Garant für Kontinuität im Wandel: Thomas Lutz

Garant für Kontinuität im Wandel: Thomas Lutz als Ratgeber und Vorsitzender des Internationalen Beirats der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 1991-2018

in: 30 Jahre Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors, Gedenkstättenrundbrief Nr. 210, 7/2023, S. 64-73

Günter Morsch

Am 30. Januar 1993 gründete die Landesregierung Brandenburg auf der Grundlage eines im Potsdamer Landtag beschlossenen Gesetzes per Verordnung die „rechtsfähige Stiftung öffentlichen Rechts ‚Brandenburgische Gedenkstäten‘“(StBG).[1] Sie war die erste rechtlich selbständige Gedenkstättenstiftung der nur gut zwei Jahre zuvor vereinten Bundesrepublik Deutschland. Als Vorbild und Vorläufer kann die vom Land Berlin 1992 errichtete und von ihrem ersten Direktor Reinhard Rürup maßbeglich initiierte und konzipierte „Stiftung Topographie des Terrors“ gelten. Das am Ort der verschiedenen zentralen SS-Dienststellen zunächst provisorisch entstandene Dokumentationszentrum wurde jedoch genauso wie die kurz nach der Brandenburger Einrichtungsverordnung in Thüringen gegründete „Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora“ erst sehr viele Jahre später als rechtsfähige Stiftungen von den jeweiligen Landesregierungen in die Selbständigkeit entlassen. Die in 15 Paragraphen gegossenen maßgeblichen Grundzüge und Prinzipien der brandenburgischen „Stiftungssatzung“ haben die weitere Entwicklung der großen Gedenkstätten in den verschiedenen Bundesländern zweifellos ganz maßgeblich beeinflusst. Fast alle in den folgenden Jahren von den Ländern mit Bundesbeteiligung neu gegründeten Gedenkstättenstiftungen übernahmen zu einem großen Teil die in diesen Paragraphen niedergelegten Strukturprinzipien und Aufgabenbeschreibungen. Dabei lassen sich aus den jeweiligen Abänderungen interessante Aufschlüsse über die geschichtspolitischen Besonderheiten der einzelnen Bundesländer herauslesen. Zuletzt verabschiedete im November 2019 nach jahrelangem Zögern die Hamburger Bürgerschaft das vom Senat vorgelegte Gesetz über die „Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen“. Auch in diesem Text lassen sich leicht wichtige Grundsätze und Ordnungsregeln der brandenburgischen Stiftungsverordnung bis in einzelne Formulierungen hinein wiederfinden.[2]

Die fast drei Jahrzehnte, die seit dem Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur nach der deutschen Einheit vergangen sind, waren mit Debatten und Diskussionen, mit Aufbrüchen und Anfängen, mit Konflikten und Kämpfen sowie mit Verlusten und Veränderungen prall gefüllt. Geschichte scheint sich zeitweilig eine Atempause zu nehmen und dann beschleunigt sie sich plötzlich in einem Atem beraubenden Tempo, bei dem wir, die wir doch als Subjekte die Akteure der Zeitverläufe sind oder zumindest sein sollten, uns eher wie in einem Strudel mitgerissen fühlen. Eine solche Zeit ungeheurer Beschleunigung und Verdichtung haben auch die in der StBG zusammengeschlossenen Gedenkstätten in Brandenburg/Havel, Ravensbrück und Sachsenhausen mit ihrer Außenstelle im Belower Wald erlebt. Blickt man allerdings auf die Entwicklung dieser Jahre zurück, so erstaunt eher die Kontinuität und Beharrlichkeit, in denen die Gedenkstättenstiftung trotz ständiger neuer Herausforderungen den grundlegenden und umfassenden Wandel von den Mahn- und Gedenkstätten der DDR hin zu modernen zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben bewältigen konnte.

In solchen Zeiten stürmischen Wandels ist es neben festen Grundsätzen, vorausschauenden, nachhaltigen Konzeptionen und belastbaren Strukturen vor allem das auch über längere Phasen und Brüche hinweg beharrliche Wirken von Personen, das unter den wechselnden Umständen von Krisen und Erfolgen Kontinuität zu erreichen vermag. Ein solch wichtiger Garant für Kontinuität im Wandel war für die Einrichtungen der StBG Thomas Lutz. Schon als Mitglied der 1991 von der Brandenburgischen Landesregierung einberufenen Expertengruppe war der Gedenkstättenreferent der „Stiftung Topographie des Terrors“ an der Erarbeitung eines umfangreichen Gutachtens beteiligt. Darin ging es um nichts weniger als um Empfehlungen zur umfassenden Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten. Unter dem Vorsitz des Bochumer Historikers Bernd Faulenbauch berieten sieben Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten auf der Grundlage einer kritischen Aufarbeitung der Rolle des Antifaschismus und der Mahn- und Gedenkstätten in der DDR über die Modernisierung, Neukonzeption und Umgestaltung der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten im neu gegründeten Bundesland Brandenburg. Für die Berufung von Thomas Lutz in die Brandenburgische Expertenkommission sprach vor allem seine damals schon herausragende Kenntnis der nationalen und internationalen Gedenkstätten, das Vertrauen, das er durch seine Tätigkeit bei den Organisationen der Überlebenden erworben hatte sowie seine profunde Expertise insbesondere im Bereich der Gedenkstättenpädagogik.

Nicht als Gedenkstättenreferent, sondern als offizieller Vertreter der gerade auch im Ausland anerkannten „Aktion Sühnezeichen“ wählten die im Herbst 1993 von den Organisationen der Überlebenden und den Betroffenenverbänden delegierten fast 20 Mitglieder des Internationalen Beirates Thomas Lutz auf ihrer ersten Sitzung einstimmig zu ihrem Vorsitzenden. In dieser wichtigen Funktion trug der Vorsitzende des Internationalen Beirates, der zumeist in zwei Arbeitskommissionen tagte, die Stimmen und Voten der Überlebenden des NS-Terrors ebenso wie der Opfer der sowjetischen Geheimpolizei und der SED-Diktatur in den Stiftungsrat. Als einer von sieben voll stimmberechtigten Mitgliedern entschied der Beiratsvorsitzende in diesem Gremium über grundsätzliche Fragen der Stiftungsentwicklung, wie vor allem über Fragen des Haushaltes, der Organisation und Personalausstattung. Zusammen mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, vertreten durch seinen Präsidenten Ignatz Bubis und den Gedenkstättenreferenten Peter Fischer, und dem Vorsitzenden der Fachkommission Bernd Faulenbach sah sich der Beiratsvorsitzende nicht selten in die Rolle gedrängt, die berechtigten Anliegen der Gedenkstätten gegenüber den finanziellen und politisch motivierten Bedenken und Einwänden der Beauftragten von Land und Bund, an ihrer Spitze die jeweiligen brandenburgischen Kulturministerinnen und Kulturminister, nachdrücklich zu unterstützen. In einer Zeit, in der relativ große Finanzmittel zur Restauration und Umgestaltung der historisch-authentischen Gelände mit zahlreichen, teilweise im Verfall begriffenen denkmalgeschützten Gebäuden dringend erforderlich waren, während zugleich die kontinuierliche Schrumpfung der staatlichen Ausgaben von maßgeblichen Teilen der Politik schon aus Gründen volkswirtschaftlicher Dogmatik angestrebt wurde, galt es allerdings auch vielfältige Konfliktlagen und Konfrontationen auszuhalten und durchzustehen. Wie sehr auch die Mitglieder des Internationalen Beirates ihrem Vorsitzenden sein konsequentes Eintreten für die Belange der Opferverbände und der Gedenkstätten, seine Beharrungskraft, seine Argumentationsstärke und sein diplomatisches Geschick schätzten, lässt sich allein schon aus der regelmäßigen, alle vier Jahre vorgenommenen und einmütigen Wiederwahl von Thomas Lutz in den fast drei Jahrzehnten seit 1993 erschließen.

Dabei konnte von Zusammenhalt und Einigkeit der Opfer- und Betroffenenverbände untereinander sowie von Vertrauen in die neuen Gedenkstättenleitungen vor Beginn der Stiftungsgründung keine Rede sein. Die durch die friedliche Revolution bewirkten politischen und erinnerungskulturellen Friktionen und Konfrontationen hatten auch die Mahn- und Gedenkstätten erfasst. Deren Praxis des instrumentalisierten Antifaschismus schlug zu Recht heftige Kritik und Forderungen nach sofortigen Änderungen entgegen. Das nicht immer sensible Verhalten der 1989/90 neu eingesetzten Kulturverwaltungen sowie der kommissarischen Gedenkstättenleitungen verschärfte die Konflikte. Misstrauen auf allen Seiten machte sich breit und führte zu heftigen gegenseitigen Angriffen und Vorwürfen, die in Einzelfällen auch physisch ausgetragen wurden. Von heute aus betrachtet sollte man die damaligen erregten Proteste, die die NS-Opferverbände ebenso wie große Teile der Öffentlichkeit erfassten, vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs eines alle Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts erfassenden Systemwechsels bewerten. Denn die „Tempel des Antifaschismus“ spielten eine wichtige Rolle bei der Legitimierung der DDR-Diktatur. Trotzdem gab es in den ersten Jahren des Übergangs eine Vielzahl von verstörenden Aktivitäten, Maßnahmen, Reden und Veröffentlichungen, die nicht nur die Überlebenden des NS-Terrors teilweise in höchste Erregung oder Depression trieben. Dazu zählten zum Beispiel der sogenannte Supermarkt-Skandal in Ravensbrück, die Umbenennung von Straßen und Schulen im Umfeld der Gedenkstätten, die nach Mordopfern der Nationalsozialisten benannt waren oder die politisch motivierte Schließung von Museen und Ausstellungen. Für nicht wenige Überlebende des NS-Terrors und ihre Angehörigen verdichteten sich alle diese Anzeichen zu einem vermeintlichen „Generalangriff“ auf die Mahn- und Gedenkstätten. Als schließlich Antisemiten und Rechtsextremisten im September 1992 nach dem Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin einen Brandanschlag auf die sogenannten jüdischen Baracken in Sachsenhausen verübten und dabei nicht nur großen materiellen, sondern auch politischen Schaden anrichteten, schienen sich für viele kritische Beobachter des Prozesses der deutschen Einheit ihre Befürchtungen zu bewahrheiten. Als Folge der Vertrauenskrise zogen Überlebende und ihre Familien ihre Artefakte und Dokumente aus den Archiven der Mahn- und Gedenkstätten ab, andere kehrten den Einrichtungen ihre Rücken zu und boykottierten sogar die Veranstaltungen zu den Jahrestagen der Befreiung.

Auch die sorgfältig erarbeiteten, intensiv recherchierten und differenziert argumentierenden, relativ umfangreichen Empfehlungen der Expertenkommission zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten, in denen vermutlich Thomas Lutz vor allem die Teile zur Neukonzeption der Gedenkstättenpädagogik maßgeblich beeinflusste,[3] stießen zunächst bei einem Großteil der Verbände auf heftigen Widerspruch. Der spätere Direktor der „Stiftung Topographie des Terrors“ Andreas Nachama sprach sicherlich nicht nur für sich, als er auf dem nach der Vorlage der Empfehlungen im März 1992 veranstalteten Colloquium den Programmverantwortlichen das „Misstrauen“ aussprach. Ein Dialog mit den Verfolgtenverbänden, so führte er aus, sei überhaupt nicht angestrebt worden und die Veranstaltung habe nur „Alibicharakter“.[4] Hauptsächlich aber kritisierte er die Empfehlungen der Kommission zum Umgang mit der zweifachen Vergangenheit in Sachsenhausen, als Konzentrationslager und als sowjetisches Speziallager. Wenn man deren Vorschlägen folgen wolle, sei es besser, „alle Anlagen zu schleifen und einen Gedenkhain anzulegen.“[5] Die von Nachama und anderen Vertretern der NS-Opfer, wie der Sprecherin der VVN-BdA Rosel Vadehra-Jonas, geäußerten Befürchtungen, dass es in den Brandenburgischen Gedenkstätten, insbesondere in Sachsenhausen, zu einer undifferenzierten Vermengung der beiden historischen Phasen vor und nach 1945 und damit zu einer Relativierung der NS-Verbrechen kommen könnte, waren im Hinblick auf die allgemeine politische Entwicklung in Deutschland und in Europa nicht unbegründet. Selbst das Europa-Parlament wandte sich deshalb mit einer entsprechenden Ermahnung an die internationale Öffentlichkeit.[6] Die Empfehlungen der Expertenkommission aber richteten sich eher im Gegenteil gegen solche Tendenzen, „braune“ und „rote“ Diktaturen, wie Nationalsozialismus und SBZ/DDR gelegentlich bezeichnet wurden, gleichzusetzen.

Vertreter der kommunistischen Opferverbände reklamierten zugleich energisch eine gleichwertige Berücksichtigung ihrer Leiden. „Opfer erster“ und „zweiter Klasse“, so ihre moralisch zweifellos berechtigten Appelle, dürfe es nicht geben. Doch viele ihrer Vorstellungen zur Zukunft der brandenburgischen Gedenkstätten gingen weit darüber hinaus. Im Sinne einer Publikation des späteren Vorsitzenden der „Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft“ (UOKG) und Überlebenden des sowjetischen Speziallagers Buchenwald Gerhart Finn[7] verlangten sie ein einheitliches Museum in Sachsenhausen, in dem „unter einem Dach“ über die Geschichte zwischen 1936 und 1950 informiert werden sollte, da es nur ein Konzentrationslager gegeben hätte.

Die in den Empfehlungen der Expertenkommission ausgeführte, später nach ihrem Vorsitzenden benannte „Faulenbach-Formel“ [8] löste zwar die unterschiedlichen historischen Einschätzungen über den Charakter der sowjetischen Speziallager nicht auf, aber sie trug dazu bei, einen Boykott der neu zu gründenden Gedenkstättenstiftung durch Opferverbände zu verhindern und bot eine Plattform für Verständigung und Gespräche. Erst danach aber kamen „die Mühen der Ebenen“ und diese zu bewältigen, war neben den Vertretern der Gedenkstättenstiftung eine der Hauptaufgaben, vor allem auch von Thomas Lutz. Laut Einrichtungsverordnung nämlich vertrat der Beiratsvorsitzende alle in diesem Beratungsgremium vertretenen bis zu 20 Opfer- und Interessenverbände. Es war neben der Stiftungsleitung vor allem seine Aufgabe, mit den anfänglich in zwei getrennten Räumen am Sitz der Stiftung im ehemaligen Verwaltungsgebäude der KZ-Inspektion gegründeten und zumeist zu unterschiedlichen Zeiten zweimal jährlich tagenden Arbeitskommissionen des Beirates, die sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte vor oder nach der Befreiung vom Nationalsozialismus befassten, gemeinsame Initiativen auszuhandeln und die mühsam geknüpften Gesprächsfäden zu pflegen und zu bewahren. Anders aber als erhofft, wurde die Verständigung und Kommunikation zwischen den beiden Kommissionen nicht einfacher, als im Sommer 1994 ein neuer Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945–50“ gewählt wurde. Zumindest eine Mehrheit im Vorstand und ein großer Teil der Mitglieder trat danach immer offener für revisionistische Positionen ein, lud Rechtsextremisten als Redner zu ihren Veranstaltungen ein und rief zu einer Gedenkveranstaltung für den Kindermassenmörder und T4-Gutachter Professor Hans Heinze auf.

Da Thomas Lutz allerdings zumindest im Stiftungsrat die Gesamtinteressen des Beirates zu vertreten hatte, war dies ein schwieriger Balanceakt, den er jedoch aufgrund seiner herausragenden dialogischen Kommunikationsstärke zumeist mit großem Erfolg bewältigte. Dabei kam ihm zu Hilfe, dass die vier aufeinander folgenden Vorsitzenden der Arbeitskommission zur Geschichte der Speziallager und der kommunistischen Verfolgung, Ulf Müller, Horst Jänichen, Kurt Noak und Hans-Joachim Schmidtchen, die als nicht stimmberechtigte Mitglieder an den Beratungen des Stiftungsrates teilnahmen, sich gleichfalls um eine Verständigung bemühten. Die vier Verfolgten der sowjetischen Geheimpolizei und der DDR-Diktatur, die in den Gefängnissen Bautzen und Hohenschönhausen sowie in den sowjetischen Speziallagern Sachsenhausen und Jamlitz gelitten hatten, bemühten sich gemeinsam mit Thomas Lutz darum, zu den im Beirat vertretenen NS-Opferorganisationen Brücken zu schlagen und vereinzelt auch persönliche Freundschaften zu knüpfen. Durch das bald schon aufgebaute Vertrauensverhältnis zwischen ihnen gelang es zwar nicht, die grundlegenden Differenzen und Meinungsunterschiede abzubauen. Trotzdem konnte Thomas Lutz alle Beiratsmitglieder davon überzeugen und dabei durchsetzen, dass wichtige Grundsatzentscheidungen der Gedenkstättenstiftung an bestimmten Wegmarken teils in gemeinsamen Beratungen oder zumindest in Übereinstimmung getroffen wurden. Übereinstimmung konnte dabei zum Beispiel in der Frage des für die Umgestaltung der Gedenkstätte Sachsenhausen grundlegenden dezentralen Gesamtkonzeptes erzielt werden. Der schon Ende 1994 den Stiftungsgremien vorgelegte und einstimmig angenommene Plan beendete den ursprünglichen Streit um die Frage eines alle historischen Phasen umfassenden Museums, indem er vorschlug, mehrere kleine Ausstellungen an bestimmten historischen Schauplätzen des historischen Areals einzurichten und sie mit der konkreten Geschichte des jeweiligen Ortes zu verknüpfen. Das große Museum zur Geschichte der Speziallager sollte demnach, einen Vorschlag der Expertenkommission aufgreifend, an der Schnittstelle zwischen den beiden Lagerzonen I und II des sowjetischen Speziallagers errichtet werden.[9] Zugleich aber enthalten alle dezentralen Ausstellungen einen einleitenden Teil, in dem alle historischen Phasen zwischen 1936 und 1989 kurz dargestellt werden. Auch der aus dem inhaltlichen und gestalterischen dezentralen Gesamtkonzept folgenden baulichen Zielplanung stimmten in einer gemeinsamen Beiratssitzung 1996 alle Mitglieder beider Kommissionen zu.[10]

Auf der Grundlage pauschaler Kostenschätzungen über die notwendigen Finanzmittel zur Restauration, zum Erhalt und zum Umbau der historischen Orte in Brandenburg/Havel, Ravensbrück und Sachsenhausen verlangten die Mittelgeber die Aufstellung eines für zehn Jahre gültigen Rahmeninvestitionsplans. Dieser sah innerhalb eines Gesamtrahmens von maximal 30 Millionen DM den Neubau eines Museums zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers erst in den Jahren 2003–2006 vor.[11] Thomas Lutz gelang es daraufhin, auch die Mitglieder der Arbeitskommission für die Geschichte des NS-Terrors von der Notwendigkeit zu überzeugen, gegen diesen Zeitplan zu votieren und eine zeitliche Vorverlegung der Errichtung des Speziallagermuseums zu fordern. Auch als daraufhin Ende der neunziger Jahre ein internationaler Wettbewerb stattfand, als dessen Ergebnis der preisgekrönte Entwurf des Frankfurter Büros Schneider und Schumacher ausgewählt wurde, gelang es dem Beiratsvorsitzenden, beide Arbeitskommissionen auf einer gemeinsamen Tagung in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück für die von der Stiftungsleitung vorgeschlagene Realisierung dieses an der Nordspitze des Lagerdreiecks geplanten und mit original erhaltenen, in der KZ-Zeit gebauten Steinbaracken verbundenen Neubaus zu gewinnen. Beide Beiratskommissionen sprachen sich zugleich ohne Gegenstimmen für die von der Gedenkstättenleitung vorgelegte Ausstellungskonzeption aus.[12]

Natürlich war das Vermittlungsgeschick des Beiratsvorsitzenden, der zugleich auch die Tagungen der Arbeitskommission zur Geschichte der NS-Verfolgung leitete, auch in der Vermittlung anderer Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlicher Sichtweisen gefragt, die nicht mit dieser sicherlich schwierigsten Problemlage der Stiftungspolitik in Brandenburg zusammenhängen. Einige weitere Beispiele finden sich im Artikel von Peter Fischer in der vorliegenden Publikation. Da hier leider nicht der Platz ist, dieses vielfältige und zumeist erfolgreiche Wirken des Beiratsvorsitzenden näher auszuführen, will ich nur kurz darauf verweisen, dass es vor allem auch dem Vorsitzenden zu verdanken ist, wenn der Präsident des Internationalen Sachsenhausenkomitees Pierre Gouffault im Zuge der Wiederwahl von Thomas Lutz im Juni 1998 im Rahmen einer bewegenden persönlichen Erklärung das „kooperative Arbeitsklima in der Beiratskommission“ würdigte.[13] Für das wachsende Vertrauen der Überlebenden von KZ und Gefängnishaft in die Erinnerungskultur Deutschlands im Allgemeinen und die Einrichtungen der Brandenburgischen Gedenkstättenstiftung im Besonderen trugen zu einem wichtigen Teil sicherlich auch die großen Veranstaltungen zu den runden Jahrestagen der Befreiung bei, zu denen zahlreiche Überlebende kamen. Insbesondere 1995, zum 50. Jahrestag der Befreiung, kamen auf Einladung der Landes- und Bundesregierungen sowie der Stiftung insgesamt ca. 3.400 Überlebende teilweise erstmals an die Orte der Verbrechen und ihrer Leiden zurück. In seiner Bilanz des Verlaufs der Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der Befreiung schrieb Thomas Lutz: „Die Durchführung des 50. Jahrestages mit zahlreichen Begleitveranstaltungen war ein Erfolg: Für die Überlebenden, die häufig zum zweiten Mal – diesmal eingeladen und freiwillig – nach Deutschland gekommen sind, war dies sowohl eine große gesellschaftliche Anerkennung als auch eine Möglichkeit, sich persönlich mit ihrem Schicksal auseinanderzusetzen. Diese humanitäre Leistung von deutscher Seite wurde in der ganzen Welt sehr dankbar angenommen.“[14]

Seine bereits im Titel des Beitrags, „Ende eines Gedenkjahres – Was bleibt?“, zugleich ausgesprochenen Bedenken und Befürchtungen hinsichtlich der Gefahren einer selbstzufriedenen Erinnerungskultur in Deutschland verstärkten sich in den Jahren danach eher. Trotzdem lobte Thomas Lutz auch zehn Jahre später die umfangreiche Weiterentwicklung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, „der von den Häftlings- und Betroffenenorganisationen große Anerkennung und hoher Respekt entgegen gebracht wird.“[15] Mit Sorge betrachtete er die auch wegen des politischen Erfolgs nicht nur in Brandenburg zunehmende Tendenz, das fast idealtypische Konstrukt einer inhaltlich unabhängigen Gedenkstättenstiftung, wie es in Brandenburg entwickelt worden war, zu verändern. Als Beiratsvorsitzender war Thomas Lutz der gewählte Repräsentant der Zivilgesellschaft, die zusammen mit den Vertretern einer unabhängigen Wissenschaft die Stiftungs- und Gedenkstättenleitungen in allen inhaltlichen Fragen beraten. Das dadurch institutionalisierte Subsidiaritätsprinzip beschränkte somit die Entscheidungen der politischen Exekutive hauptsächlich auf grundsätzliche Beschlüsse über Fragen der Stiftungsorganisation und des Haushaltes. Spätestens nach dem 60. Jahrestag der Befreiung aber häuften sich die Vorstöße, die darauf abzielten, die bereits in der Expertenkommission zugrunde gelegten Prinzipien der Einrichtungsverordnung der Stiftung zu ändern. Diese zielten zum einen auf eine Erweiterung der inhaltlichen Zuständigkeit der Stiftung im Hinblick auf die Nachkriegsgeschichte mit dem Ziel einer äquivalenten Bewertung der historischen Phasen. Zum zweiten sollte die Bedeutung der Beratungsgremien geschwächt und im Gegenzug die Entscheidungen der Exekutive im Sinne einer größeren inhaltlichen Kompetenz des Stiftungsrates verstärkt werden. Schließlich gab es zum dritten Überlegungen, die Kompetenzen des Stiftungsvorstandes und der Gedenkstättenleitungen mit der Begründung der Einführung eines „Kollegialprinzips“ zugunsten der Verwaltungsleitung abzuschwächen. Ähnliche „Reformvorschläge“, denen Gutachten von privaten Beratungsfirmen und dem Bundesverwaltungsamt zugrunde lagen, wie zum Beispiel die Befristung der Zeitverträge von Leitungspositionen in den Gedenkstätten, wurden auch in anderen Einrichtungen der Erinnerungskultur betrieben und teilweise durchgesetzt, entsprachen sie doch darüber hinaus dem damaligen neoliberalen Zeitgeist. Parteipolitische Unterschiede waren daher nicht ausschlaggebend, auch wenn die Initiative in Brandenburg von einer konservativen Kulturministerin ausgegangen war.

In dieser mehrjährigen, schwierigen und politisch brisanten Auseinandersetzung konnte sich der Stiftungsvorstand uneingeschränkt auf die Unterstützung des Internationalen Beirats, vertreten vor allem durch seinen Vorsitzenden Thomas Lutz, die Generalsekretärin des Internationalen Sachsenhausenkomitees Sonja Reichert und die Vertreter des Zentralrats der Juden, Stefan Kramer und Peter Fischer, verlassen. Dabei bemühte sich der Beiratsvorsitzende stets um eine enge Abstimmung sowohl mit dem Vorstand als auch den Leitern und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Obwohl Thomas Lutz immer dazu bereit war, Erfahrungen, Erfolge ebenso wie Misserfolge, mit allen Beteiligten, auch der politischen Exekutive, ergebnisoffen zu diskutieren, vermochte er keinen Grund zu erkennen, warum die 1992 erstmals von ihm mitformulierten und 1993 in der Einrichtungsverordnung der Gedenkstättenstiftung formulierten Grundsätze und Ordnungsprinzipien abgeschafft oder verändert werden sollten. Es ist mir daher ein Bedürfnis und eine große Freude, Thomas Lutz für diese feste Beharrlichkeit und große Unterstützung im Prozess der Umgestaltung, Modernisierung und  Neuorganisation der brandenburgischen Gedenkstätten zu danken. Für die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten war Thomas Lutz ein wichtiger und unverzichtbarer Garant für Kontinuität im Wandel.

Prof. Dr. Günter Morsch, Historiker und Politkwissenschaftler, war von Januar 1993 bis Juni 2018 Leiter von Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen und seit 1997 auch Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.


[1] Die 1. Fassung ist abgedruckt in: Jahresbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für die Jahre 1993 bis 1995, S. 106ff. Sie wurde mehrfach, allerdings ohne entscheidende Veränderungen novelliert.

[2] Das Gesetz ist abgedruckt in: https://www.gedenkstaetten-hamburg.de/fileadmin/shgul/Stiftung/2019.11.08_HmbGVBl__Nr._41_HmbGedenkStG-1.PDF.

[3] Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) Empfehlungen zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten. Januar 1992, Berlin August 1992.

[4] Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Brandenburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes. Perspektiven, Kontroversen und internationale Vergleiche. Beiträge des internationalen Gedenkstätten-Colloquiums in Potsdam am 8. und 9. März 1992, Berlin 1992, S. 191f.

[5] Ebenda.

[6] Entschließung zum europäischen und internationalen Schutz der Stätten der von den Nationalsozialisten errichteten Konzentrationslager als historische Mahnmale vom 11.02.1993, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft vom 15.03.1993, Nr. C 72/118ff.

[7] Gerhart Finn, Sachsenhausen 1936–1950. Geschichte eines Lagers, Bad Münstereifel 1988.

[8] „Die NS-Verbrechen dürfen weder durch die Verbrechen des Stalinismus relativiert, noch die Verbrechen des Stalinismus mit Hinweis auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden.“ In:  B. Faulenbach, Einleitung, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur (Hrsg.), Perspektiven, Kontroversen, S. 17.

[9] Während das vormalige „Schutzhaftlager“ des KZ von der sowjetischen Lagerverwaltung als Zone I für die Unterbringung von Internierten nach dem Potsdamer Abkommen benutzt wurde, befanden sich in dem nordöstlich anschließenden Areal des ehemaligen KZ-Sonderlagers, das als Zone II bezeichnet wurde, die von Sowjetischen Militärtribunalen Verurteilten. Günter Morsch, Ines Reich (Hrsg.), Sowjetisches Speziallager Nr. 7/Nr. 1 in Sachsenhausen (1945–1950), Berlin 2005 (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 14).

[10] Günter Morsch, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen. Von der Baugeschichte zum dezentralen Gesamtkonzept, von der Zielplanung zur Realisierung. Stationen und Umwege eines geradlinigen Entwicklungskonzepts, in: Günter Morsch/Horst Seferens (Hrsg.): Gestaltete Erinnerung. 25. Jahre Bauen in der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 1993–2018. Eine Dokumentation, Berlin 2020, S. 45ff.

[11] Günter Morsch, Gestaltete Erinnerung. 25 Jahre Bauen, in: ebenda, S. 37. Zwischen 1993 und 2018 verauslagte die Stiftung für Baumaßnahmen insgesamt 73,2 Millionen Euro.

[12] Jahresbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für das Jahr 1999, S. 82f. Das hinderte aber leider die im Beirat durch ihre Vorsitzende vertretene AG Lager Sachsenhausen 1945–50 nicht, am Tag der Eröffnung des Speziallagermuseums am 9.12.2001 gegen Konzept, Lage und Ausgestaltung des Museums öffentlich zu protestieren.

[13] Jahresbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für das Jahr 1998, S. 62.

[14] T. Lutz, Ende eines Gedenkjahres – Was bleibt? Thesen zur aktuellen und zukünftigen gesellschaftspolitischen Bedeutung und inhaltlichen Arbeit der KZ-Gedenkstätten, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg (Hrsg.), Erinnerung und Begegnung. Gedenken im Land Brandenburg zum 50. Jahrestag der Befreiung, Potsdam 1996, S. 56ff, hier S. 57.

[15] Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (Hrsg.), 60. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge aus den Konzentrationslagerns Sachsenhausen und Ravensbrück sowie aus dem Zuchthaus Brandenburg, Oranienburg 2005, S. 59.

