Totenbuch der Opfer des KZ Sachsenhausen 1936-1945, Vorwort zur elektronischen Fassung, 2014

Sehr geehrte Nutzer des elektronischen Totenbuches der Opfer des Konzentrationslagers Sachsenhausen,

im April 2008, erst 63 Jahre nach der Befreiung der Häftlinge des KZ Sachsenhausen, konnte die Gedenkstätte erstmals ein Verzeichnis vorlegen, in dem die Namen von mehr als 20.000 Opfern des „Konzentrationslagers bei der Reichshauptstadt“ aufgeschrieben waren. Das in gedruckter Form publizierte Totenbuch wurde während der Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag der Befreiung dem Präsidenten des Internationalen Sachsenhausen Komitees Pierre Gouffault sowie den aus zahlreichen Ländern angereisten Vizepräsidenten feierlich übergeben. Damit fanden langjährige, aufwändige und schwierige Forschungsarbeiten der Gedenkstätte zur Ermittlung aller Namen der ihre Befreiung nicht mehr überlebenden KZ-Häftlinge einen vorläufigen Abschluss.

Warum aber wurde das Totenbuch erst so spät vorgelegt, obwohl wir wissen, von welch kaum zu überschätzender Bedeutung ein solches Namensverzeichnis vor allem für die Überlebenden sowie die Angehörigen der Ermordeten und Verstorbenen ist? Anders als in anderen Konzentrationslagern verbrannte die Lager-SS gegen Ende des Krieges und kurz vor der Befreiung der Häftlinge einen Großteil der schriftlichen Unterlagen. Darunter befanden sich Abertausende von Dokumenten mit den Namen der Ermordeten und Verstorbenen. In der Nachkriegszeit wurden zudem die wenigen Reste der schriftlichen Überlieferung, die die SS übrig gelassen hatte, buchstäblich über die ganze Welt verstreut.

Seit der Gründung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 1993 haben wir uns darum bemüht, diese Splitter wieder zu finden und wie Mosaiksteine zusammenzufügen. Den letzten großen und wichtigsten Bestand an Dokumenten fanden Forscher der Gedenkstätte schließlich vor nicht langer Zeit im Archiv des heutigen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation(FSB). Auf der Grundlage einer Auswertung dieser Splitterbestände konnte 2008 erstmals der Versuch unternommen werden, ein Totenbuch zu rekonstruieren. Dabei waren wir uns sehr wohl bewusst, wie fragmentarisch und unvollständig das Ergebnis sein würde. Doch der wachsende zeitliche Abstand zum historischen Geschehen und das unaufhaltsam näher rückende, absehbare Ende der Zeitzeugenschaft ließen ein weiteres Hinausschieben der Publikation des Totenbuches nicht mehr zu, zumal die Gedenkstätte keine größeren neueren Aktenfunde mehr erwartet, die die vorhandenen Lücken der Überlieferung ausfüllen könnten.

Trotzdem ist es der Gedenkstätte seit der Publikation des Totenbuches 2008 vor allem mit der Unterstützung der internationalen Häftlingsvereinigungen gelungen, die Namen von weiteren etwa 2.000 Opfern zu wiederzufinden. Dadurch ermutigt, hoffen wir, auch in der weiteren Zukunft vor allem mit der Hilfe und Unterstützung von Angehörigen aber auch von Leserinnen und Lesern des Totenbuches weiteren Opfern des KZ Sachsenhausen ihren Namen zurückgeben zu können. Das sind die Gründe, warum sich die Gedenkstätte in Abstimmung mit dem Internationalen Sachsenhausen Komitee entschlossen hat, die Namen der von uns identifizierten Opfer in elektronischer Form im Internet zur Verfügung zu stellen.

Dabei wollen wir unsere anfänglichen Bedenken gegenüber einer solchen, aus allen Teilen der Welt schnell und leicht praktizierbaren Form der Recherche der Namen von Opfern nationalsozialistischer Verbrechen nicht verschweigen. Werden dadurch die Würde der Opfer und der berechtigte Schutz der Angehörigen gefährdet? Beispiele, wie das Namensverzeichnis der jüdischen Opfer des Holocaust, die die israelische Gedenkstätte Yad Vashem schon seit vielen Jahren im Internet zur Verfügung stellt, halfen uns bei der Entscheidungsfindung ebenso, wie ein workshop, den die Gedenkstätte aus diesem Anlass mit Kolleginnen und Kollegen anderer KZ-Gedenkstätten veranstaltete. Die bessere Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Totenbücher, die durch das Internet erreicht wird, die nahezu unbegrenzte, an keinerlei Publikationszwänge gebundene Erweiterungsfähigkeit von elektronischen Datenbanken sowie die sich öffnenden neuen Chancen zur Kommunikation gerade mit den Angehörigen der Opfer scheinen die Risiken faktisch unbegrenzter Verfügbarkeit deutlich zu überwiegen. Überdies wählten wir aus den uns zur Verfügung stehenden Informationen nur den Teil aus, der die Persönlichkeitsrechte der Opfer, wie wir hoffen, nicht tangiert.

Die im Totenbuch aufgeführten 21.500 Namen von Häftlingen, die zwischen 1936 und 1945 infolge von gezielten Mordaktionen, von Misshandlungen sowie aufgrund katastrophaler Arbeits- und Lebens starben, repräsentieren nur einen Teil aller Opfer des KZ Sachsenhausen. Viele tausende von Namen fehlen noch und die allermeisten, so ist zu befürchten werden sich niemals ermitteln lassen. Um ihre Verbrechen zu vertuschen, fertigte die SS keine Aufzeichnungen über ihre Opfer an oder vernichtete sie anschließend. Das gilt etwa für die große Mehrheit der über 13.000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die zwischen September und November 1941 ermordet wurden ebenso wie für die gleichfalls nach tausenden zählenden Opfer der Krankenmordaktionen kurz vor der Befreiung. Auch die Namen der vielen als sogenannte Plünderer in den Jahren 1943-45 ermordeten Zwangsarbeiter oder der auf den Todesmärschen erschossenen oder an Entkräftung verstorbenen Häftlinge sind wohl kaum noch zu ermitteln. Weitere Beispiele lassen sich nennen.

Die von den Tätern beabsichtigten Vertuschungen sowie die großen, niemals vollständig zu schließenden archivalischen Überlieferungslücken machen das Totenbuch zu einem Fragment. Außerdem müssen wir annehmen, dass selbst die hier auf der Grundlage schriftlicher Quellen aufgeschriebenen Namen und Lebensdaten von Opfern des KZ Sachsenhausen noch viele Fehler und Ungenauigkeiten enthalten. Ich bitte daher alle Leserinnen und Leser des Totenbuches, die solche Lücken oder Fehler feststellen, ganz herzlich, diese der Gedenkstätte schriftlich mitzuteilen. Gegebenenfalls können Sie sich auch persönlich an unser Archiv wenden.

Oranienburg im April 2014

Prof. Dr. Günter Morsch
Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und
Leiter der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen