Rede zur Verabschiedung von Stiftungsdirektor Prof. Dr. Detlef Garbe in den Ruhestand, Hamburg, den 30. Juni 2022

Prof. Dr. Günter Morsch

HAMBURG, DEN 30. JUNI 2022

Prof. Dr. Günter Morsch

Vorsitzender der Fachkommission der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung  an die Opfer der NS-Verbrechen

Sehr geehrte Frau Präsidentin

Sehr geehrter Herr Senator, lieber Herr Brosda

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Lieber Detlef,

Die Erinnerungskultur in Deutschland hat in den vergangenen vierzig Jahren einen starken und grundlegenden Wandel erlebt. Von der Leugnung, Verharmlosung, Verdrängung und Relativierung der NS-Verbrechen, die noch in den späten siebziger Jahre in der Bundesrepublik die Regel waren bis hin zu der sowohl in der Breite als auch in der Tiefe eindrucksvoll entwickelten Gedenkstättenlandschaft unserer Tage. Wie immer in der Geschichte gibt es auch in der Entwicklung der Erinnerungskultur Phasen, Brüche und Wendepunkte. Schauen wir uns dabei die verschiedenen Veränderungen, Wandlungen, Übergänge und Neugestaltungen näher an und fragen danach, wie sie zustande kamen, dann können wir nach meiner festen Überzeugung  konstatieren, dass Detlef Garbe dabei häufig eine wichtige Rolle als Initiator, Akteur, Gestalter, Historiker und Gedenkstättenvertreter spielte. Dass er dies natürlich nicht allein tat, sondern im Verbund mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern versteht sich nicht nur von selbst, sondern charakterisiert eine seiner wichtigsten Handlungsmaximen, die für den Erfolg verantwortlich waren und sind.

Mit einer etwa zehnjährigen Verspätung gegenüber den historischen Museen begannen sich verschiedene Initiativen Anfang der achtziger Jahre in der Bundesrepublik mit den „vergessenen KZ’s“ zu beschäftigen. Der damals 25 Jahre alte Student der Geschichte und Theologie gehörte einem Kreis von Initiatoren um die 1981 eröffnete und von Ludwig Eiber geleitete Dokumentationsstätte Neuengamme an, damals eine Untergliederung des Museums für Hamburgische Geschichte. Als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen kannte er die wesentlich weiter entwickelten KZ-Gedenkstätten in Polen. Sie verfügten ebenso wie die großen Mahn- und Gedenkstätten in der DDR über beachtliche Sammlungen, Archive, pädagogische Abteilungen sowie große Dauerausstellungen. Von Umfang und vom Selbstverständnis solcher großer Gedenkstätten waren auch die wenigen kleinen und häufig ehrenamtlich betriebenen Einrichtungen in der BRD noch meilenweit entfernt. Es konnte auf dem Boden einer durch den Zeitgeist der späten sechziger und siebziger Jahre sowie durch die weite Verbreitung des amerikanischen Fernsehfilm „Holocaust“ bewirkte allmähliche Zerbröckeln der Mauer aus Verdrängen und Verschweigen  zunächst nur darum gehen, die verschiedenen von den Verbänden der Überlebenden mitgetragenen Initiativen zusammenzubringen. Ein solches erstes Treffen, aus dem schließlich die bis heute regelmäßig stattfindenden Gedenkstättenseminare hervorgingen, fand in Hamburg statt. Der aus den verschiedenen Tagungsbeiträgen entstandene Sammelband wurde 1983 von Detlef Garbe unter dem Titel „Die vergessenen KZ’s“ herausgegeben. Die darin von Herausgeber im Vorwort gezogene Bilanz der deutschen Erinnerungskultur, von ihm als „organisierte Vergesslichkeit“ bezeichnet, war für die Bundesrepublik peinlich und beschämend.

Parallel zu den Bemühungen der grassroot-Bewegung, Gedenkstätten an den historischen Orten des Terrors zu gründen und zu etablieren, begann die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verfolgung der bisher vergessenen, verdrängten und häufig nach wie vor diskriminierten Opfergruppen, wie der Homosexuellen, der Sinti und Roma, der sowjetischen Kriegsgefangenen, der Wehrdienstverweigerer oder der sogenannten Bibelforscher. Die Anfänge seiner Beschäftigung mit dem Schicksal der Zeugen Jehovas setzte Garbe im Laufe der achtziger Jahre im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen fort.  Er widmete seine Dissertation der systematischen Verfolgung und dem erstaunlichen Widerstand dieser religiösen Sekte. Seine 1993 publizierte Studie gilt nach wie vor als ein Standartwerk, das viele weitere Forschungen zur Geschichte der Zeugen Jehovas initiiert hat. Sie hat seitdem vier Auflagen erlebt. 2008 erschien in Kooperation mit dem US-Holocaust-Museum auch eine englische Übersetzung.

Blick man auf diese erste Phase zurück und betrachtet die Rolle von Detlef Garbe in dieser Zeit, so kann man ihn wohl als ein Urgestein der von unten entstandenen und erkämpften bundesdeutschen Gedenkstättenbewegung bezeichnen. Er war als Teil seiner Generation über die Erinnerungsverweigerung der Eltern und Großeltern tief erschrocken. Für sie war die von zahlreichen Skandalen geprägte Nachgeschichte des NS-Terrors Teil der eigenen Lebenserfahrung. Sie waren im wörtlichen Sinn davon betroffen, wurden häufig als „Nestbeschmutzer“ beschimpft und nicht selten mit Ausrufen wie „Euch hat man vergessen zu vergasen!“ verbal und physisch bedroht. Umso unverständlicher und absurder ist es für mich, wenn gelegentlich denjenigen, die sich vor dem Hintergrund der nachwirkenden Diskriminierung mit den Verfolgten solidarisierten,  unterstellt wird, sie hätten durch Identifikation mit den Opfern der Beschäftigung mit den Tätern ausweichen wollen.

Die deutsche Einheit führte zu einem weiteren in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden grundsätzlichen Wandel in der deutschen Erinnerungskultur. Er kann als ein wirklicher Paradigmenwechsel bezeichnet werden. Denn die maßgeblichen Politiker fragten nun nicht mehr, was sie tun könnten, um den Forderungen der Gedenkstättenbewegung entgegenzukommen, sondern sie betrachteten umgekehrt die Fortentwicklung der deutschen Erinnerungskultur als eine conditio sine qua non, um die außenpolitische Akzeptanz des vereinten Deutschland vor allem in seinen Nachbarstaaten zu erreichen. Es war wohl eher ein glücklicher Zufall, dass zum gleichen Zeitpunkt Detlef Garbe die Leitung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme übertragen wurde. Zwei Jahre später legte eine Expertenkommission ein umfassendes Konzept zur Neugestaltung vor. Darin wurden nicht nur die Ausdehnung der Gedenkstätte auf das ehemalige, von der Justizvollzugsanstalt genutzte Häftlingslager, sondern auch wichtige Fortschritte hin zu einem modernen Ausstellungs- und Lernort vorgeschlagen. Die Umsetzung dieser weitreichenden Pläne konnte zwar erst rund zehn Jahre später nach dem durch die neue Regierungskoalition aus CDU, Schill-Partei und FdP verursachten national und international Aufsehen erregenden Skandal seit Frühjahr 2002 realisiert werden. Trotzdem trieb die neue Gedenkstättenleitung die Modernisierung, Professionalisierung und Neugestaltung in vielen Bereichen schon in den neunziger Jahren energisch voran.

Als ein Beispiel dafür will ich die von der Gedenkstätte Neuengamme und ihrem Leiter herausgegebene wissenschaftliche Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ nennen. Sie brachte es zwischen 1994 und 2020 auf insgesamt 19 Hefte.  Zwar stehen regional- und lokalgeschichtliche Perspektiven darin im Vordergrund, doch thematisieren die zahlreichen Aufsätze häufig grundsätzliche historische Forschungsfragen, teilweise sogar zum ersten Mal. Das Kaleidoskop der Beiträge reicht von Aspekten der Täterforschung über die Geschichte der verschiedenen Lager und den Umgang der Nachkriegsjustiz mit den NS-Verbrechen bis hin zu Fragen der musealen Präsentation. Auch die vergessenen und verdrängten Opfergruppen, wie die sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, werden behandelt. Um den Wert der Hefte zu verdeutlichen, muss man wissen, dass es bis zur Mitte der neunziger Jahre so gut wie keine wissenschaftliche Forschung über die Geschichte der Konzentrationslager gab.

