Rede zur Verabschiedung von Stiftungsdirektor Prof. Dr. Detlef Garbe in den Ruhestand, Hamburg, den 30. Juni 2022

Prof. Dr. Günter Morsch

HAMBURG, DEN 30. JUNI 2022

Prof. Dr. Günter Morsch

Vorsitzender der Fachkommission der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung  an die Opfer der NS-Verbrechen

Sehr geehrte Frau Präsidentin

Sehr geehrter Herr Senator, lieber Herr Brosda

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Lieber Detlef,

Die Erinnerungskultur in Deutschland hat in den vergangenen vierzig Jahren einen starken und grundlegenden Wandel erlebt. Von der Leugnung, Verharmlosung, Verdrängung und Relativierung der NS-Verbrechen, die noch in den späten siebziger Jahre in der Bundesrepublik die Regel waren bis hin zu der sowohl in der Breite als auch in der Tiefe eindrucksvoll entwickelten Gedenkstättenlandschaft unserer Tage. Wie immer in der Geschichte gibt es auch in der Entwicklung der Erinnerungskultur Phasen, Brüche und Wendepunkte. Schauen wir uns dabei die verschiedenen Veränderungen, Wandlungen, Übergänge und Neugestaltungen näher an und fragen danach, wie sie zustande kamen, dann können wir nach meiner festen Überzeugung  konstatieren, dass Detlef Garbe dabei häufig eine wichtige Rolle als Initiator, Akteur, Gestalter, Historiker und Gedenkstättenvertreter spielte. Dass er dies natürlich nicht allein tat, sondern im Verbund mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern versteht sich nicht nur von selbst, sondern charakterisiert eine seiner wichtigsten Handlungsmaximen, die für den Erfolg verantwortlich waren und sind.

Mit einer etwa zehnjährigen Verspätung gegenüber den historischen Museen begannen sich verschiedene Initiativen Anfang der achtziger Jahre in der Bundesrepublik mit den „vergessenen KZ’s“ zu beschäftigen. Der damals 25 Jahre alte Student der Geschichte und Theologie gehörte einem Kreis von Initiatoren um die 1981 eröffnete und von Ludwig Eiber geleitete Dokumentationsstätte Neuengamme an, damals eine Untergliederung des Museums für Hamburgische Geschichte. Als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen kannte er die wesentlich weiter entwickelten KZ-Gedenkstätten in Polen. Sie verfügten ebenso wie die großen Mahn- und Gedenkstätten in der DDR über beachtliche Sammlungen, Archive, pädagogische Abteilungen sowie große Dauerausstellungen. Von Umfang und vom Selbstverständnis solcher großer Gedenkstätten waren auch die wenigen kleinen und häufig ehrenamtlich betriebenen Einrichtungen in der BRD noch meilenweit entfernt. Es konnte auf dem Boden einer durch den Zeitgeist der späten sechziger und siebziger Jahre sowie durch die weite Verbreitung des amerikanischen Fernsehfilm „Holocaust“ bewirkte allmähliche Zerbröckeln der Mauer aus Verdrängen und Verschweigen  zunächst nur darum gehen, die verschiedenen von den Verbänden der Überlebenden mitgetragenen Initiativen zusammenzubringen. Ein solches erstes Treffen, aus dem schließlich die bis heute regelmäßig stattfindenden Gedenkstättenseminare hervorgingen, fand in Hamburg statt. Der aus den verschiedenen Tagungsbeiträgen entstandene Sammelband wurde 1983 von Detlef Garbe unter dem Titel „Die vergessenen KZ’s“ herausgegeben. Die darin von Herausgeber im Vorwort gezogene Bilanz der deutschen Erinnerungskultur, von ihm als „organisierte Vergesslichkeit“ bezeichnet, war für die Bundesrepublik peinlich und beschämend.

Parallel zu den Bemühungen der grassroot-Bewegung, Gedenkstätten an den historischen Orten des Terrors zu gründen und zu etablieren, begann die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verfolgung der bisher vergessenen, verdrängten und häufig nach wie vor diskriminierten Opfergruppen, wie der Homosexuellen, der Sinti und Roma, der sowjetischen Kriegsgefangenen, der Wehrdienstverweigerer oder der sogenannten Bibelforscher. Die Anfänge seiner Beschäftigung mit dem Schicksal der Zeugen Jehovas setzte Garbe im Laufe der achtziger Jahre im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen fort.  Er widmete seine Dissertation der systematischen Verfolgung und dem erstaunlichen Widerstand dieser religiösen Sekte. Seine 1993 publizierte Studie gilt nach wie vor als ein Standartwerk, das viele weitere Forschungen zur Geschichte der Zeugen Jehovas initiiert hat. Sie hat seitdem vier Auflagen erlebt. 2008 erschien in Kooperation mit dem US-Holocaust-Museum auch eine englische Übersetzung.

Blick man auf diese erste Phase zurück und betrachtet die Rolle von Detlef Garbe in dieser Zeit, so kann man ihn wohl als ein Urgestein der von unten entstandenen und erkämpften bundesdeutschen Gedenkstättenbewegung bezeichnen. Er war als Teil seiner Generation über die Erinnerungsverweigerung der Eltern und Großeltern tief erschrocken. Für sie war die von zahlreichen Skandalen geprägte Nachgeschichte des NS-Terrors Teil der eigenen Lebenserfahrung. Sie waren im wörtlichen Sinn davon betroffen, wurden häufig als „Nestbeschmutzer“ beschimpft und nicht selten mit Ausrufen wie „Euch hat man vergessen zu vergasen!“ verbal und physisch bedroht. Umso unverständlicher und absurder ist es für mich, wenn gelegentlich denjenigen, die sich vor dem Hintergrund der nachwirkenden Diskriminierung mit den Verfolgten solidarisierten,  unterstellt wird, sie hätten durch Identifikation mit den Opfern der Beschäftigung mit den Tätern ausweichen wollen.

Die deutsche Einheit führte zu einem weiteren in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden grundsätzlichen Wandel in der deutschen Erinnerungskultur. Er kann als ein wirklicher Paradigmenwechsel bezeichnet werden. Denn die maßgeblichen Politiker fragten nun nicht mehr, was sie tun könnten, um den Forderungen der Gedenkstättenbewegung entgegenzukommen, sondern sie betrachteten umgekehrt die Fortentwicklung der deutschen Erinnerungskultur als eine conditio sine qua non, um die außenpolitische Akzeptanz des vereinten Deutschland vor allem in seinen Nachbarstaaten zu erreichen. Es war wohl eher ein glücklicher Zufall, dass zum gleichen Zeitpunkt Detlef Garbe die Leitung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme übertragen wurde. Zwei Jahre später legte eine Expertenkommission ein umfassendes Konzept zur Neugestaltung vor. Darin wurden nicht nur die Ausdehnung der Gedenkstätte auf das ehemalige, von der Justizvollzugsanstalt genutzte Häftlingslager, sondern auch wichtige Fortschritte hin zu einem modernen Ausstellungs- und Lernort vorgeschlagen. Die Umsetzung dieser weitreichenden Pläne konnte zwar erst rund zehn Jahre später nach dem durch die neue Regierungskoalition aus CDU, Schill-Partei und FdP verursachten national und international Aufsehen erregenden Skandal seit Frühjahr 2002 realisiert werden. Trotzdem trieb die neue Gedenkstättenleitung die Modernisierung, Professionalisierung und Neugestaltung in vielen Bereichen schon in den neunziger Jahren energisch voran.

Als ein Beispiel dafür will ich die von der Gedenkstätte Neuengamme und ihrem Leiter herausgegebene wissenschaftliche Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ nennen. Sie brachte es zwischen 1994 und 2020 auf insgesamt 19 Hefte.  Zwar stehen regional- und lokalgeschichtliche Perspektiven darin im Vordergrund, doch thematisieren die zahlreichen Aufsätze häufig grundsätzliche historische Forschungsfragen, teilweise sogar zum ersten Mal. Das Kaleidoskop der Beiträge reicht von Aspekten der Täterforschung über die Geschichte der verschiedenen Lager und den Umgang der Nachkriegsjustiz mit den NS-Verbrechen bis hin zu Fragen der musealen Präsentation. Auch die vergessenen und verdrängten Opfergruppen, wie die sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, werden behandelt. Um den Wert der Hefte zu verdeutlichen, muss man wissen, dass es bis zur Mitte der neunziger Jahre so gut wie keine wissenschaftliche Forschung über die Geschichte der Konzentrationslager gab.

Mir als ehemaligen Leiter einer der beiden nach der Wiedervereinigung besonders im geschichtspolitischen Streit stehenden KZ-Gedenkstätten, Buchenwald und Sachsenhausen, ist außerdem wichtig, ein weiteres großes  Verdienst Garbes in dieser entscheidenden Phase der Modernisierung und Umgestaltung hervorzuheben:  Anders als andere Urgesteine der westdeutschen Gedenkstättenbewegung sah der Leiter von Neuengamme nach anfänglichen Irritationen wegen einer nicht zu Unrecht befürchteten Relativierung der NS-Verbrechen im Zuge des Aufarbeitungsprozesses der SED-Diktatur vornehmlich die Chancen, die der Paradigmenwechsel bedeutete. Das Urgestein wurde, um im Bild zu bleiben, zu einem der tragenden Brückenpfeiler zwischen heftig widerstreitenden Positionen der Erinnerungspolitik.  Das lag nicht nur an seinem verbindlichen dialogischen Aushandlungsstil, sondern gerade auch an dem beruflichen Selbstverständnis als Wissenschaftler und Museumsmensch. Das in den neunziger Jahren auf Bundesebene durchgesetzte Konzept moderner Gedenkstätten als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben stieß bei ihm daher auf breite Zustimmung und Unterstützung. Er empfand es nicht als antiquarisch oder gar bildungsfeindlich, sondern als ein Weg, historische Forschung, museale Bewahrung, Denkmalschutz und moderne Präsentationsformen mit emphatischem Gedenken und moderner Pädagogik zu verbinden. Insoweit war es konsequent und richtig, dass die verschiedenen Bundesregierungen ihn als Vertreter der Länder in das Expertengremium der Bundeskulturbeauftragten beriefen, das über die Verteilung der sogenannten Projektmittel entscheidet. Gleichermaßen logisch war es, dass Garbe, der sich aktiv in der 1997 gegründeten Arbeitsgemeinschaft der Leiter der großen KZ-Gedenkstätten engagierte, 2018 zu deren Sprecher bestimmt wurde.

Die in den Jahren 1989 bis 2002 voran getriebenen inhaltlichen und praktischen Modernisierungen waren die Voraussetzung, dass in den folgenden drei Jahren bis zum 60. Jahrestag der Befreiung die umfassende Neugestaltung realisiert werden konnte. Institutionell allerdings blieb der Wandlungsprozess insoweit lange Zeit unvollständig, als die KZ-Gedenkstätte mit ihren Außenstellen am Bullenhuser Damm, in Poppenbüttel und Fuhlsbüttel eine nachgeordnete staatliche Einrichtung blieb. Die Selbständigkeit und die damit verbundene institutionelle Förderung durch den Bund strebte Garbe zwar an, konnte aber die dem Bundestrend folgende Umwandlung in eine politisch unabhängige, selbständige Stiftung erst 2020 erreichen.  Obwohl gerade in den letzten Jahren die Erinnerungskultur in der Hansestadt eine beeindrucke Ausgestaltung erfahren hat, an der der Leiter von Neuengamme großen Anteil hatte, sieht Detlef Garbe spätestens seit 2015 die geschichtspolitische Erfolgsgeschichte der Gedenkstätten eher wieder im Gegenwind. Nur wenige Jahre nach seinem häufig zitierten Aufsatz über die Entwicklung der Gedenkstätten von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur konstatiert er ein vor allem aus intellektuellem Milieu geäußertes neues Unbehagen an der Erinnerungskultur. Drei Gefahren, die die bisherige Erfolgsgeschichte bedrohen, meint er dabei identifizieren zu können: 1. Die Gefahr des Aufarbeitungsstolzes, 2. Den drohenden Verlust der gesellschaftlichen Unterstützung im Zeichen des Endes der Zeitzeugenschaft und des Rückzugs der Aufarbeitungsgeneration sowie 3. die erneut wachsende Gefahr der Relativierung der NS-Verbrechen. Er verweist dabei u. a. auf die Versuche von europäischen Politikern und der EU-Kommission, ein historisches Masternarrativ quasi per Dekret durchzusetzen, das einer banalisierten Totalitarismustheorie folgt. Natürlich entwickelt Garbe im gleichen Atemzug eine Reihe von Initiativen und Vorschlägen, wie die Gedenkstätten diesen Gefahren begegnen sollten. Dabei spart er auch nicht an Selbstkritik, etwa wenn er zu bedenken gibt, dass im Streben nach wissenschaftlicher Objektivität die Gedenkstätten in ihren Ausstellungen und Präsentationen das Verstörende zu sehr eingeebnet hätten. „Verlieren aber Gedenkstätten das Unbequeme und ihre Anstößigkeit“, dann, so befürchtet er, „sind sie als Lernorte nicht zukunftsfähig.“[1]

In meiner kurzen Würdigung ist leider nicht die Zeit, diesen spannenden Diskurs über eine neuerliche „Zeitenwende“ in der deutschen Erinnerungskultur zu vertiefen. Anzeichen dafür gibt es sehr wohl. Da Ich aber von den Organisatoren gebeten wurde, in meiner Funktion als Vorsitzender der Fachkommission zu sprechen, will ich es keinesfalls versäumen, im Namen aller Kolleginnen und Kollegen, die die Gedenkstätte und Stiftung in inhaltlichen Fragen beraten dürfen, ganz herzlich für eine wirklich sehr gute, vertrauensvolle,  stets anregende und angenehme Zusammenarbeit zu danken. In der Fachkommission sind sowohl auswärtige Experten als auch Vertreterinnen und Vertreter der vielfältigen Hamburger Wissenschaftslandschaft präsent. Dabei kann ich mich als langjähriges Mitglied kaum an irgendwelche Konkurrenzen oder Unstimmigkeiten erinnern. Die Fachkommission hat im Gegenteil die anregenden wissenschaftlichen Forschungsleistungen der Gedenkstätte und ihres Direktors stets als wertvolle, qualitativ herausragende und innovative Ergänzung der universitären und außeruniversitären Forschungleistungen begrüßt und entsprechend gewürdigt. Für dieses fruchtbringende Miteinander waren zu einem Teil die von Garbe intensiv gepflegten persönlichen Kontakte und Freundschaften ein kaum zu überschätzender Vorteil. Zum anderen Teil ist sie das Ergebnis seiner persönlichen Überzeugung und Berufsauffassung, die ich abschließend zitieren will: „Ohne Wissen über die Ereignisse und Personen, an die erinnert und um die getrauert werden soll, ist Gedenken nicht möglich. Die wissenschaftliche Erschließung der jeweiligen historischen Orte ist zudem Voraussetzung jeder Vermittlungstätigkeit und pädagogischen Bemühung. Insofern ist die Forschung keine additive Aufgabe, sondern Grundbestandteil jeder Gedenkstättenarbeit.“[2]


[1] Detlef Garbe, Gedenkstätten in der Bundesrepublik. Eine geschichtspolitische Erfolgsgeschichte im Gegenwind, in: Detlef Garbe, Neuengamme im System der Konzentrationslager. Studien zur Ereignis- und Rezeptionsgeschichte, Berlin 2015, S. 485.

[2] Detlef Garbe, Eine ‚moderne‘ Gedenkstätte? Die Konzeption der KZ-Gedenkstätte neuengamme als zeitgeschichtliches Museum und historisch-politische Bildungsstätte, in: Ebenda,  S. 439.

Sitzung der SPD-Landtagsfraktion am 22. Mai 2018: Thesen zur Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur nach der deutschen Einheit

Landtag Brandenburg

SPD-Fraktion

  1. Mai 2018

 

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Gutheil,

sehr geehrter Herr Bischof,

lieber Herr Lüttmann,

sehr geehrte Landtagsabgeordnete,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

ganz herzlich möchte ich mich zunächst für Ihre Einladung bedanken, der ich natürlich sehr gerne gefolgt bin. […] Ich konnte mich auch auf manch gute bis freundschaftliche Verbindungen zu Sozialdemokraten in Brandenburg stützen. Namentlich will ich heute nur Ihren leider viel zu früh verstorbenen Fraktionsvorsitzenden und langjährigen Generalsekretär Klaus Ness nennen. Nicht nur Ness, sondern auch viele andere Sozialdemokraten bis hin zu den Ministerpräsidenten Stolpe, Platzeck und natürlich auch Woidke waren für mich stets ansprechbar und hatten ein offenes Ohr für die Belange der Gedenkstättenstiftung.  Das war und ist nicht selbstverständlich und wurde daher von mir immer dankbar als ein Zeichen besonderer Verbundenheit der Sozialdemokratie mit den authentischen Orten des NS-Terrors sowie des SED-Unrechts angesehen.  Insoweit freue ich mich darüber, Ihnen meinen großen Dank für diese langjährige Unterstützung auch persönlich aussprechen zu können.

Ich bin von Ihrem Referenten Dr. Bengtson-Krallert darum gebeten worden, Ihnen eine Bilanz und ein Resumée der 25 Jahre meiner Tätigkeit als Gedenkstättenleiter und Stiftungsdirektor vorzutragen. Auch wenn Ihr Referent zur nachhaltigen Unterstützung seiner Bitte geschickt darauf hinweist, dass er u. a. bei mir an der Freien Universität Berlin vor nicht allzu langer Zeit, also vor etwa zehn Jahren, studiert hat, so will ich mich jedoch ein Stück weit seinem Wunsch verweigern.  Die Gründe für diese kleine Widerspenstigkeit, für die ich mich bei Ihnen und bei ihm entschuldigen will, liegen weniger darin, dass ich eine solche Gesamtschau in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht leisten kann. Vielmehr will ich als Historiker, der sich der Relativität von Urteilen auf dem Hintergrund der unterschiedlichen Zeitläufe sehr bewusst ist, die Bewertung solcher Bilanzen gerne anderen Experten überlassen. Anstatt dessen möchte ich Ihnen lieber einige Thesen dazu vortragen, wie es zu dem zweifellos gravierenden Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur Deutschlands nach der deutschen Einheit gekommen ist und was die wichtigsten Elemente dieses, wie ich meine überaus erfolgreichen Wandels gewesen sind. Auf dem Hintergrund eines Rückblicks auf die vergangenen 25 Jahre der Entwicklung lassen sich dann vielleicht auch einige Hinweise für künftige Herausforderungen gewinnen, entsprechend der von mir persönlich geschätzten Devise „Die Historiker sind unter den Akademikern die Krebse, sie schreiten rückwärts vorwärts.“