„Das schönste Konzentrationslager Deutschlands“ (Lagerarchitekt Bernhard Kuiper) Eröffnung der Sonderausstellung in der KZ-Gedenkstätte Esterwegen

„DAS SCHÖNSTE KZ DEUTSCHLANDS“ (‚LAGERARCHITEKT‘ BERNHARD KUIPER)

VOM KZ ESTERWEGEN ZUM KZ SACHSENHAUSEN

Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Esterwegen

Prof. Dr. Günter Morsch

 

 

 

Sehr geehrter Herr Landrat,

liebe Frau Dr. Kaltofen,

lieber Kollege Buck,

meine sehr geehrten Damen und Herren

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen darf auch ich Sie alle ganz herzlich zu unserer heutigen Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Esterwegen begrüßen. Die Sonderausstellung, die wir in enger Kooperation mit der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen konzipiert und entwickelt haben, trägt den zugegebenermaßen etwas provozierenden Titel „‘Das schönste KZ Deutschlands‘. Vom KZ Esterwegen zum KZ Sachsenhausen“.  Diese von uns bewusst ausgewählte, auf den ersten Blick irritierende Beschreibung eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers stammt aus der Feder von Bernhard Kuiper, der sich selbst als „Lagerarchitekt“ titulierte. Der aus Ostfriesland stammende, studierte und staatlich examinierte Ingenieur für Hoch- und Tiefbau beantragte Ende 1937 die Einrichtung eines selbständigen Architekturbüros in Papenburg. In seinem von ihm selbst verfassten ausführlichen Lebenslauf warb er für seinen Antrag damit, dass er in Sachsenhausen das, wie er wörtlich schrieb, „bis heute modernste, schönste und größte Lager dieser Art des Deutschen Reichs“ gebaut habe. Seine Karriere als KZ-Baumeister hatte Kuiper allerdings schon im August 1934 im emsländischen KZ Esterwegen begonnen. Von Theodor Eicke, dem Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der Totenkopfwachverbände, war er beauftragt worden, das ursprünglich von der preußischen Polizei mitten im sumpfigen Moor gegründete frühe Konzentrationslager aus- und umzubauen sowie nach den Wünschen und Vorstellungen der SS zu verschönern. Als das KZ Esterwegen aufgelöst und an das Reichsjustizministerium für 750.000 RM verkauft wurde, transportierte die Konzentrationslager-SS die rund 900 KZ-Häftlinge im August und September 1936 in die Nähe der Reichshauptstadt Berlin.

Mitarbeiter der Gedenkstätte Sachsenhausen fanden nach der deutschen Einheit im Sonderarchiv Moskau eine einfache, linierte, 40 mal 25 Zentimeter große Kladde, wie sie auch als Schulheft zur damaligen Zeit nicht selten Verwendung fand. Auf dem Etikett der Umschlagsseite steht: Kommandantur des Konzentrationslagers Esterwegen. P I = SS = Führer. Angefangen:  April 1936. Beendet: 21. August 1939“. Es handelt sich um das Posteingangsbuch der Abteilung I (Kommandant) der Kommandantur des KZ Esterwegen. Der erste Eintrag des mit der Führung der Kladde beauftragten SS-Mannes datiert vom April 1936, dem Monat, in dem Karl Otto Koch seinen Vorgänger Hans Loritz als Kommandant des emsländischen Lagers ablöste. Erstaunen  vermag dagegen das Datum auszulösen, an dem das Posteingangsbuch laut Etikett beendet wurde. Denn 1939 war das Konzentrationslager Esterwegen bereits seit drei Jahren geschlossen und von der SS aufgegeben worden. Öffnet man aber das Posteingangsbuch, dann erschließt sich ein nicht unwichtiger Aspekt der Geschichte des KZ-Systems im „Dritten Reich“: Nach wenigen leeren, offenbar absichtlich frei gelassenen Seiten beginnt ein neuer, in der gleichen Handschrift und daher wohl vom selben SS-Mann verfasster Eintrag mit dem Datum vom September 1936 im KZ Sachsenhausen, das zum gleichen Zeitpunkt, über 400 Kilometer vom Hümmling entfernt, seit Juli 1936 bei der märkischen Kleinstadt Oranienburg, nur acht Kilometer vom Stadtrand der Reichshauptstadt Berlin entfernt,  von Häftlingen aus dem alles überdeckenden Kiefernwald herausgeschlagen wurde. Das umstandslos fortgeführte Posteingangsbuch der Kommandantur ist ein Belegstück für die damalige Auffassung der Konzentrationslager-SS, die die Gründung von Sachsenhausen als eine, relativ undramatische und keines großen Aufhebens werte, einfache „Verlegung“ des KZ Esterwegen in die märkische Heide begriff.

Anders als die betroffenen SS-Männer und  Behörden bewertet die Geschichtswissenschaft heute den Übergang vom KZ Esterwegen zum KZ Sachsenhausen, nämlich  als einen tiefen Einschnitt und Beginn einer neuen Phase der Entwicklung des Systems der Konzentrationslager in Deutschland. Manche Historiker meinen sogar, dass mit der Gründung und dem Aufbau von Sachsenhausen, dem „Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt“, ein völlig neuer Lagertypus geschaffen wurde, der mit seinen Vorgängern, den sogenannten frühen Lagern, zu denen auch das KZ Esterwegen gezählt wird, nur wenig zu tun hatte. Die Ursachen dafür werden in den Zusammenhang mit der im Frühsommer 1934 erfolgten Gründung der “ Inspektion der Konzentrationslager beim Reichsführer SS“ gesehen. Theodor Eicke, der bis dahin das KZ Dachau als Kommandant geleitet hatte, wurde am 4. Juli 1934 zum „Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SS-Wachverbände (SS-Totenkopfverbände)“  von Himmler ernannt. Er  begann sogleich damit, viele Lager, wie z. B. das von der SA gegründete KZ Oranienburg, zu schließen. Andere, wie z. B. auch die Emslandlager Börgermoor und Neusustrum,  überließ die SS dem Reichsjustizministerium. Esterwegen dagegen wurde in das neue KZ-Imperium von Himmler und Eicke eingegliedert.

Noch aus dem KZ Lichtenburg, wo sich Eicke zwecks Übernahme  des dortigen Konzentrationslagers durch die SS im Juni 1934 aufhielt, schrieb er einen Brief an den für Personalfragen zuständigen Chef des SS-Amtes Curt Wittje:  „Am 1. Juli 1934 werde ich voraussichtlich meinen Auftrag in Lichtenburg beenden können und mich anschließend nach Papenburg begeben. Bis zu diesem Zeitpunkt muss das Lager einen verantwortlichen Kommandanten haben, da ich sonst an das Lager gebunden bin. Es wäre zweckmäßig, den Betreffenden vor diesem Zeitpunkt nach hier zu beordern, damit er von mir eingewiesen werden kann.“[1] Wenige Tage später ernannte Himmler den von Eicke protegierten, dem KZ-Inspekteur auch persönlich eng verbundenen und aus Dachau bestens bekannten Hans Loritz zum Kommandanten von Esterwegen. Trotzdem hielt  es Eicke für erforderlich, zeitgleich  persönlich ins Emsland anzureisen, um die alte SA-Truppe, die bisher das Lager geführt hatte , abzulösen und den Grundstock für den Aufbau eines eigenen SS-Wachverbandes mit dem Namen „Ostfriesland“ zu legen. Die Schulung und Abrichtung des Wachverbandes übertrugen Eicke und Loritz wenig später dem abgelösten Kommandanten des KZ Sachsenburg, Karl Otto Koch. Dieser vom Typus her seinen beiden Vorgesetzten sehr ähnliche SS-Führer wuchs nach und nach in die entscheidende Rolle bei der weiteren  Entwicklung des Konzentrationslagers im Hümmling hinein.