Mir als ehemaligen Leiter einer der beiden nach der Wiedervereinigung besonders im geschichtspolitischen Streit stehenden KZ-Gedenkstätten, Buchenwald und Sachsenhausen, ist außerdem wichtig, ein weiteres großes  Verdienst Garbes in dieser entscheidenden Phase der Modernisierung und Umgestaltung hervorzuheben:  Anders als andere Urgesteine der westdeutschen Gedenkstättenbewegung sah der Leiter von Neuengamme nach anfänglichen Irritationen wegen einer nicht zu Unrecht befürchteten Relativierung der NS-Verbrechen im Zuge des Aufarbeitungsprozesses der SED-Diktatur vornehmlich die Chancen, die der Paradigmenwechsel bedeutete. Das Urgestein wurde, um im Bild zu bleiben, zu einem der tragenden Brückenpfeiler zwischen heftig widerstreitenden Positionen der Erinnerungspolitik.  Das lag nicht nur an seinem verbindlichen dialogischen Aushandlungsstil, sondern gerade auch an dem beruflichen Selbstverständnis als Wissenschaftler und Museumsmensch. Das in den neunziger Jahren auf Bundesebene durchgesetzte Konzept moderner Gedenkstätten als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben stieß bei ihm daher auf breite Zustimmung und Unterstützung. Er empfand es nicht als antiquarisch oder gar bildungsfeindlich, sondern als ein Weg, historische Forschung, museale Bewahrung, Denkmalschutz und moderne Präsentationsformen mit emphatischem Gedenken und moderner Pädagogik zu verbinden. Insoweit war es konsequent und richtig, dass die verschiedenen Bundesregierungen ihn als Vertreter der Länder in das Expertengremium der Bundeskulturbeauftragten beriefen, das über die Verteilung der sogenannten Projektmittel entscheidet. Gleichermaßen logisch war es, dass Garbe, der sich aktiv in der 1997 gegründeten Arbeitsgemeinschaft der Leiter der großen KZ-Gedenkstätten engagierte, 2018 zu deren Sprecher bestimmt wurde.

Die in den Jahren 1989 bis 2002 voran getriebenen inhaltlichen und praktischen Modernisierungen waren die Voraussetzung, dass in den folgenden drei Jahren bis zum 60. Jahrestag der Befreiung die umfassende Neugestaltung realisiert werden konnte. Institutionell allerdings blieb der Wandlungsprozess insoweit lange Zeit unvollständig, als die KZ-Gedenkstätte mit ihren Außenstellen am Bullenhuser Damm, in Poppenbüttel und Fuhlsbüttel eine nachgeordnete staatliche Einrichtung blieb. Die Selbständigkeit und die damit verbundene institutionelle Förderung durch den Bund strebte Garbe zwar an, konnte aber die dem Bundestrend folgende Umwandlung in eine politisch unabhängige, selbständige Stiftung erst 2020 erreichen.  Obwohl gerade in den letzten Jahren die Erinnerungskultur in der Hansestadt eine beeindrucke Ausgestaltung erfahren hat, an der der Leiter von Neuengamme großen Anteil hatte, sieht Detlef Garbe spätestens seit 2015 die geschichtspolitische Erfolgsgeschichte der Gedenkstätten eher wieder im Gegenwind. Nur wenige Jahre nach seinem häufig zitierten Aufsatz über die Entwicklung der Gedenkstätten von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur konstatiert er ein vor allem aus intellektuellem Milieu geäußertes neues Unbehagen an der Erinnerungskultur. Drei Gefahren, die die bisherige Erfolgsgeschichte bedrohen, meint er dabei identifizieren zu können: 1. Die Gefahr des Aufarbeitungsstolzes, 2. Den drohenden Verlust der gesellschaftlichen Unterstützung im Zeichen des Endes der Zeitzeugenschaft und des Rückzugs der Aufarbeitungsgeneration sowie 3. die erneut wachsende Gefahr der Relativierung der NS-Verbrechen. Er verweist dabei u. a. auf die Versuche von europäischen Politikern und der EU-Kommission, ein historisches Masternarrativ quasi per Dekret durchzusetzen, das einer banalisierten Totalitarismustheorie folgt. Natürlich entwickelt Garbe im gleichen Atemzug eine Reihe von Initiativen und Vorschlägen, wie die Gedenkstätten diesen Gefahren begegnen sollten. Dabei spart er auch nicht an Selbstkritik, etwa wenn er zu bedenken gibt, dass im Streben nach wissenschaftlicher Objektivität die Gedenkstätten in ihren Ausstellungen und Präsentationen das Verstörende zu sehr eingeebnet hätten. „Verlieren aber Gedenkstätten das Unbequeme und ihre Anstößigkeit“, dann, so befürchtet er, „sind sie als Lernorte nicht zukunftsfähig.“[1]