Dazu möchte ich Sie zunächst mit dem Hinweis auf wenige Skandale und Vorkommnisse zurückversetzen in die zugleich hoffnungsvolle wie stürmische Zeit des Aufbruchs und des Neubeginns, die wir, die wir inzwischen selbst Zeitzeugen dieser  unzweifelhaft historischen Phase des Zusammenbruchs sowie des Zusammenwachsens gleichermaßen waren, möglicherweise teilweise bereits vergessen haben. Aus der Fülle der international Aufsehen erregenden Ereignisse, die in den frühen neunziger Jahren, in der Zeit der Neugründung der Bundesrepublik und Europas auch auf die Brandenburger Gedenkstätten einstürzten, will ich nur drei nennen.  Sie werfen gleichwohl scharfe Schlaglichter auf die große politische Brisanz der damaligen Herausforderungen: Der sogenannte Supermarktskandal in Fürstenberg, als die Häftlingsverbände gegen eine vermeintliche kommerzielle Überformung des Gedenkenstättengeländes protestierten, erschien vielen als Menetekel eines vereinten Deutschlands, das die Last der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen endgültig abwirft und hinter sich lässt. Etwa zur gleichen Zeit deckten Einheiten der Bundeswehr in der unmittelbaren Umgebung der Gedenkstätten Sachsenhausen die Massengräber der Opfer der in der DDR tabuisierten sowjetischen Speziallager auf. In der daraufhin heftig entbrannten Debatte über die historische Bewertung und Einordnung der Speziallager öffneten sich die schroffen Fronten und tiefen Gräben  des Kalten Krieges wieder, was vereinzelt in den Gedenkstätten Sachsenhausen und später in der Potsdamer Leistikowstraße sogar zu tätlichen Angriffen führte. Schließlich zündeten Rechtsextremisten im Herbst 1992 die sogenannten jüdischen Baracken in Sachsenhausen an. Der Brand, der nur Teil einer davor und danach sich unheilvoll und schnell ausbreitenden antisemitischen und rassistischen Anschlagswelle mit zahlreichen Opfern vor allem unter Minderheiten sowie Ausländern war, wurde allgemein als ein Fanal empfunden. Quo vadis vereintes Deutschland? – diese Frage stellten sich damals mit Sorge oder sogar Angst viele Menschen nicht nur in der Bundesrepublik, sondern wohl auch in einem großen Teil Europas und der Welt.

Die Gedenkstätten waren kein unwichtiger Teil dieses innen- und außenpolitischen, teilweise krisenhaft verlaufenden Umorientierungs- und Neuordnungsprozesses. Aus den marginalisierten Nischen alternativer und regional beschränkter Gedenkkultur in der Bundesrepublik einerseits und den monumentalisierten Tempeln des Antifaschismus in der DDR andererseits wurden sie in die Arenen geschichtspolitischer Deutungskämpfe der sogenannten Berliner Republik hineingeworfen. Die Politik mit der Geschichte erlebte in dieser Zeit der Neuorientierung einen gewaltigen Aufschwung, wie in einer historischen Phase, in der sich Staaten und Nationen umstrukturierten oder sogar neu bildeten, kaum anders zu erwarten war. Dieser Prozess hat Höhen und Tiefen erlebt. Gerade im Moment erleben wir, wie an vermeintlich sicheren historischen Fundamenten des Selbstverständnisses der Bundesrepublik ebenso wie Europas wieder kräftig gerüttelt wird.

Nichts weniger als ein Paradigmenwechsel in der deutschen Erinnerungskultur war erforderlich, wenn sich die Gedenkstätten in diesem außerordentlich emotionalisierten und geschichtspolitisch aufgeladenen Prozess der  Neugründung der Bundesrepublik behaupten wollten. Dabei standen die Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen vor allem aufgrund ihrer dreifachen Vergangenheit, als nationalsozialistische Konzentrationslager, als sowjetische Speziallager und als große Nationale Mahn- und Gedenkstätten der DDR, im Brennpunkt der erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen, die nicht nur in den Medien und zwischen den Opferverbänden, sondern auch im Deutschen Bundestag sowie in den Länderparlamenten  mehrfach, ausführlich und nicht selten polemisch geführt wurden. Dem Land Brandenburg kommt der Verdienst zu, schon sehr bald nach der deutschen Einheit erkannt zu haben, dass ein solcher Paradigmenwechsel eines offenen Diskurses zwischen Politik und Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Gedenkstättenexperten sowie Medien und Opfer- bzw. Interessenverbänden bedarf. Mit der Einsetzung einer Expertenkommission, die auf dem Hintergrund einer sorgfältigen Betrachtung und Analyse des status quo nicht nur Empfehlungen zur Neukonzeption und Neugestaltung der großen Gedenkstätten erarbeitete und zur Diskussion stellte, sondern auch entscheidende Organisationsprinzipien einer zu errichtenden selbständigen, öffentlich rechtlichen Gedenkstättenstiftung entwickelte,  übernahm Brandenburg eine Pionierrolle. Diesem Vorbild folgten bald schon andere Bundesländer – sogar der Freistaat Bayern –  und auch die Empfehlungen einer Bundestagsenquetekommission sowie die 2009 erarbeitete und seitdem immer wieder bestätigte Gedenkstättenkonzeption des Bundes wurden von den in Brandenburg entwickelten und vorgelegten Empfehlungen stark beeinflusst.