Weitere Veränderungen der Organisation des Konzentrationslagers Esterwegen folgten. Damit war der erste Schritt zur Umstrukturierung des KZ-Systems erfolgreich getan: Himmler war es gelungen, alle Konzentrationslager in seine Hand zu bekommen, indem er anderen konkurrierenden NS-Organisationen und Dienststellen die Zuständigkeit für diese Instrumente des Terrors entwand und die verbliebenen Lager entweder überwiegend schloss oder straff unter der Leitung des ihm persönlich verantwortlichen KZ-Inspekteurs zusammenfasste. Neben Dachau, Lichtenburg, Sachsenburg und Oranienburg-Columbia schien Esterwegen als dynamisch wachsendes und nach großen Plänen prachtvoll auszubauendes Konzentrationslager sich etabliert zu haben.

Die Einstellung des aus Ostfriesland stammenden Architekten Bernhard Kuiper im August 1934 ist ein weiterer Beleg dafür, dass die KZ-Inspektion mit Esterwegen  ambitionierte Ziele verfolgte und zum damaligen Zeitpunkt noch keinesfalls an eine Aufgabe des KZ oder an eine Übergabe des Lagers an andere Nutzer dachte. Der 27 Jahre alte Architekt hatte an der Höheren Lehranstalt für Hoch- und Tiefbau in Eckernförde studiert und danach kurzzeitig als Hilfsarchitekt auch im Ausland gearbeitet. Für die Stadt Papenburg sowie den Freiwilligen Arbeitsdienst baute er anschließend eine Stadtrandsiedlung mit 40 Einfamilienhäusern. Gleich nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 trat er zunächst der SA und wenig später auch der NSDAP bei. In dieser Zeit betätigte er sich nach eigenen Angaben auch als Berichterstatter in nationalsozialistischen Zeitungen. Es mag sein, dass Eicke und Loritz durch die publizistische Tätigkeit Kuipers auf den jungen Architekten aufmerksam wurden. Unmittelbar nach seiner Einstellung in den Kommandanturstab des KZ Esterwegen in der Funktion eines „Lagerarchitekten“, wie Kuiper sich selbst nannte, trat er auch in die SS ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg verteidigte sich der bald schon in Leer in einem eigenen Büro selbständige Architek vor dem Entnazifizierungsausschuss damit, dass er zum Beitritt gezwungen worden sei, eine angesichts seines schnellen Eintritts in die SA und NSDAP ersichtlich dreiste Lüge, die ihm aber offenbar die ehrenamtlichen „Richter“ nur zu gerne glauben wollten.

Der ehrgeizige „Lagerarchitekt“ begann gleich nach seiner Anstellung damit, den Aus- und Umbau des Konzentrationslagers Esterwegen unter Ausnutzung der Zwangsarbeit der Häftlinge  voranzutreiben. Er orientierte sich dabei an dem ästhetischen Baustil seiner Heimat, an Reetgedeckten Hallenhäusern, an mit Ziegelsteinen und Holzfachwerk errichteten Giebelhäusern sowie an einer von Heidekraut, Wacholder und Findlingen geprägten Landschaftsgestaltung. Kleine Blumenfelder mit vereinzelten Wacholderbüschen und niedrigen Eiben, eingefasst von kniehohen Holzzäunen aus rohen Birken, Kletterrosen an mit Natursteinen gemauerten Treppenaufgängen, die zu den Holzbaracken der Kommandanturangehörigen führten, hier und da auf kleinen Feldherrnhügeln roh gezimmerte Bänke zum Verweilen und Schauen,  „verhübschten“ die Brutalität und den Terror des KZ-Alltags für die Täter. Fotos dieses ostfriesischen „KZ-Idylls“, auf das die SS enorm stolz gewesen sein muss, publizierte die an Kiosken frei verkäufliche SS-Zeitschrift „Das schwarze Korps“. Das größte und zugleich letzte Bauprojekt, das Kuiper im KZ Esterwegen verwirklichen konnte, war der Neubau eines Freibades für die Angehörigen der Kommandantur und der Wachmannschaften mit einem über zehn Meter hohem Sprungturm.

Während die SS das KZ Esterwegen noch aus- und umbauen ließ, besprachen Himmler und Hitler ihre Pläne zur Weiterentwicklung des KZ-Systems. Hatten deutschnationale Koalitionspartner der Hitler-Regierung und Teile der Nationalsozialisten darauf gehofft, dass nach der Ermordung der SA-Spitze und der damit einhergehenden Ausschaltung der „Revolutionsarmee“ der ungeregelte, willkürliche Terror sich zähmen und in das Prokrustesbett einer nach Regeln und Normen funktionierenden Diktatur einzwängen ließ, so sahen sie sich schnell getäuscht.  Hitler und Himmler verfolgten andere Pläne, nach denen das KZ-System nicht etwa abgeschafft, sondern im Gegenteil beträchtlich sowohl in seiner Größe als auch in seiner Funktion erweitert werden sollte.

Esterwegen dagegen wurde wahrscheinlich deshalb aufgegeben, weil die Wehrmacht Bedenken wegen seiner geographischen Lage dicht an der Grenze zu den Niederladen geäußert hatte. Tatsächlich lagen alle geplanten bzw. neuen Konzentrationslager an einer von Hamburg bis München liegenden Nord-Süd-Achse, die  geographisch fast mittig zwischen den Ost- und Westgrenzen des Deutschen Reiches hindurch verlief. Nur Esterwegen lag weitab von dieser Achse. Außerdem hoffte Himmler mit dem Verkauf des so „adrett“ durch Kuiper hergerichteten Lagers im Hümmling an den Reichsarbeitsdienst, das Geld für den gleichfalls von den Militärs als vordringlich angesehenen Aufbau eines großen KZ in der Nähe der „roten Reichshauptstadt“ aufbringen zu können. Demzufolge schrieb Himmler am 8. Februar 1937 an den preußischen Finanzminister folgenden Brief: „Wie der Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SS-Totenkopfverbände, SS-Gruppenführer Eicke, in meinem Auftrage bereits mündlich dort zum Vortrag gebracht hat, ist von mir in unmittelbaren Verhandlungen mit dem Reichsarbeitsführer, Staatssekretär Hierl, aus politischen Gründen die Räumung des der Geheimen Staatspolizei gehörenden, an der deutsch-holländischen Grenze innerhalb des militärischen Aufmarschgebiets gelegenen Konzentrationslagers Esterwegen und seine Überlassung an den Reichsarbeitsdienst angeordnet worden.“[2] Als Karl Otto Koch im April 1936 Hans Loritz als Kommandant des KZ Esterwegen ablöste, kam er wahrscheinlich bereits mit dem dezidierten Auftrag des KZ-Inspekteurs, die allmähliche Auflösung dieses Lagers und seinen Verkauf an den Reichsarbeitsdienst vorzubereiten. Warum der Reichsarbeitsführer Hierl dann doch den Kauf ablehnte und anstatt ihm der Reichsjustizminster Gürtner  Esterwegen übernahm, kann von mir hier aus Zeitgründen nicht mehr erläutert werden.

Die Anforderungen, die  Reichsführer SS Heinrich Himmler und KZ-Inspekteur Theodor Eicke an den nicht einmal dreißig Jahre alten SS-Untersturmführer Bernhard Kuiper stellten, waren außerordentlich anspruchsvoll. Er sollte nicht nur ein neues Lager, sondern, nur acht Kilometer von Berlin entfernt, erstmals einen ganzen KZ-Komplex erbauen, der wie eine kleine Stadt neben den Unterkünften und Bracken für die Konzentrationslager-SS sowie die Häftlinge, auch Eigenheimsiedlungen, Wirtschaftsbetriebe, Werkstätten und eine komplette Infrastruktur mit Wasserwerk, Trafohaus, Kanalisation und ausgebauten Straßen einschloss. Doch das war den Nationalsozialisten noch nicht genug. Sachsenhausen sollte darüber hinaus ein Modelllager, eine Art KZ-Zukunftsstadt, werden, nicht weniger als ein, wie Himmler formulierte, „vollkommen neues, jederzeit erweiterungsfähiges, modernes und neuzeitliches Konzentrationslager“. Im Aufbau und in der Architektur des neu gegründeten KZ bei der Reichshauptstadt sollte sich nach dem Willen der SS der, um mit dem deutschen Soziologen Max Weber zu sprechen, Idealtypus eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers spiegeln. Ob damals schon Sachsenhausen als Sitz der zentralen Verwaltung des gesamten deutschen KZ-Terrors vorgesehen war, wissen wir nicht, aber es ist sehr wahrscheinlich. Der ostfriesische Architekt sollte diese anspruchsvolle Aufgabe bewältigen und er packte sie tatsächlich mit großem Ehrgeiz und spürbarem Eifer an. Nach den Opfern, die dieses Vorhaben unter den Häftlingen forderte, die seine auf dem Papier gezeichneten Pläne realisieren mussten, fragte er dabei nicht.