In meiner kurzen Würdigung ist leider nicht die Zeit, diesen spannenden Diskurs über eine neuerliche „Zeitenwende“ in der deutschen Erinnerungskultur zu vertiefen. Anzeichen dafür gibt es sehr wohl. Da Ich aber von den Organisatoren gebeten wurde, in meiner Funktion als Vorsitzender der Fachkommission zu sprechen, will ich es keinesfalls versäumen, im Namen aller Kolleginnen und Kollegen, die die Gedenkstätte und Stiftung in inhaltlichen Fragen beraten dürfen, ganz herzlich für eine wirklich sehr gute, vertrauensvolle,  stets anregende und angenehme Zusammenarbeit zu danken. In der Fachkommission sind sowohl auswärtige Experten als auch Vertreterinnen und Vertreter der vielfältigen Hamburger Wissenschaftslandschaft präsent. Dabei kann ich mich als langjähriges Mitglied kaum an irgendwelche Konkurrenzen oder Unstimmigkeiten erinnern. Die Fachkommission hat im Gegenteil die anregenden wissenschaftlichen Forschungsleistungen der Gedenkstätte und ihres Direktors stets als wertvolle, qualitativ herausragende und innovative Ergänzung der universitären und außeruniversitären Forschungleistungen begrüßt und entsprechend gewürdigt. Für dieses fruchtbringende Miteinander waren zu einem Teil die von Garbe intensiv gepflegten persönlichen Kontakte und Freundschaften ein kaum zu überschätzender Vorteil. Zum anderen Teil ist sie das Ergebnis seiner persönlichen Überzeugung und Berufsauffassung, die ich abschließend zitieren will: „Ohne Wissen über die Ereignisse und Personen, an die erinnert und um die getrauert werden soll, ist Gedenken nicht möglich. Die wissenschaftliche Erschließung der jeweiligen historischen Orte ist zudem Voraussetzung jeder Vermittlungstätigkeit und pädagogischen Bemühung. Insofern ist die Forschung keine additive Aufgabe, sondern Grundbestandteil jeder Gedenkstättenarbeit.“[2]


[1] Detlef Garbe, Gedenkstätten in der Bundesrepublik. Eine geschichtspolitische Erfolgsgeschichte im Gegenwind, in: Detlef Garbe, Neuengamme im System der Konzentrationslager. Studien zur Ereignis- und Rezeptionsgeschichte, Berlin 2015, S. 485.

[2] Detlef Garbe, Eine ‚moderne‘ Gedenkstätte? Die Konzeption der KZ-Gedenkstätte neuengamme als zeitgeschichtliches Museum und historisch-politische Bildungsstätte, in: Ebenda,  S. 439.

„Jetzt spricht der Historiker. Presseartikel von Klaus D. Grote im Oranienburger Generalanzeiger vom 11./12.2021, S. 3

ORANIENBURG Sonnabend/Sonntag, 11./12. Dezember 2021
Nach der Veröffentlichung eines
Gutachtens über Gisela Gneist reißt die Kritik
an der Benennung einer Straße nach ihr in
Oranienburg nicht ab. Jetzt äußert sich der
frühere Gedenkstättenleiter Günter Morsch.
Von Klaus D. Grote

