hat seine Aufgabe: Anstatt unsere Ideale für Demokratie, Frieden, Toleranz, Selbstbestimmung und Menschenrechte durchzusetzen, wird Geschichte nicht selten benutzt, um zwischen Menschen, Gruppen und Völkern Zwietracht zu säen…“
Wie stark gerade auch norwegische KZ-Überlebende von Sachsenhausen mit dem Gedanken der europäischen Einigung verbunden waren, beweist u. a. das Verhalten des vielfachen Ministers und zweifachen Ministerpräsidenten Norwegens Trygve Bratelli. Der engagierte Jugendpolitiker der Arbeiterpartei war schon vor seiner Inhaftierung im Juni 1942 und seiner Deportation nach Sachsenhausen freundschaftlich mit dem deutschen Emigranten Willy Brandt verbunden. Nach dem Krieg pflegten sie diese Freundschaft weiter und trafen sich oft zu Gesprächen über Deutschland und Europa. Konsequenterweise trat er als Ministerpräsident zurück, als die Norweger sich in einer Volksabstimmung gegen den von ihm bereits unterschriebenen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aussprachen. Doch seine Überzeugung, dass Europa auf Dauer nur Frieden finden könne, wenn es auch zwischen Ost und West einen inneren Zusammenhang herstellt, holte ihn aus seinem zwischenzeitlichen Ruhestand zurück. „Je stärker Europa eine Zusammenarbeit zwischen den Nationen entwickelt, desto weniger muss man sich vor den Quellen der Unruhe fürchten, die zweimal zu meinen Lebenszeiten zu Weltkriegen geführt haben.“ Dieses Bekenntnis zu Europa formulierte der ehemalige „Nacht und Nebel-Häftling“, in dessen Wohnzimmer ein Gemälde des bekannten norwegischen Künstlers Reider Aulie mit dem Titel „KZ-Häftlinge beim Appell“ im Wohnzimmer der Familie hing, im Jahre 1971. Vier Jahre später unterzeichnete Bratelli als norwegischer Ministerpräsident die berühmte Schlussakte von Helsinki, die nicht nur als ein Meilenstein der Entspannungspolitik, sondern als entscheidende Wegmarke zum Fall der Mauer und zur Auflösung des Warschauer Pakts angesehen wird.

In dem kürzlich mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Roman von Robert Menasse, „Die Hauptstadt“ verfolgt eine Projektgruppe der Europäischen Kommission die Idee, das gegenwärtig schwindende Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa durch den Verweis auf die Entstehungsgeschichte der europäischen Einigung wiederzubeleben. Im Zentrum einer geplanten Jubiläumsveranstaltung sollte daher das Vermächtnis von KZ-Überlebenden stehen. Das Vorhaben scheitert schließlich am kleinlichen und bornierten Egoismus der unterschiedlichen nationalen Repräsentanten, denen die Quoten für Schweinefleisch wichtiger und präsenter sind als die historische Verantwortung. Diese fiktionale Handlung ist keinesfalls unrealistisch. Vergleichbares haben die zehn Präsidenten der Häftlingsverbände in Brüssel schmerzlich erfahren müssen, als sie ihr Vermächtnis möglichst vielen europäischen Abgeordneten übereichen wollten. Wir sind daher heute auch hier, um dieses Vermächtnis der KZ-Überlebenden zu bekräftigen. Es ist aktueller denn je.

Roger Bordage, Président du Comitee international des Sachsenhausen, est décédé, 10.08.2017 Paris, Cimitière Père Lachaise

Chère Beatrice Bordage, chère famille, chèrs amis de Roger Bordage,

Le mémorial de Sachsenhausen et la fondation des memoriaux Brandenbourgoise pleurent notre président et notre ami Roger Bordage.

Roger Bordage était un ami exceptionnel qui avait accompagné de près le développement du Mémorial depuis les années 90. En sa qualité d’ancien fonctionnaire international de l’UNESCO il a, comme aucun autre, soutenu en particulier la signification internationale du Mémorial de Sachsenhausen et la culture allemande du souvenir en général. C’est principalement à son initiative que le Parlement européen a adopté en janvier 1993 une résolution qui fut novatrice pour les mémoriaux des camps de concentration en Allemagne. Il s’agissait, selon ce texte, de conserver les lieux authentiques et de se prémunir des confusions des diverses phases historiques. En tant que membre du Comité international de la Fondation Roger Bordage aidait toujours et par tous les moyens le Mémorial de Sachsenhausen. Pour ses mérites il fut promu Commandeur de la Légion d’honneur en 2014 et distingué également par la médaille du mérite du Land de Brandebourg.

À la fin de sa carrière professionnelle le survivant des camps s’engagea davantage dans l’Amicale française. Son expérience internationale, sa maitrise parfaite de l’espagnol et de l’anglais et ses connaissances politiques étaient d’un grand secours pour ses deux prédécesseurs à la présidence du Comité international Charles Désirat et Pierre Gouffault. Quand son vieil ami Pierre Gouffault mourut Roger Bordage fut élu Président du Comité international de Sachsenhausen par les différents présidents des comités nationaux de Sachsenhausen. Cette année encore, en avril, il a présidé avec brio la séance annuelle du Comité et animé entre autres la discussion avec la nouvelle secrétaire d’État du ministère de la Culture Dr. Gutheil. Ses excellents contacts avec les ambassadeurs étrangers à Berlin, et particulièrement avec les ambassadeurs de France, ont permis de mettre davantage en valeur aussi la signification du souvenir des crimes nazis. Au cours de l’été 2016 il accompagna, en fauteuil roulant, les ambassadeurs de France et d’Espagne lors d’une visite du Mémorial de Sachsenhausen malgré des températures de plus de 40 degrés. Bien que déjà marqué par sa grave maladie Roger Bordage est venu le 5 mai de cette année à la dernière réunion du Comité international. Il s’engagea surtout pour l’agrandissement du Mémorial de Lieberose et pour ces camarades juives.

Roger Bordage était un Européen convaincu qui s’inquiétait de la montée des mouvements nationalistes et de `droite´ non seulement en France. Cela ne le fit pourtant pas dévier de son fort optimisme historique et de sa grande confiance en la démocratie. Son conseil inspirait les autres présidents des associations internationales. Et pour moi Roger Bordage n’était pas qu’un précieux conseiller et interlocuteur mais également un ami auquel je pense avec chaleur et une immense gratitude. La Fondation des Mémoriaux du Brandebourg et le Mémorial de Sachsenhausen pleurent Roger Bordage, un grand ami, un ami sympathique, un interlocuteur qui inspirait, un soutien cosmopolite, généreux et doué d’une expérience internationale, un combattant fortement déterminé des mémoriaux et un conseiller fin politique, qu’elles ne pourront pas remercier suffisamment. Le Mémorial de Sachsenhausen continuera toujours d’honorer sa mémoire.

Permettez moi de parler à ma fin les derniere mots que je pouvai encore lui dire sur son lit de mort : we had togehter a strong fight to beware the memory of the victims of Sachsenhausen, but we succeeded at last. We both had a lot of interesting discussions since more than twenty years and I think we agree totaly in the future of the memorial. But also we laughed a lot togehter. I will say thank you very much for your friendship, for your support, for your inspiration, for your advice. It was for the memorial and for me a great luck, that you, our president was on our side to each time. We all love you !

Günter Morsch, 10. August 2017

Zehn Jahre internationale Jugendbegegnungsstätte Sachsenhausen/Haus Szczypiorski

ZEHN JAHRE INTERNATIONALE JUGENDBEGEGNUNGSSTÄTTE SACHSENHAUSEN – HAUS SZCZYPIORSKI

14. September 2016

BEGRÜSSUNG

Prof. Dr. Günter Morsch

 

Sehr geehrter Herr Fritzke,

liebe Frau Herrmann,

Damen und Herren,

 

Begrüssung der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte,

Dank an:

Frau Anders, Frau Bohra, Gedenkstättenlehrer, Frau Herrmann und ihr Team, alle Helferinnen und Helfer, alle Teilnehmer am Turnier, an der Diskussionsrunde sowie Thomas Lutz

Dank vor allem an diejenigen, die vor mehr als zwanzig Jahren damit begonnen haben das Projekt „IJBS“ zu entwickeln: Bürgerinitiativen, Jugendverbände, Prominente, Politiker, Polnische Botschafter,  DJH, Minister Steffen Reiche sowie Mitarbeiter der Verwaltungen aus Bildungs- und Kulturministerium, Kollegen anderer Gedenkstätten und Begegnungsstätten, insbesondere dem Kooperationsverbund, Mitarbeiter und vor allem viele, viele Jugendliche, z. B. aus dem VHS Bildungswerk

In erster Linie aber Dank an die Überlebenden, an Charles Desirat, Pierre Gouffault, Roger Bordage, Adam König, Zislaw Jasko, Karl Stenzel, Mark Televic

 

Die Einrichtungen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in Below, Brandenburg, Ravensbrück und Sachsenhausen verstehen sich nicht nur als Orte des Gedenkens und des Trauerns sowie als moderne, zeithistorische Museen, sondern auch als Einrichtungen politischer Bildung, wo mit zeitgemäßen didaktischen Methoden der Erwerb von Wissen und Kenntnissen über die Vergangenheit mit der Vermittlung von zentralen Werten der Demokratie verknüpft werden soll. Ein kritisches Geschichtsbewusstsein, das sich nicht für politische Ziele instrumentalisieren lässt, das kurzschlüssige Vereinfachungen oder Parallelisierungen meidet, vielmehr Differenzierungen heraus arbeitet sowie Widersprüche aushält und immer wieder selbst Fragen über die Vergangenheit an die Gegenwart und die Zukunft hervor bringt, kann ohne Formen intensiver und selbsttätiger Beschäftigung mit der Geschichte nicht wachsen. Soll aber Bildung erfolgreich und nachhaltig sein, dann braucht sie Geduld und  Kreativität für das selbsttätige Studium der Quellen und Interpretationen, sie braucht professionelle, qualifizierte Pädagogen, die in der Lage sind, solche Konzepte immer wieder neu zu entwickeln und zu evaluieren, sie braucht vor allem auch Geld für die Lehr- und Lernmittel sowie eine Bildungsstätte, an der man sich wohl fühlen kann und wo Lernen Freude macht. Zumindest letzteres ist nun für Sachsenhausen wie die zehnjährige Erfolgsgeschichte seit Eröffnung der Internationalen Jugendbegegnungsstätte/ Haus Szczypiorski eindrucksvoll zeigt, gesichert. Die Jugendherberge Sachsenhausen ist ein lebendiger Ort geworden, an dem trotz der belastenden Geschichte der Villa, die sich einst der oberste Chef des Systems der Konzentrationslager errichten ließ, gelacht und gelernt werden kann, wo Freundschaften entstehen und über Sprachschwierigkeiten und kulturelle Unterschiede hinweg ein Verständnis für die gemeinsame europäische Geschichte wächst, wo an Lagerfeuern und bei Grillabenden nicht nur die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Geschichte, sondern auch die Probleme und Gefahren der Gegenwart und der Zukunft diskutiert werden. Das Haus Szczypiorski ist, kurz gesagt, zu dem Zentrum des Lernens, Diskutierens und Lachens geworden, das wir uns immer gewünscht haben. 

 

Kein Rückblick kommt einen Blick in die Zukunft aus. Was würden wir uns wünschen? Am Beginn unseres nicht einfachen Kampfes für die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Sachsenhausen stand viel Kleinmut und Konkurrenzdenken. Ganz unbegründet war die Skepsis, die von allzu vielen geteilt wurde, angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den neunziger Jahren nicht.  Ursprünglich, so hatte vor allem das Deutsche Jugendherbergswerk errechnet und ein vom Landkreis finanziertes Gutachten stützte die Kalkulation, vertrage dieser bekannte und wichtige Ort Sachsenhausen in der Nähe Berlins durchaus größere Dimensionen: von 150 Betten war die Rede, vom Ausbau der naheliegenden SS-Kasernen zu einem Bettenhaus und die Gedenkstätte hielt mit Unterstützung vergleichbarer Einrichtungen in Auschwitz und Dachau die Einstellung von mindestens zwei hauptamtliche Vollzeit-Pädagogen für erforderlich. Daraus ist eine Einrichtung mit 32 Betten und einer halben Pädagogen-Stelle geworden, die aus dem Personalbestand der Gedenkstätte herausgenommen werden musste.  Was damals, vor zwanzig Jahren, vernünftig und sinnvoll war, das ist durch die Erfolgsgeschichte der letzten zehn Jahre bestätigt worden. Mehr als 700.000 Besucherinnen und Besucher aus aller Welt, die in diesem Jahr die Gedenkstätte Sachsenhausen voraussichtlich besichtigen werden, sprechen eine deutliche Sprache. Sachsenhausen ist nach Dachau zur größten KZ-Gedenkstätte der Bundesrepublik geworden. Das Max-Mannheimer-Zentrum in Dachau, die dortige Jugendbegegnungsstätte, beweist, welche Potentiale und Leistungen für die politische Bildung an großen KZ-Gedenkstätten möglich sind.  Lassen Sie uns also unseren Traum, unsere nur allzu realistische Perspektive nicht aufgeben; es ist jetzt, zehn Jahren nach der Eröffnung der internationalen Jugendbegegnungsstätte, an der Zeit, die Tür zur Zukunft der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Sachsenhausen/Haus Szczypiorski aufzustoßen.

„Sachsenhausen mahnt“. Die Eröffnung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen vor fünfzig Jahren im Schatten des Kalten Krieges, 2011

„SACHSENHAUSEN MAHNT!“ „Sachsenhausen mahnt“. Die Eröffnung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen vor fünfzig Jahren im Schatten des Kalten Krieges, 2011 weiterlesen

Rede: Kontinuität im Wandel. 20 Jahre Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 26. Februar 2013

Rede: Kontinuität im Wandel. 20 Jahre Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 26. Februar 2013 weiterlesen