Die Moorlandschaft im Hümmling und der Kiefernwald am Lehnitzsee, das waren, bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, idyllische Landschaften, zum Teil touristische Erholungsgebiete. Die deutsche Heide und der deutsche Wald, sie waren von den Schriftstellern und Künstlern der Romantik im beginnenden 19. Jahrhundert idealisiert und zu Sinnbildern deutscher Seele und deutscher Identität verklärt worden. Der, wie es heute noch heißt, „heilen Natur“ wurde die Kraft zugesprochen, die angeblich durch französische Zivilisation verdorbene, durch englische Industrialisierung zerstörte und, so formulierten es nicht nur radikale Antisemiten, durch „jüdischen Händlergeist“  vergiftete deutsche Seele wieder zu reinigen und zu sich selbst zurück zu führen.

Die Natur als reinigender Sehnsuchtsort fand spätestens Ende des 19. Jahrhunderts ihre Ergänzung in der Lagerbewegung, die der heilenden Reinheit der Natur die zu stiftende Gemeinschaft der Lagerinsassen hinzufügte. Die Jugendbewegung, die von den  so genannten „Wandervögeln“ bis hin zu den Jugendorganisationen der Sozialdemokraten und Gewerkschaften nahezu alle politischen und religiösen Gruppen umfasste, sah in den Lagern, mithilfe von Zelten oder schnell und provisorisch zusammengezimmerten Baracken in die freie Natur verpflanzt, gemeinschaftsstiftende, soziale Schichtunterschiede nivellierende Einrichtungen.  „Heile“, reinigende Natur und gemeinschaftsstiftendes Lagererlebnis verschmolzen miteinander. Gemeinschaftliche Arbeit der Lagerinsassen in freier Natur schließlich wurden allergrößte physische und psychische Erziehungseffekte zugeschrieben. Die positive Überhöhung der Lagerbewegung fand in der Weimarer Republik ihren stärksten Ausdruck in der allerorten und von fast allen politischen Richtungen unterstützten Einrichtung des Freiwilligen Arbeitsdienstes. Harte, gemeinschaftliche Arbeit , um Sümpfe trocken zu legen, Straßen zu schottern, Fahrradwege anzulegen, Seen zu entkrauten oder Kanäle zu ziehen, sollte das Millionenheer der Arbeitslosen vor sittlichem und körperlichem Verfall bewahren. Aus dem Freiwilligen Arbeitsdienst wurde schon vor 1933 die sogenannte Pflichtarbeit, der Arbeitslose sich kaum noch entziehen konnten. Auch die Pflichtarbeit war mehr als ein Beschäftigungsprogramm, auch sie verfolgte sozialhygienische Ziele. Von den Arbeitslagern der Pflichtarbeiter aber war es nur noch ein kleiner Schritt zur Verlagerung der bis dahin in leer stehenden Gefängnissen, Fabriken oder Burgen untergebrachten frühen Konzentrationslager in die weitläufigen Wälder und Moorlandschaften Deutschlands. Dort, entweder am Rande der Städte oder sogar weit weg von ihnen, verschmolzen die Ideologien von deutscher Seele in deutscher Natur, die  absurde Vorstellung von gemeinschaftsstiftenden Lagern  und der angeblichen erzieherischen Wirkung harter Arbeit mit den brutalen sozialhygienischen und eugenischen Gesellschaftsvorstellungen der Nationalsozialisten. Im Kern bestand dieses über den Kreis der Parteimitglieder weit hinausreichende, auch in wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und an Universitätslehrstühlen verbreitete Idealmodell einer neu zu schaffenden Gesellschaft in der Übertragung angeblicher Naturgesetze auf die Menschen. Die angestrebte deutsche Volks- und Leistungsgemeinschaft verglich man mit einem Garten, wo das Wachstum der nützlichen Pflanzen dadurch gefördert werde, indem man das Unkraut jätete und trennte aber die Schädlinge erbarmungslos ausrottete. Konzentrationslager waren in der Sichtweise der Nationalsozialisten solche Einrichtungen, bei denen die wenigen „Verhetzten“ und „Irregeleiteten“,  durch harte Arbeit umerzogen, die große Masse der Menschen auf Dauer isoliert und schließlich die in der Sprache des Unmenschen als Parasiten bezeichneten Häftlinge am Ende ermordet werden sollten. Das neue und „moderne“ Konzentrationslager Sachsenhausen entsprach diesen Vorstellungen der Nationalsozialisten und war auch in diesem Sinne ein Modell- und Ideallager.

Als einer der ersten SS-Führer des Konzentrationslagers Esterwegen verließ der Lagerarchitekt seinen bisherigen Arbeitsort. Bernhard Kuiper, der schon in Esterwegen mit den Entwurfsarbeiten für das neue KZ begonnen haben soll, wurde am 15. Juni 1936 in das Berliner Lager Columbia versetzt, wo er fieberhaft an den Plänen und Zeichnungen für Sachsenhausen arbeitete. Zum Dank für seinen besonderen Arbeitseinsatz beförderte ihn  Eicke zum SS-Untersturmführer. Kuipers Auftrag ging weit über seine bisherige Tätigkeit hinaus. In seinem Brief an den preußischen Finanzminister schreibt Himmler dazu: „Ich bitte, bei Prüfung meines vorstehenden Antrages auch die von allen Beteiligten in anstrengender, mühe- und aufopferungsvollster Tages- und Nachtarbeit unter besonders schwierigen Verhältnissen und Gefahrenmomenten in erstaunlich kurzer Zeit hier vollbrachte Leistung zu würdigen und darüber hinaus auch anzuerkennen, dass anstelle des s. Zt. In der ersten Revolutionszeit im Moorgebiet an der Nordwestgrenze des Reiches gebauten einfachen Lagers Esterwegen jetzt hier in der nächsten Nähe der Reichshauptstadt ein vollkommen neues, jederzeit erweiterungsfähiges, modernes und neuzeitliches Konzentrationslager mit verhältnismäßig geringen Mitteln neugeschaffen worden ist, das allen Anforderungen und Erfordernissen nach jeder Richtung hin gewachsen ist und sowohl in Friedenszeiten sowie für den Mob.-Fall die Sicherung des Reiches gegen Staatsfeinde und Staatsschädlinge in vollem Umfang jederzeit gewährleistet.“ [3]

Wir können nicht wissen, ob sich der Lagerarchitekt von Esterwegen durch diese Formulierung Himmlers, es habe sich bei dem ostfriesischen KZ um ein „einfaches Lager“ gehandelt, angesichts seiner umfangreichen Verschönerungs- und Ausbauanstrengungen düpiert fühlte. Aber auch ihm musste sehr schnell bewusst sein, dass der Bau von Sachsenhausen einen deutlichen Sprung in der Entwicklung des KZ-Systems bedeutete. Die kleine KZ-Stadt sollte bis zu 10.000 Häftlinge und 1.500 SS-Männer aufnehmen können, das Vielfache der Aufnahmekapazitäten bisheriger Konzentrationslager.