Im Streit um die Benennung einer
Straße im Baugebiet am Aderluch
nach Gisela Gneist hat sich jetzt
der Historiker und frühere Stiftungsdirektor
Günter Morsch zu
Wort gemeldet. In einem Brief an
Bürgermeister Alexander Laesicke (parteilos)
und an die Stadtverordnetenversammlung
weist Morsch Behauptungen
der Union der Opferverbände kommunistischer
Gewaltherrschaft (UOKG) zurück.
Im Gespräch mit der Redaktion
geht Morsch zudem auf seine persönlichen
Auseinandersetzungen mit der 2007
verstorbenen Gisela Gneist ein, die Vorsitzende
der Arbeitsgemeinschaft (AG)
Lager Sachsenhausen war.
Wie berichtet, hatte die UOKG auf ein
im Auftrag der Gedenkstätte Sachsenhausen
vom Institut für Zeitgeschichte
München-Berlin erstelltes Gutachten
über Gisela Gneist reagiert. Der frühere
CDU-Landtagsabgeordnete und
UOKG-Vorsitzende Dieter Dombrowski
erkennt in dem Gutachten keine Gründe,
von der Gisela-Gneist-Straße abzurücken
und bittet Bürgermeister und
Stadtverordnete am Namen festzuhalten.
Außerdem erklärt Dombrowski, es sei
„kein Sakrileg“, sich wie Gneist kritisch
mit Günter Morsch auseinanderzusetzen.
„Herr Professor Morsch musste sich
während seiner aktiven Zeit als Leiter der
Gedenkstätte Sachsenhausen auch im
Kulturausschuss des Landtages kritischen
Fragen stellen, weil er die Opfer
des sowjetischen Speziallagers von 1945-
1950 nicht ausreichend in Gedenken und
Aufarbeitung miteinbezogen hatte“,
schrieb Dombrowski.
Morsch weist dies entschieden zurück
und verweist auf einen Konsens, den er
mit der damaligen CDU-Vorsitzenden
und Kulturministerin Johanna Wanka, die
auch Vorsitzende des Stiftungsrates der
Gedenkstättenstiftung war, in Bezug auf
die Gedenkstättenarbeit gehabt habe.
Auch bei zahlreichen Besuchen von
CDU-Abgeordneten in der Gedenkstätte
habe es selten kritische Nachfragen
gegeben. „Ganz überwiegend drückten
sie dabei ihr Lob und ihre Anerkennung
für die Arbeit der Gedenkstätte gerade
auch im Umgang der Stiftung mit der
zweifachen Vergangenheit Sachsenhausens
aus“, schreibt Morsch.
Der Historiker verweist zudem auf einen
von ihm und Ines Reich 2005 veröffentlichten
Text, der auch im Museum über
die Speziallager zu lesen ist. Darin heißt
es: „Mindestens 12.000 Menschen starben
zwischen 1945 und 1950 an Hunger,
Krankheiten und Seuchen in diesem Lager,
in dem neues Leid und Unrecht geschah,
das selbst vor dem Hintergrund
der Völker- und Kriegsverbrechen des
Nationalsozialismus nicht zu rechtfertigen
ist. In Sachsenhausen, wo auf das Nationalsozialistische
Konzentrationslager
das sowjetische Speziallager folgte, darf
das eine durch das andere weder relativiert
noch bagatellisiert werden.“ Gisela
Gneist habe bei der Eröffnung des Museums
für die Speziallager gegen die Ausstellung
demonstriert, so Morsch.
Wichtig sind diese Erklärungen auch
deshalb, weil Gisela Gneist Morsch wiederholt
vorgeworfen hatte, die Opfer des
Speziallagers nicht ausreichend zu würdigen.
Sie unterstellte ihm auch, diese als
„Opfer zweiter und dritter Klasse“ bezeichnet
zu haben. Weil Gneist trotz der
Aufforderung von Morsch zur Unterlassung
diese Behauptung wiederholte, verklagte
er die AG auf Unterlassung. Das
Gericht habe ihm damals Recht gegeben,
so Morsch. Die AG hätte bei Wiederholung
eine hohe sechsstellige Strafe zahlen
müssen. Die damalige Ministerin
Johanna Wanka habe ihn danach darum
gebeten, von weiteren Klagen gegen unwahre
Aussagen und Verleumdungen
der AG abzusehen, berichtet Morsch.
Es sei dann zu einem Gespräch zwischen
ihm und der AG gekommen, bei
dem der frühere Thüringer Ministerpräsident
Bernhard Vogel als Vermittler
auftrat.
Anders als unter ihren beiden
Vorgängern sei unter dem Vorsitz
