Aufsatz: Totenbuch der Häftlinge des sowjetischen Speziallagers in Sachsenhausen, Vorwort

VORWORT

Im Jahre 2001 eröffnete die Gedenkstätte Sachsenhausen eine große, mehr als 600 Quadratmeter umfassendes Dauerausstellung zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 7/Nr. 1 (1945-1950). In dem dafür eigens errichteten Museumsgebäude sowie in zwei der unmittelbar angrenzenden, original erhaltenen Steinbaracken sollen Dokumente und Gegenstände, Filme und Bilder, Berichte von Zeitzeugen und Reportagen von Journalisten die Geschichte des weitaus größten sowjetischen Speziallagers mit den Mitteln einer Ausstellung anschaulich erzählen. Doch wer wirklich versuchen will, zu begreifen, welches Leid und welches Unrecht den an diesem Ort zwischen 1945 und 1950 von den sowjetischen Geheimdiensten Inhaftierten widerfahren ist, der geht am besten wenige Schritte weiter, stößt das niedrige Tor zu einem großen, 1993 eingeweihten Friedhof auf und stellt sich vor die langen Reihen der heute mit Blumen bepflanzten und dadurch immer noch sichtbaren Massengräber. Erschütterung und Entsetzen können nicht ausbleiben: Menschen, Männer und Frauen, Alte und Junge, Väter und Söhne, Mütter und Töchter, warf man ohne jeglichen Respekt vor ihrer Menschenwürde, nackt und bei Dunkelheit, zu Hunderten, zu Tausenden in die sich immer noch zwischen den Rasenfeldern abzeichnenden, vorbereiteten Gruben, übereinander gestapelt wie Holz, Köpfe an Füße, um Platz zu sparen. Als die Bundeswehr wenige Jahre nach der deutschen Einheit die drei Gräberfelder, die nach Hinweisen der Überlebenden gefunden worden waren, öffnen musste, um die Grenzen der Massengräber einmessen zu können, führte mich der Grabungsleiter in eine der diagonal zu den Gruben verlaufenden, schmalen Untersuchungsgräben. Dort stand ich in Augenhöhe den auf engstem Raum zusammen gepressten sterblichen Überresten der Toten gegenüber, die sich unmittelbar links und rechts von mir auftürmten. Dem unvergesslichen Entsetzen, das ich bei diesem Anblick massenhaften anonymen Sterbens empfunden habe, vermag keine Sprache Ausdruck zu geben.

Mit dem vorliegenden Totenbuch wird die durch das Entsetzen verlorene Sprache wieder gefunden, indem die Namen der Opfer aufgerufen werden. Die beabsichtigte Anonymität der Massengräber wird durchbrochen, an die Seite des Entsetzens tritt die Trauer um das Individuum, um den einzelnen Menschen oder die Gruppe, deren Schicksal nun wieder dem von den Tätern beabsichtigten Verschweigen und Vergessen entrissen werden kann. Noch heute erreichen die Gedenkstätte jährlich Hunderte von Briefen, in denen die Angehörigen der Toten nach dem Schicksal der plötzlich und ohne Nachricht Verschwundenen nachforschen. Die Ungewissheit über deren Schicksal belastet auch nach mehr als einem halben Jahrhundert immer noch die Familien. Können wir hoffen, dass die vorliegende Publikation über die Toten des sowjetischen Speziallagers in Sachsenhausen nicht zuletzt aufgrund seiner Genauigkeit und Verlässlichkeit ein wenig dazu beiträgt, diese permanente Unsicherheit zu beenden?