Der ostfriesische Architekt versuchte, mit vier Entwurfszeichnungen diesem Anspruch zu genügen. Alle waren auf ihre Weise darum bemüht,  dem von der SS gewünschten neuen „Idealtypus“, zu genügen. Am 5. September 1936, als nicht einmal der Kiefernwald vollständig gerodet war, der das ganze riesige Lagergelände bedeckte, wurde die, wie es offiziell hieß, „Verlegung des Konzentrationslagers Esterwegen nach Sachsenhausen bei Oranienburg bei Berlin“ abgeschlossen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt befand sich Kuiper vor Ort und übernahm als Bauleiter die Gesamtverantwortung für das auf mehr als 2 Millionen Reichsmark geschätzte, über etwa 80 Hektar Gelände verteilte, riesige Neubauprojekt. Man kann daher verstehen, dass der SS-Mann, der das eingangs erwähnte Posteingangsbuch der Abteilung I führte, keinen Anlass sah, eine neue Kladde anzulegen. Sein letzter Eintrag in Esterwegen verzeichnet am 5. Juli 1936 den Eingang eines Briefes der KZ-Inspektion mit dem bezeichnenden Inhalt „Kommandierung genehmigt“. Am 30. September, drei Monate später, beginnen die Eintragungen erneut, jetzt aus dem KZ Sachsenhausen.

KZ-Baumeister Bernhard Kuiper versuchte, diesen nationalsozialistischen Idealtypus des zugleich „modernen“ und naturnahen  Konzentrationslagers in seine architektonischen Entwürfe sowie in der Gestaltung von Räumen und Gebäuden zu realisieren. Schon in Esterwegen bildete er mithilfe von Findlingen sogenannte Feldherrenhügel aus, umgab die Baracken der Konzentrationslager-SS mit Blumenbeeten und begrenzte die mit Kies und Schotter belegten Wege durch kniehohe, aus rohen, geschwungenen Ästen gefertigte Zäune.

In dem von ihm von Anfang an geplanten und entworfenen neuen Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt konnte der ostfriesische KZ-Baumeister sein ganzes landschaftsgestalterisches und architektonisches Talent entfalten. Blumenbeete umgaben jetzt auch Häftlingsbaracken und säumten in sanft geschwungenen Wellen die immer säuberlich geharkte neutrale Zone, wo jeder Häftling, der sie absichtlich oder unabsichtlich betrat, sofort und ohne Anruf erschossen wurde. Die drei Ecktürme des Häftlingslagerdreiecks glichen mit ihren den Postenumlauf überkragenden Walmdächern eher englischen Gartenhäusern. Den Turm A schließlich, architektonisches Zentrum einer Geometrie des totalen Terrors, bildete der ostfriesische SS-Mann in einer, niedersächsischen Hallenhäusern vergleichbaren Fachwerkarchitektur aus, in die verschiedene Runenzeichen eingearbeitet waren. Im Kommandanturbereich, der dem Häftlingslager vorgelagert war, übertraf er sich dann selbst: die Baracken des Kommandanturstabes, die unter mächtigen Kiefern aufgereiht nebeneinander standen, waren umsäumt von Blumen. Geschwungene Kieswege, begrenzt von kniehohen Zäunen, leiteten die SS-Männer von einer Baracke zur anderen. Vor dem Büro des Kommandanten befand sich ein kleiner Teich mit Springbrunnen, von wo ein mit Blumenkübeln geschmücktes Holzgeländer zum Eingang führte. Unmittelbar daneben befand sich ein aus rohen Baumstämmen gezimmertes Blockhaus, das mit einem kleinen Zoo verbunden war, in dem mehrere Vögel, ein Affe und andere Tiere untergebracht waren.  In der Tat: es war ein schönes KZ, sieht man von den Häftlingen ab, die auf den Kieswegen geschlagen wurden, zwischen den Blumen verhungerten oder am Galgen neben den Blumenkübeln starben.

 

Sachsenhausen war nicht nur ein Modell- und Ideallager, sondern auch ein Vorführ- und Propagandalager. Von Beginn seiner Einrichtung an bis weit in den Krieg hinein bewunderten nicht wenige deutsche und ausländische Besucher deutsche Ordnung und Sauberkeit, die selbst im KZ zu herrschen schienen. Die Toten der Nacht, die morgens zum Appell mitgenommen werden mussten und die in der sich unendlich hinziehenden Zeit des Abzählrituals hinter den angetretenen Reihen der Häftlinge lagen, wollten die meisten Besucher nicht sehen. Natürlich ging es bei den Verschönerungsmaßnahmen Kuipers nicht nur um das Propagandabild nach Außen, sondern auch um die psychologische Wirkung auf die Männer, die täglich die Häftlinge misshandelten oder sogar ermordeten. Die spießige Kleingarten-ähnliche Idylle, die Kuiper für seine SS-Kameraden schuf, sie entsprach durchaus dem Selbstbild der Männer unter dem Totenkopf. So wie sie sich nicht selten vor ihren Baracken im Kommandanturbereich für das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt fotografieren ließen, mit glänzenden schwarzen Stiefeln, in gepflegten schwarzen Ausgehuniformen und in Herrenmenschenpose hoch aufgerichtet, ebenso brauchten sie für Ihr Selbstbild die Blümchen unter dem Galgen, um sich von den angeblichen Untermenschen, die sie täglich drangsalierten und bewachten, zu unterscheiden und abzugrenzen.

Kuiper selbst, der Sachsenhausen 1937 mit einem sehr mäßigen Zeugnis von KZ-Inspekteur Eicke verließ, kam 1939 in Dienste der SS zurück und begann erneut damit, im gesamten besetzten Europa Lager zu bauen. 1944 schließlich leitete er ein aus KZ-Häftlingen bestehendes Eisenbahnkommando, das im Januar 1945 dem KZ Sachsenhausen unterstellt wurde. Auf diese Weise kehrte der inzwischen zum SS-Obersturmführer beförderte Architekt als Leiter eines Außenkommandos  wieder in den Dienst des Kommandanten von Sachsenhausen zurück. Sieht man von seiner Internierungshaft im ehemaligen KZ Neuengamme ab, so scheint jedoch seine Funktion im System der Konzentrationslager seine weitere Karriere als freier Architekt nicht behindert zu haben.

Am Schluss meiner Begrüßungs- und Einführungsrede ist es mir wie immer eine gerne zu erfüllende Pflicht, allen denjenigen zu danken, die an der Erarbeitung unserer Sonderausstellung beteiligt waren. An erster Stelle will ich den Kurator der Ausstellung Ralph Gabriel nennen, der leider heute nicht teilnehmen kann und sich entschuldigen lässt. Die Gestaltung der Ausstellung wurde konzipiert und realisiert vom Büro Beier & Wellach Projekte, mit dem es eine Freude war, zusammenarbeiten zu dürfen. Eine große Freude war es für uns auch, mit Mitarbeitern der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, insbesondere mit Frau Dr. Kaltofen, die Ausstellung von der Idee bis zur Realisierung gemeinsam zu planen und zu realisieren. Wir danken ganz herzlich für eine wunderbare Kooperation, zu deren Gelingen wesentlich auch die finanzielle Unterstützung des Landkreises beigetragen hat. Ich freue mich, dass ich diesen Dank Ihnen persönlich, sehr geehrter Herr Landrat, übermitteln kann.

[1] Theodor Eicke vom 21. Juni 1934, abgedruckt bei: J. Tuchel, die Inspektion, S. 28f.

[2] Der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei v. 8. Februar 1937, abgedruckt in: G. Morsch, Sachsenhausen, S. 113.

[3] Ebenda, S. 119.

Sachsenhausen – ein neuer Lagertypus?

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