von Gisela Gneist ein konstruktiver
Dialog mit der Lagergemeinschaft
nur schwer möglich gewesen, sagt
Morsch. Das habe sich mit der
Wahl des heutigen Vorsitzenden
wieder normalisiert. Die AG
habe das Leid der KZ-Häftlinge
relativiert sowie die Existenz
der Gaskammer in Sachsenhausen
bestritten und sich dabei
auf Aussagen eines ehemaligen
SS-Offiziers berufen, der auch
die Ermordung von mehr als
10.000 sowjetischen Häftlingen
geleugnet habe, so Morsch.
Selbst eine Schilderung, wonach
während des Todesmarsches viele
KZ-Häftlinge unter Kälte und Regen litten,
habe Gneist abgestritten. Es sei damals
sonnig und warm gewesen, habe sie
behauptet. Mit dem archivierten Wetterbericht
der Roten Armee habe er die Darstellung
der Gedenkstätte belegen
können.
„Die AG hat immer wieder versucht,
die Verbrechen der Nationalsozialisten
in Sachsenhausen zu relativieren“,
sagt der frühere Stiftungsdirektor
und Gedenkstättenleiter.
„Gleichzeitig unterstellte sie, die Gedenkstätte
verschweige die Existenz
von Massengräbern der Speziallager,
da sie entgegen wissenschaftlicher
Forschungen an völlig überhöhten
Totenzahlen festhielt“, so Morsch.
„Selbst die großflächigen Grabungen
und Bodenuntersuchungen von Archäologen
konnten die AG nicht
überzeugen.“ Quasi im Gegenzug, so
Morsch, bezeichnete die AG die von
der Gedenkstätte vorgelegten Schätzungen
über die Anzahl der Ermordeten
und Verstorbenen im Konzentrationslager
Sachsenhausen als grobe
Übertreibungen.
Schließlich wollte die Lagergemeinschaft
1996 ihren „Lagerkameraden“,
den Euthanasiearzt Hans Heinze,
anlässlich dessen 101. Geburtstages
ehren. Heinze war in der NS-Zeit
in der Landesheilanstalt Brandenburg-
Görden mitverantwortlich für
die Ermordung von kranken und behinderten
Menschen. Dort wurden
unter Heinze allein mehr als 100 Kinder
durch Giftgas erstickt und ihre
Gehirne an ein Forschungsinstitut in
Berlin versendet. Gisela Gneist habe sich
von der geplanten Ehrung für Heinze
trotz seiner Bitten nie öffentlich distanziert,
sagt Günter Morsch.
Die frühere Vorsitzende der Lagergemeinschaft
habe die deutsche Gedenkkultur
und ihn persönlich immer wieder
angegriffen. Dies habe mit dazu beigetragen,
dass er zur Zielscheibe von
Rechtsextremisten wurde, erklärt
Morsch. Es habe Mordaufrufe in sozialen
Medien gegeben. „Die AG sah aber
keinen Grund, sich davon öffentlich zu
distanzieren“, so Morsch. Er habe
schließlich sogar auf der Todesliste der
NSU-Terroristen gestanden. „Uwe Bönhardt
hat mich handschriftlich dort eingetragen.“
Auf die Frage, ob er Gisela Gneist für
geeignet als Namensgeberin einer Straße
halte, antwortet Morsch: „Nein, natürlich
nicht.“ Unabhängig von dem
schweren Leid und Unrecht, das Gisela
Gneist in ihrer Lagerhaft von
1945 bis 1950 zweifelsfrei erfahren
und an dem sie wohl bis an ihr
Lebensende sehr gelitten habe,
habe sie die Erinnerungspolitik
der Bundesrepublik und des Landes
Brandenburg „auf hochproblematische
Weise bekämpft“.
Sollte die Stadt an der Gisela-
Gneist-Straße festhalten und
die Rolle der Namensgeberin
ignorieren, „dann droht Oranienburg
in den Augen einer kritischen
Öffentlichkeit im In- und
Ausland das Dachau der
60er-Jahre zu werden“, warnt
Morsch. In Dachau bei München
wurde die KZ-Gedenkstätte
erst 1965 eröffnet.
Davor gab es Bestrebungen,
Spuren des Lagers
zu tilgen und das ehemalige
Krematorium
abzureißen.
Die Kritik an der
Straßenbenennung für
das Neubaugebiet auf
dem Gelände des ehemaligen
KZ-Außenlagers
„Zeppelin“ begann
mit dem Beschluss
im vergangenen
Jahr. Sie setzt sich
nun fort. Die norwegische
Online-Zeitung
Nettavisen titelte nun:
„Nazistraße durch
ehemaliges Konzentrationslager.“

Stellungnahme zum offenen Brief des Vorstandsvorsitzenden der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) Dieter Dombrowski vom 2. Dezember 2021 betr. Straßenbenennung auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenkommandos „Zeppelin“ nach Gisela Gneist

Betr.: Stellungnahme des vormaligen Direktors der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (1997-6/2018) zum  Brief des Vorstandsvorsitzenden der UOKG vom 2.12.2021 betr. Straßenbenennung Gisela Gneist

                                                                                         Oranienburg, den 4. Dezember 2021

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Stadtverordnete,

im Internet wird oben genannter offener Brief des Vorsitzenden der UOKG verbreitet, in dem auch meine Person namentlich in einem, wie ich meine, nicht richtigen Zusammenhang kritisiert wird. Dazu sende ich Ihnen folgende Stellungnahme mit der Bitte zu, diese auch allen Stadtverordneten zukommen zu lassen. Sollten sich daraus Fragen an mich ergeben, so würde ich mich freuen, diese auf die eine oder andere Weise beantworten zu dürfen:                                        

Es ist zweifellos richtig, dass, wie in dem oben genannten Brief angeführt wird,  es“ kein Sakrileg“ war und ist, sich kritisch mit der u. a. vom Stiftungsdirektor verantworteten Erinnerungspolitik  auseinanderzusetzen – und dies gilt nicht nur hinsichtlich der Bewertung der Geschichte der sowjetischen Speziallager. Dabei verschweigt der Vorstand der UOKG bedauerlicherweise aber, dass diese nicht allein vom Stiftungsvorstand, sondern vor allem auch von den Beratungs- und Beschlussgremien der Stiftung konsensual erarbeitet und getragen wurde. Lange Jahre, während derer u. a. das neu errichtete Museum sowjetisches Speziallager eröffnet wurde, stand an der Spitze des von Bund und Land sowie von den Repräsentanten der Opferverbände getragenen Stiftungsrates Kulturministerin Prof. Dr. Johanna Wanka, Mitglied und zeitweise sogar Vorsitzende der brandenburgischen CDU. Der Vorsitzende der UOKG Dieter Dombrowski gehörte seinerzeit  auch zur CDU-Fraktion des Brandenburgischen Landtages. Die Abgeordneten haben über viele Jahre regelmäßig, mindestens einmal jährlich, den Bericht des Stiftungsvorstandes zur Kenntnis genommen. Kritische Nachfragen von Abgeordneten daran hat es dabei höchstens vereinzelt gegeben. Hingegen kamen Abgeordnete, insbesondere  des Kulturausschusses, nicht selten zur Ortsbesichtigung in die Gedenkstätte Sachsenhausen. Ganz überwiegend drückten sie dabei ihr Lob und ihre Anerkennung für die Arbeit der Gedenkstätte gerade auch im Hinblick auf den Umgang der Stiftung mit der zweifachen Vergangenheit Sachsenhausens aus. Der Stiftungsdirektor hatte dazu eine neun Punkte umfassende Erklärung der Leitlinien zum Gedenken an Orten zweifacher Vergangenheit schriftlich vorgelegt, die nicht nur von den beiden Arbeitsgruppen des internationalen Beirats, sondern dezidiert auch vom damaligen Innenminister und CDU-Vorsitzenden Jörg Schönbohm (CDU) gebilligt wurden.

 Leider verschweigt das Anschreiben der UOKG auch , dass sich die „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945-1950“ (AG)  in ihren Kampagnen gegen die die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten im Allgemeinen und den Stiftungsdirektor im Besonderen – im Sprachgebrauch der AG wurde er als „ultralinker Alt-68-iger“ denunziert –   jedoch auch Methoden der Verleumdung bediente, die von einem ordentlichen Gericht als Lügen enttarnt und im Falle der Wiederholung mit einer hohen, sechsstelligen Geldstrafe sanktioniert wurden. Trotzdem hat sich die AG dieser formellen Rechtsprechung nicht gebeugt, sondern selbst bei offiziellen Anlässen ihre nachweislich falschen Behauptungen wiederholt, weshalb sie teilweise sogar in Publikationen Eingang fanden. Auch hat sich die AG zur Amtszeit von Gisela Gneist trotz vielfacher Bitten des Stiftungsdirektors nicht öffentlich von rechtsextremistischen Aktivitäten im Umfeld der Gedenkstätte Sachsenhausen distanziert, sondern in dieser Zeit eher Kontakte in dieses Milieu gesucht. So hat sich die AG auch nicht gegen Mordaufrufe in den einschlägigen sozialen Medien der Neonazis gewandt, die sich mit Verweis auf Kritik der AG an der Erinnerungspolitik der Stiftung gegen den damaligen Stiftungsdirektor persönlich richteten. Dies gilt nicht weniger für die Gedenkveranstaltung für den Massenmörder und maßgeblichen Gutachter der sogenannten Kindereuthanasie Prof. Heinze. Vielmehr hat die Vorsitzende der AG  in einer öffentlichen Veranstaltung, an der sie gemeinsam mit dem Stiftungsdirektor auf dem Podium teilnahm,  das Gedenken an den Massenmörder Heinze noch nachträglich mit dem Verweis auf seine Rehabilitation durch die russische Staatsanwaltschaft gerechtfertigt. Weitere Beispiel ließen sich leicht ergänzen. Einige wenige davon sind , wie die antisemitischen Ausfälle von Frau Gneist gegenüber dem Stiftungsdirektor, im Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte erwähnt.

Der im letzten Absatz des Briefes formulierte Grundsatz „Auch wenn das NS-Unrecht…als Begründung herangezogen werden.“ – war eine in der Stiftung  sowohl von den Stiftungsgremien als auch von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stets getragene Leitlinie ihrer historischen Bewertung des sowjetischen Speziallagers. Nachzulesen ist eine solche Passage etwa in dem von Günter Morsch und Ines Reich herausgegebenen Band „Sowjetisches Speziallager Nr. 7/Nr. 1 in Sachsenhausen (1945-1950)“, Berlin 2005, S. 49, wo es heißt: „Mindestens 12.000 Menschen starben zwischen 1945 und 1950 an Hunger, Krankheiten und Seuchen in diesem Lager, in dem neues Leid und Unrecht geschah, das selbst vor dem Hintergrund der Völker- und Kriegsverbrechen des Nationalsozialismus nicht zu rechtfertigen ist. In Sachsenhausen, wo auf das Nationalsozialistische Konzentrationslager das sowjetische Speziallager folgte, darf das eine durch das andere weder relativiert noch bagatellisiert werden.“ Dieser Satz ist Teil des einleitenden Museumstextes. Nicht nur in der nach wie vor existierenden Dauerausstellung des Museums, die von Wissenschaft und Öffentlichkeit ganz überwiegend als beispielhaft gelobt wurde, sondern auch in den zahlreichen Reden des damaligen Stiftungsdirektors  finden sich ähnliche Formulierungen. Sie spiegeln den Forschungsstand, wie er in zwei  von der Wissenschaft allgemein als Standartwerke bezeichneten und u. a. auch von Günter Morsch herausgegebenen, dickleibigen Publikationen zur Geschichte der sowjetischen Speziallager veröffentlicht wurde. Auch andere in der Amtszeit von Günter Morsch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte Sachsenhausen publizierte Schriften zur Geschichte der sowjetischen Speziallager in Brandenburg, werden nach wie vor als Grundlagenwerke verlegt.

Spätestens mit der Wahl von Dieter Dombrowski  2015 zum Vorstandsvorsitzenden der UOKG und  eines neuen Vorsitzenden der AG begann nach schwierigen Jahren der Zusammenarbeit in der Amtszeit von Frau Gneist eine erneute Phase des Dialogs mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Konstruktive Lösungen wurden gemeinsam gesucht und erreicht;  polemische und verleumderische Angriffe auf Wissenschaftler und Gedenkstättenmitarbeiter seitens einzelner Verbände  der UOKG , wie die von einem Gericht verurteilten tätlichen Angriffe eines Repräsentanten der UOKG auf die Leiterin der Gedenkstätte  Potsdam-Leistikowstraße, gehören zunehmend der Vergangenheit an. Dieser erfolgversprechende und kooperative Weg sollte weiter verfolgt werden. Dazu gehört aber auch, dass sich die Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft von revisionistischen, rechtsradikalen, antisemitischen  und verleumderischen Angriffen und Tendenzen der Vergangenheit endlich öffentlich und ehrlich distanzieren.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Günter Morsch

Menschen im Fadenkreuz des rechten Terrors. Vortrag auf der Landesstrategiekonferenz Politisch motivierte Kriminalität 5. November 2021

Pressestelle.PP@polizei.Brandenburg.de

Pressemeldung Nr. 29/2021 vom 5.11.2021

„G. Morsch/H. Seferens (Hrsg.), Gestaltete Erinnerung. 25 Jahre Bauen in der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 1993-2018“. Rezension von Matthias Richter, in: Märkische Allgemeine Zeitung, 21. Januar 2021, S. 10

„Jeder Stein vermittelt eine Geschichte“

30 Jahre Brandenburg. Jeder Stein vermittelt eine Geschichte. Mit Historiker Günter Morsch in der Gedenkstätte Sachsenhausen.

Claudia Duda, in Märkische Oderzeitung/Oranienburger Generalanzeiger, 29. August 2020