Nach Jahren teilweise heftiger Auseinandersetzungen um die Inhalte des Gedenkens, nach Jahren immer wieder mit mehr oder weniger Nachdruck  erhobener Forderungen und Bitten um eine dringend erforderliche bessere Finanzausstattung der Stiftung, nach  Jahren der Neukonzeption, Neugestaltung, Sanierung und Sicherung der Gedenkstätten, nach Jahren des Forschens, des Sammelns, des Publizierens und des Ausstellens, nach Jahren stark wachsender Besucherzahlen und Betreuungsanfragen sowie nach Jahren gemeinsamen Gedenkens mit den überlebenden Opfern und deren Angehörigen dürfen wir, rückblickend betrachtet, es m. E. wagen zu formulieren: Was Willy Brandt als einen Prozess des „Zusammenwachsens was zusammengehört“ proklamierte, das scheint mir in den Gedenkstätten allen vergangenen und gegenwärtigen Konflikten und Problemlagen zum Trotz, beispielhaft gelungen zu sein. Was waren die wichtigsten Gründe für diesen am Beginn der deutschen Einheit nicht zu erwartenden Erfolg?

  1. Der in der bundesdeutschen Politik nach 1990 vollzogene erinnerungspolitische Paradigmenwechsel war neben dem Kampf der breiten zivilgesellschaftlichen, die Gedenkstätten in der alten Bundesrepublik tragenden Bewegungen und Initiativen vor allem außenpolitischen Erwägungen geschuldet.

Die erwünschte Rückkehr Deutschlands als gleichberechtigter Staat in den Kreis der Nationen schien ohne die Etablierung einer starken und dauerhaften Erinnerungskultur an die NS-Verbrechen nicht möglich. Allerdings dauerte dieser immer wieder intensiv und öffentlich diskutierte Umdenkungsprozess mindestens ca. zehn Jahre. Insoweit muss man sich bewusst machen, dass diejenigen, die in Deutschland ganz wesentliche Grundsätze der Erinnerungskultur in Frage stellen, auch unser Verhältnis zu den europäischen Nachbarstaaten wieder in Unsicherheiten stürzen. Dies mag sogar von manchen intendiert sein. Umgekehrt allerdings muss die Erinnerungskultur in Deutschland eine selbstkritische bleiben, gerade auch im Hinblick auf ihren schwierigen Entstehungsprozess. Denn während in der alten Bundesrepublik Gedenkstätten bis zur deutschen Einheit marginalisiert waren, ist die Erinnerung an die NS-Verbrechen von der DDR zur Legitimierung ihres eigenen staatlichen Unrechtsystems instrumentalisiert worden. Jeder Form von neuem Erinnerungsstolz muss daher mit Verweis auf diesen schwierigen Entstehungsprozess entgegen getreten werden. Eine außenpolitische Instrumentalisierung der Erinnerungskultur zur Legitimation einer neuen Funktion der Bundesrepublik als Hegomon in Europa gar, wie sie z. B. der Berliner Politikwissenschaftler und Berater der Bundeskanzlerin Herbert Münkler betreibt, widerspricht ganz und gar dem Auftrag der Gedenkstätten und dem Geist der Erinnerung an den NS-Terror. Gedenkstätten sind daher aufgerufen, ihren eigenen Entstehungsprozess immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen. Sachsenhausen hat als erste große KZ-Gedenkstätte schon 1996 im Rahmen einer Publikation sowie einer großen permanenten Ausstellung, ihre Geschichte als Mahn- und Gedenkstätte der DDR kritisch hinterfragt und dargestellt. Es ist jetzt an der Zeit, auch den 25-jährigen Prozess der Neukonzeption. Neugestaltung und Sanierung der Gedenkstätten seit der deutschen Einheit zum Gegenstand von verschiedenen Darstellungen zu machen. Ich werde demnächst eine umfangreiche Publikation der Stiftung herausgeben, in der es hauptsächlich um das Baugeschehen dieser 25 Jahre geht. Darin werden Konzepte, architektonische Lösungen und finanzielle Bilanzen der baulichen Investitionen präsentiert. Das spiegelt aber nur einen, wenn auch sehr wichtigen Teil unserer Tätigkeit in den Einrichtungen der Stiftung. Mindestens genauso wichtig scheint es mir zu sein, über die bisherigen Formen des Gedenkens, der Darstellungen in Ausstellungen und Museen sowie der pädagogischen Vermittlung auf dem Hintergrund von rückblickenden Betrachtungen nachzudenken, damit die Gedenkstätten sich stets der Historizität ihrer Einrichtungen und Aufgaben bewusst und so neuen Entwicklungen gegenüber offen bleiben.

 

  1. Der Prozess der Neukonstituierung einer Erinnerungskultur, die breite Bevölkerungskreise diskursiv mit einbezieht, ohne ihre Inhalte so wie in der DDR von oben herab zu dekretieren, brauchte eine neue Form, in der öffentlich-rechtliche Finanzierung einerseits und inhaltliche Autonomie andererseits juristisch möglichst weitgehend gesichert werden können. Der Vorschlag der von der Landesregierung Brandenburg 1991 eingesetzten Expertenkommission zur Bildung einer von ministeriellen Anweisungen unabhängigen, selbständigen, öffentlich-rechtlichen Stiftung setzte auch in dieser Hinsicht Maßstäbe. Im Rückblick zeigt sich allerdings, dass dieses Verhältnis von inhaltlicher Autonomie einerseits und finanzieller sowie administrativer Abhängigkeit andererseits sehr sensibel ist und von den verschiedenen Akteuren unterschiedlich interpretiert wird. Mehrfach hat es in den ergangenen 25 Jahren  teils misslungene, teils gelungene Versuche gegeben – und es gibt sie natürlich noch – geschichtspolitische, gar tagespolitische Prinzipien den Gedenkstätten mit unterschiedlichen Mitteln und in unterschiedlichen Formen aufzudrängen. Als ein Beispiel will ich die schwierige Diskussion in Brandenburg um die Gesetzesvorlager zur Einsetzung einer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur nennen. In den damaligen Diskussionen und Anhörungen, die in einem engen Zusammenhang mit den vehementen Protesten im Umfeld der Konstituierung der ersten rot-roten Koalition 2009 standen, wurden die Gedenkstätten der Stiftung öffentlich mit nachweisbar falschen und polemischen Beschuldigungen überzogen, ohne dass wir uns hinreichend dagegen zur Wehr setzen konnten. Ein nicht kleiner Teil der Politik, auch in der Sozialdemokratie, war geneigt, diesen teilweise unsinnigen Vorwürfen zu folgen, da sie von Opferverbänden bzw. Zeitzeugen erhoben wurden, deren scheinbare Autorität in historischen Fragen nicht hinterfragt werden durfte.  Sogar der seit den siebziger Jahren als Grundlage einer pluralistischen historischen Bildung allgemein und gesamtgesellschaftlich anerkannte „Beutelsbacher Konsens“  wurde von einer Mehrheit der zum Teil prominenten Mitglieder der damals eingesetzten Enquete-Kommission als Werterelativismus kritisiert und verworfen. Insbesondere die Leitungen der Gedenkstätten Potsdam-Leistikowstraße sowie Sachsenhausen wurden heftig bedrängt, ihre wissenschaftlich ausgewiesenen historischen Darstellungen im Dienste einer Parteinahme für die Verbände von Opfern kommunistischer Gewaltherrschaft  zu korrigieren und an deren Interpretation der Geschichte anzupassen.

 

Es ist wohl zum Teil unserem heftigen Widerstand gegen solche von Politik und Verwaltung immer wieder versuchten inhaltlichen Einflussnahmen auf die Arbeit der Gedenkstätten zu verdanken, dass ich in vielen rückblickenden Würdigungen meiner Tätigkeit, für die ich dankbar bin, häufig den Begriff des „streitbaren Historikers“ finde. Erst kürzlich hat der Vertreter des Kulturministeriums im Rahmen meiner persönlich organisierten Abschiedsfeier gemeint, er müsse in seiner Rede besonders hervorheben, dass der Umgang mit mir nicht immer einfach gewesen sei. Das kann und will ich nicht abstreiten, gilt aber vice versa mindestens in gleichem Maße.  Aber wenn  aus dieser Kritik der Wunsch von Politik und Verwaltung abgeleitet wird, dass der künftige Direktor leichter lenkbar sein sollte, dann kann ich nur davor warnen. Geschichtspolitische Lenkbarkeit ist der beste Weg in die staatliche Ritualisierung der Gedenkstätten und damit in ihre   Monumentalisierung und Wirkungslosigkeit als Einrichtungen einer kritischen historisch-politischen Bildung. Diese aber wird im Sinne einer lebendigen Demokratie gerade heute unbedingt gebraucht. Schließlich begeben sich Politik und Verwaltung, wenn sie sich zur Parteinahme für die eine oder andere Position hinreißen lassen und versuchen, diese durchzusetzen, auch in den nicht seltenen Konflikt zwischen die unterschiedliche Konzepte und Interessen vertretenden Gruppen. Durch den Respekt vor der inhaltlichen Autonomie der Stiftung und das Vertrauen in den pluralen Diskurs zwischen den Beratungsgremien, internationaler Beirat und Fachkommission, einerseits und den wissenschaftlichen Leitungen der Gedenkstättenstiftung andererseits schützen sich Politik und Verwaltung davor, in geschichtspolitische Kontroversen, die ein erhebliches malignes Potential beinhalten, einbezogen zu werden. In unserer Mediengesellschaft kann dies nicht bedeutungslos sein. Wir erleben gerade in den Einrichtungen der Stiftung, wie die gegenwärtige konservative polnische Regierung das von ihr präferierte nationalgeschichtliche Narrativ der Deutung des historischen Geschehens an den historischen Orten uns überzustülpen versucht.  Die politische Verteidigung der inhaltlichen Autonomie der Stiftung und der Freiheit ihres wissenschaftlich fundierten und pluralen Diskurses zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Betroffenen und Wissenschaftsrichtungen  ist gerade in solchen Konflikten sinnvoller als eine von makropolitischen und außenpolitischen Erwägungen bestimmte direkte Einflussnahme , gleichgültig in welche Richtung sie sich bewegt.

 

  1. Die Gedenkstätten mussten sich nach der deutschen Einheit als Einrichtungen neu aufstellen,  nicht mehr nur als Orte des Trauerns, des staatlich-ritualisierten Gedenkens oder ausschließlich als Orte historisch-politischer Bildung für gesellschaftliche Minderheiten. Sie waren dem grundsätzlichen Wandel, der nicht zuletzt durch das absehbare Ende der Zeitzeugenschaft  forciert wurde, nur gewachsen, wenn sie sich zu modernen zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben emanzipierten. Sachsenhausen war wohl die erste große KZ-Gedenkstätte, die sich bereits am 2. Januar 1993 durch ihre Umbenennung in Gedenkstätte und Museum auf dieses Modell festlegte. „Überhaupt glaube ich“, so heißt es in meiner damaligen Antrittsrede noch vor der der Gründung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, „dass sich die Aufgabenstellung der Gedenkstätten bei allen auch weiterhin geltenden Unterschieden immer stärker denen der historischen Museen, speziell zeitgeschichtlicher Museen, wie etwa das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, annähern wird. Von diesen können die Gedenkstätten viel gerade im Hinblick auf Professionalisierung und Organisation lernen.“

 

Dieser Emanzipationsprozess der Gedenkstätten vollzog sich vor allem in den neunziger Jahren. Etwa seit der Jahrtausendwende erlahmt er zusehends. Von einem Aufholungs- und Gleichstellungsprozess kann nicht mehr die Rede sein, wenn bei einer Steigerung der Besucherzahlen in Sachsenhausen von 1992 bis heute um ca. 400 Prozent eine einzige zusätzliche Pädagogenstelle eingerichtet werden konnte. Nach wie vor scheint die historisch-politische Bildung in den Gedenkstätten nicht die gleiche Wertschätzung zu erfahren wie an anderen vergleichbaren großen Einrichtungen. In dieser Situation, in der wir nicht einmal die Hälfte aller Nachfragen von Besuchern erfüllen können, den verpflichtenden Besuch von Gedenkstätten anzuregen, ist praxisfern. Indem man dort, wo nachweisbar die Nachfrage nach historisch-politischer Bildung groß ist, an veralteten Stellenplänen festhält, vergibt man sich auch einer großen Chance, die gerade angesichts der Rechtsentwicklung in Deutschland und in Europa nicht verpasst werden sollte.

 

  1. Der Paradigmenwechsel, der nach der deutschen Einheit alle Aufgabenfelder und Bereiche der Gedenkstätten erfasste, sollte sich nicht allein als administrativer, sondern als gesamtgesellschaftlicher Prozess vollziehen. Die breite Verankerung der Gedenkstätten vor allem in den Verbänden der Opfer und ihrer Angehörigen, in der Wissenschaft ebenso wie in den Parlamenten, in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen, Interessenverbänden und in staatlichen Institutionen – nur dadurch war eine große Teile der Gesellschaft umfassende Akzeptanz für die als notwendig erachteten und auch in der Zukunft nicht geringen dauerhaften finanziellen Aufwendungen zu erreichen. Doch die zivilgesellschaftliche Unterstützung der Gedenkstätten ist nach dem Ende der Zeitzeugenschaft nicht mehr einfach herzustellen. Insbesondere die Einbindung der historischen Orte in einen internationalen Diskurs wird immer schwieriger, zumal die persönlichen Kontakte zu den Nachfahren der Opfer in Ost- und Mittelosteuropa fast vollständig abgerissen sind. Dabei sind die Orte der NS-Verbrechen und des kommunistischen Unrechts in der europäischen Erinnerungskultur von großer nach wie vor aktueller Bedeutung. Denn nicht nur die Kriegs- sondern auch die Nachkriegsgeschichte verbindet sie mit diesen historischen Orten in der Entwicklung vieler Staaten. Die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen sowie die Gründung der Europäischen Union waren  bekanntlich unmittelbare Folgen der historischen Erfahrungen von Krieg und Völkermord, auch wenn das über dem Streit um Schweinepreise, wie der österreichische Schriftsteller Robert Menasse in seinem tollen Roman „Die Hauptstadt“   ausführlich schildert, offenbar vergessen zu sein scheint. An der Aufrechterhaltung der internationalen zivilgesellschaftlichen Vernetzung der Gedenkstätten müssen wir daher ein großes politisches Eigeninteresse haben, dem relativ kleine finanzielle Aufwendungen nicht entgegenstehen dürfen. Als ein Vorbild will ich die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem nennen. Sie unterstützt auch finanziell den Aufbau von Freundeskreisen in vielen Ländern der Welt und festigt so die internationalen Kontakte. Auch Sachsenhausen hat seit 1998 einen solchen internationalen Förderverein, dessen Wirkungskreis aber aufgrund einer ganz überwiegend ehrenamtlich geleisteten Arbeit zwar beeindruckend aber auch begrenzt ist.

 

Schluss

Wenn wir nun resümierend zurückschauen und uns noch einmal diesen umfassenden Prozess der Neukonzeption, Neugestaltung und Sanierung der Gedenkstätten in den vergangenen 25 Jahren  vor Augen führen und ihn zusammenfassend als insgesamt erfolgreich charakterisieren, so heißt das nicht, dass nun alle genannten Herausforderungen erfüllt und alle Aufgaben erledigt sind. Das wäre mehr als naiv: Denn die Beibehaltung einer lebendigen Erinnerungskultur, die nicht in Ritualisierung erstarrt, die sich in aktuelle gesellschaftliche Debatten einmischt, die ständig ihre Fragestellungen, ihre pädagogischen Konzepte und ihre Darstellungsformen den Zeitläufen anpasst, die den Versuchen der Instrumentalisierung von Teilen der Politik und des Staates ebenso Widerstand entgegensetzt wie der Indienstnahme durch Interessengruppen, die Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit durch eine intensive und kreative historisch politische Bildung die Grundlagen zu entziehen versucht und die das Andenken an die Opfer weiter pflegt sowie die Zeugnisse und Denkmale bewahrt – eine solche lebendige Erinnerungskultur braucht nicht nur das Engagement aus  der Zivilgesellschaft, sondern vor allem rechtlich selbständige Gedenkstätten, die als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben in Politik und Gesellschaft auf Dauer hineinwirken wollen und können.

 

Expertenanhörung Deutscher Bundestag Kulturausschuss 31. Mai 2017

Fachgespräch „Aufarbeitung der NS-Diktatur: Stärkung der NS-Gedenkstättenarbeit und Würdigung aller NS-Opfergruppen“

Bundestagsausschuss für Kultur und Medien, 31. Mai 2017

 

Prof. Dr. Günter Morsch, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und Leiter von Gedenkstäte und Museum Sachsenhausen

 

Ad Frage 1.-3.:

Die Entwicklung der NS-Gedenkstätten hat nach der deutschen Einheit eine nicht unbedingt vorhersehbare, sehr positive Entwicklung genommen. Damit hat sie in einem kaum zu überschätzenden Maße dazu beigetragen, dass der Prozess der Vereinigung trotz vieler, hauptsächlich historisch begründeter Bedenken allmählich auch im Ausland breite Zustimmung gefunden hat. Dies ist umso erstaunlicher, da die NS-Gedenkstätten in der Bonner Republik ganz überwiegend ein randständiges Dasein führten. Sie waren hauptsächlich zivilgesellschaftlich gegen enorme Widerstände erkämpft worden und mussten daher aufgrund weitgehend fehlender staatlicher Unterstützung ihre wichtige Arbeit zumeist ehrenamtlich organisieren. In der DDR dagegen waren die nationalen Mahn- und Gedenkstätten Instrumente des durch die SED einseitig definierten staatlichen Antifaschismus. Allerdings verfügten sie über wesentlich größere Potentiale als vergleichbare westdeutsche NS-Gedenkstätten. Die organisatorischen Strukturen der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR orientierten sich prinzipiell an den klassischen Aufgabenfeldern von Museen, auch wenn selbst diese den politischen Restriktionen der SED-Diktatur und der allgemeinen Mangelwirtschaft unterworfen waren.

Es ist in den neunziger Jahren weitgehend gelungen, die Vorteile beider Modelle miteinander zu verschmelzen. Die 1999 beschlossene und seitdem nur wenig veränderte Gedenkstättenkonzeption des Bundes sollte deshalb in ihren Grundprinzipien beibehalten und eher gestärkt werden. Folgende Grundsätze möchte ich daher herausstellen. Dabei verweise ich auch auf die Ethikcharta, die sich das International Comittee of Memorial Museums 2013 gegeben hat und die auch von der Task Force for international Cooperation on Holocaust Education übernommen wurde:

a)Staatliche Finanzierung einerseits und inhaltliche Autonomie der Gedenkstätten stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Das ist im Breich der Kultur nicht ungewöhnlich. Aber gerade wegen der großen außen- und innenpolitischen Bedeutung der Erinnerungskultur sind Politik und Verwaltung versucht, die inhaltliche Ausgestaltung der Gedenkstätten nicht nur dem freien Diskurs von Gedenkstättenpersonal,  Wissenschaft und Gesellschaft zu überlassen, sondern stärker in eine präsentistisch orientierte Zweckbestimmung einzubinden. Dem ist auf Dauer nur durch klare, strukturelle und organisatorische Regelungen zu begegnen, die die inhaltliche Autonomie der Gedenkstätten gegenüber staatlichen Eingriffen sichern.

b) Die dezentrale Struktur der NS-Gedenkstättenlandschaft ist Spiegel ihrer zivilgesellschaftlichen Fundierung und daher prinzipiell positiv zu bewerten. Doch es kann nicht übersehen werden, dass mit dem Generationenwechsel und dem Ende der Zeitzeugenschaft diese Basis nicht mehr überall aufrecht erhalten werden kann. Gleichzeitig nehmen die Herausforderungen an die Qualität der Gedenkstättenarbeit im internationalen Maßstab immer mehr zu. Wenn wir aber die dezentrale Gedenkstättenlandschaft grundsätzlich beibehalten wollen, dann kommen wir angesichts der weiter wachsenden Anforderungen nicht darum herum, bestimmte Gedenkstätten in bestimmten Aufgabenfeldern als Leiteinrichtungen zu stärken.

c) Institutionelle und projektbezogene Finanzierung der Gedenkstätten haben sich als Instrumente grundsätzlich bewährt. Allerdings sollte angesichts der historisch begründeten, stark ungleichen Verteilung von Gedenkstätten beider Diktaturen in den Bundesländern dringend ein finanzieller Ausgleich gefunden werden. Ich verweise dabei auf meine Ausführungen bei der letztmaligen Anhörung am 27. Januar d. J.

d) Das durch die beiden Enquete-Kommissionen sowie das Gedenkstättenkonzept festgeschriebene Konzept von Gedenkstätten als moderne zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben muss als Leitbild konsequent weiterentwickelt werden. Nach wie vor sind dafür die den Gedenkstätten zur Verfügung gestellten materiellen und personellen Ressourcen nicht ausreichend. Obwohl die Gedenkstätten jährlich Millionen von Besucherinnen und Besuchern verzeichnen, hinken sie den Standards großer vergleichbarer Museen immer noch hinterher. Die trotz aller anerkennungswerter Fortschritte prinzipiell defizitäre Ausstattung betrifft sowohl die sogenannte Hardware als auch die Software, also z. B. sowohl die Mittel zur Erhaltung der historischen Baurelikte als auch für ausreichende pädagogische Kapazitäten. Insbesondere gilt es die Durchdringung von Gedenkstättenarbeit und wissenschaftlicher Forschung auszubauen und auf Dauer zu sichern, wozu die Einrichtung einer der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vergleichbaren Förderinstitution wohl das beste Instrument wäre, da universitäre Forschung diese Anwendungs-bezogenen Forschungslücken nicht ausfüllt.

 

Zum zweiten Fragenkomplex verweise ich auf die ausführliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Dagmar Lieske, die die Ursachen und Gründe für die Leerstellen in der deutschen Erinnerungskultur hinsichtlich der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher ausführlich begründet und hergeleitet hat. In Ergänzung dazu rege ich an, künftig nur noch von Opfern sozialbiologischer und kriminalbiologischer Generalprävention des NS-Regimes zu sprechen. Da die historischen Begriffe selbst heute noch allzu sehr belastet sind, stigmatisieren sie in unzulässiger Weise diese Zehntausende von Menschen, die gleichwohl als Opfer des nationalsozialistischen Terrorsystems angesehen werden müssen.

Auch wenn die Grundzüge der nationalsozialistischen Politik gegenüber den Opfern sozialbiologischer und kriminalbiologischer Generalprävention inzwischen zum großen Teil bekannt sind, so besteht doch nach wie vor ein großer Forschungsbedarf hinsichtlich der genauen Zusammensetzung dieser beiden sehr heterogenen Gruppen, ihres konkreten Schicksals in den verschiedenen Haftstätten des NS-Terrorsystems und vor allem auch in Bezug auf die Nachkriegsgeschichte, in der die Diskriminierung nur allzu häufig fortbestand. Darunter leiden viele Familien der Opfer bis heute. Gerade die Gedenkstätten können mit Ausstellungen, Publikationen und pädagogischen Projekten viel tun, um die gesellschaftlichen Vorurteile und Tabus zu korrigieren und abzubauen. Ein kollektives, allgemeines, Gruppenbezogenes ehrendes Gedenken halte ich allerdings für die Opfer kriminalbiologischer Generalprävention derzeit nicht für möglich, wohl aber kann und sollte ihr Verfolgungsschicksal und das dadurch verursachte Leiden in der Darstellung von einzelnen Biographien herausgestellt und gewürdigt werden.

Obwohl in den vergangenen Jahren viele lange Zeit diskriminierte Opfergruppen gesellschaftliche Anerkennung gefunden haben, gibt es nach wie vor große Verfolgtengruppen, deren Schicksal, wie Bundespräsident Gauck formuliert hat, immer noch im Erinnerungsschatten liegt. Die weitaus größte und wichtigste vergessene bzw. verdrängte Gruppe von NS-Verfolgten sind m. E. die Opfer der Lebensvernichtung im Osten. Ich bin allen Fraktionen des deutschen Bundestages dankbar dafür, dass sie den vordringlichen Bedarf für die Errichtung eines Erinnerungszeichens an diese mehrere Millionen Menschen in Gesprächen mit den Initiatoren anerkannt haben und würde mir wünschen, dass noch dieser Bundestag die Weichen für die Realisierung stellt.