Der von Deutschland begonnene Zweite Weltkrieg und die damit einher gehenden Völkermordverbrechen haben nicht nur das Leben von vielen Millionen Menschen ausgelöscht, sondern zahlreiche Familien in quälende Ungewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen gestürzt. Doch unter der breiten Schleppe der unzähligen Verbrechen, die die Nationalsozialisten noch nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ hinter sich herzogen, ließ sich neues Unrecht gut verbergen. Die Speziallager wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht zwar als Internierungslager für Anhänger und Träger des NS-Systems propagiert, so wie sie mit den Westalliierten in den verschiedenen interalliierten Konferenzen vereinbart worden waren, aber sowohl die Einweisungs- als auch die Haftpraxis entsprachen mehr den aus den Tiefen der Sowjetunion mit gebrachten Erfahrungen kommunistischen Terrors als einer an der Charta der Menschenrechte und des Völkerrechts orientierten Besatzungsherrschaft. Nur so kann man die hartherzige Gleichgültigkeit und menschenverachtende bürokratische Ignoranz der verantwortlichen sowjetischen Organe bis hin zu Berija und Stalin, die persönlich über die Folge des Hungersterbens in den Speziallagern berieten, erklären, mit der die sowjetischen Verantwortlichen nicht nur das alltägliche Massensterben achselzuckend hinnahmen, sondern durch wirklichkeitsfremde Kürzungen von Lebensmittelrationen sogar noch dramatisch verschärften.

Schon bald nach der deutschen Einheit und der Entdeckung der Massengräber haben sich das Land Brandenburg sowie die Gedenkstättenstiftung zunächst in erster Linie um die Anlage würdiger Trauerstätten bemüht. Bis 1994 waren in Zusammenarbeit mit den Organisationen der Überlebenden auf allen drei Massengräberstätten, im Schmachtenhagener Forst, am „Kommandantenhof“ sowie „an der Düne“, große und gerade in ihrer Unterschiedlichkeit durchaus beeindruckende Friedhöfe eingerichtet worden. Die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte des sowjetischen Lagers sowie die Einrichtung eines Museums mussten dahinter vorerst zurück stehen. Mitte der neunziger Jahre übergab das Staatliche Archiv der Russischen Föderation (GARF) der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten zahlreiche Kopien der verschiedenen in seinen Beständen verwahrten Berichte und Dokumente der sowjetischen Lagerverwaltung. Ohne die darauf folgende aufwändige Auswertung dieser Archivalien wäre nicht nur eine seriöse wissenschaftliche Erforschung der Geschichte der sowjetischen Speziallager nicht voran gekommen, sondern auch die Erarbeitung des vorliegenden Totenbuches unmöglich gewesen.

Das durch katastrophale Ernährung, Unterbringung und Haftbedingungen verursachte Massensterben ist auch für die Lage und die architektonische Ausgestaltung des Museums sowie der Dauerausstellung von ausschlaggebender Bedeutung. Der große, schwarze Kubus, durch dessen Decke aus Glas und mächtigen Eisenträgern man den darüber liegenden Himmel nur wie durch ein vergittertes Fenster wahrnehmen kann, vermittelt Strenge, Ernsthaftigkeit und Schwere. Er liegt nicht nur unmittelbar neben dem größten der drei Massengräber, sondern richtet darüber hinaus seine quer zwischen Eingang und Fensteröffnung an der nordwestlichen Ecke des Gebäudes verlaufende Gebäudediagonale auf den Gedenkplatz des Friedhofes aus. Im konzeptionellen und räumlichen Zentrum der Ausstellung befindet sich ein größerer Vitrinenkubus, in dem mit wenigen, aber sehr anrührenden Exponaten, u. a. einem der sechs erhaltenen Totenbücher der sowjetischen Lagerverwaltung, versucht wird, die Dramatik des Massensterbens den Besuchern zu verdeutlichen. Hier in diesem Museum soll zukünftig auch das von der Gedenkstätte unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Ines Reich in enger und vertrauensvoller Kooperation mit dem Deutschen Roten Kreuz und mit der dankenswerten finanziellen Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur erarbeitete Totenbuch allen Nutzern und Interessenten zur Verfügung stehen. Vor allem für die Angehörigen der Toten und für die Überlebenden des sowjetischen Speziallagers, denen es gewidmet ist, soll es darüber hinaus eine Form individueller Kontemplation, Erinnerung und Trauer ermöglichen, die auf den Friedhöfen der Massengräber in der unausweichlichen Anonymität des Gedenkens verloren zu gehen drohen.

Mein Dank gilt außer den bereits genannten Personen und Institutionen vor allem den überlebenden Häftlingen des sowjetischen Speziallagers sowie den Angehörigen, die durch ihre Hinweise und stete Hilfsbereitschaft uns bereitwillig unterstützt haben.

Prof. Dr. Günter Morsch
Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten
Leiter Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen