Rede: 65. Jahrestag der Errichtung des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 in Sachsenhausen, 4. Septembern 2010

65. Jahrestag der Errichtung des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 in Sachsenhausen
4. September 2010

Begrüßung

Prof. Dr. Günter Morsch

Sehr geehrte Überlebende der sowjetischen Lager,
sehr geehrte Frau Ministerin Dr. Münch,
Frau Dr. Berggreen-Merkel,
lieber Herr Jänichen,
lieber Prof. Dr. Faulenbach,
Sehr geehrte Frau Heydecke,
Herr Dr. Mählert,
Meine Damen und Herren,

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen begrüße ich Sie ganz herzlich zu unseren heutigen Veranstaltungen aus Anlass des 65. Jahrestages der Errichtung des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 in Sachsenhausen. Wir freuen uns sehr, dass sie in so großer Zahl erschienen sind, um gemeinsam mit uns an die Qualen und Leiden von etwa 60.000 Häftlingen zu erinnern, die zwischen 1945 und 1950 in den Baracken des Lagers von der sowjetischen Geheimpolizei eingesperrt worden waren. Ganz besonders herzlich begrüße ich unter ihnen die große Zahl von Überlebenden der sowjetischen Speziallager, die trotz mancher Beschwernisse und gesundheitlicher Probleme teilweise von weither in die Gedenkstätte gekommen sind, um ihrer verstorbenen Kameradinnen und Kameraden zu gedenken. Ich begrüße auch die Vizepräsidentin des Brandenburger Landtages, Frau Gerrit Große, sowie alle anderen Abgeordneten des Landtages und die Vertreter der Stadt Oranienburg. Wir freuen uns, dass die beiden Beauftragten für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur von Brandenburg und Berlin, Frau Poppe und Herr Gutzeit, unserer Einladung ebenso gefolgt sind wie zahlreiche Repräsentanten der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft sowie des Beirates der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten zur Aufarbeitung der Geschichte des sowjetischen Speziallagers. Ich begrüße ferner die Vertreter von Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, für die ich stellvertretend Herrn Generalsuperintendenten Passauer nennen möchte.

Am 16. August 1945, also vor etwa fünfundsechzig Jahren, wies der Kommandant des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 in Weesow bei Werneuchen die verbliebenen etwa 5.000 Häftlinge an, zu Fuß über schmale Brandenburger Landstraßen und durch kleine Dörfer nach Oranienburg zu marschieren. Die seit Mai 1945 in fünf ehemaligen Bauernhöfen zusammen gepferchten Menschen waren schon nach wenigen Wochen ihrer Haft aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen völlig erschöpft und ausgezehrt. Viele von ihnen waren bereits gestorben. So schleppten sich die Tausenden in lang gezogenen Marschkolonnen seit dem frühen Morgen des 16. August nur mühsam über die Pflasterstraßen in Richtung Oranienburg, das sie am Abend endlich erreichten. Das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen, in dem noch bis in den Hochsommer hinein kranke KZ-Häftlinge gepflegt worden waren, war am 7. August vom kommandierenden Oberarzt der Roten Armee offiziell an den sowjetischen Geheimdienst übergeben worden. Bereits wenige Tage danach, am 10. August, schickte der Kommandant des Speziallagers Nr. 7 ein Arbeitskommando von Weesow aus in das Lager. Dessen Aufgabe bestand nicht etwa darin, die Holz- und Steinbaracken für die Unterkunft der Häftlinge vorzubereiten oder gar Vorsorge für ihre Verpflegung zu treffen. Vielmehr ging es in erster Linie darum, die defekten Sicherungsanlagen des ehemaligen Konzentrationslagers zu reparieren und wieder in Betrieb zu nehmen. So sind denn auch die Hauptmotive der sowjetischen Verantwortlichen für den Umzug des Speziallagers Nr. 7 von Weesow nach Sachsenhausen weniger in der besseren Infrastruktur des ehemaligen Konzentrationslagers der Reichshauptstadt gegenüber den primitiven Bedingungen im provisorischen, von Stacheldraht umzäunten Lagerdorf zu sehen, wo die Häftlinge auf den nackten und groben Steinfußböden der Bauernhäuser schlafen mussten. Vielmehr blieben die von der zentralen sowjetischen Lagerverwaltung in Hohenschönhausen festgelegten Haftbedingungen bis etwa 1948/49 weitgehend unverändert katastrophal. Entscheidend für diese in vielen Berufsjahren erfahrenen Spezialisten sowjetischer Lager war vielmehr die Überlegung, dass die von der SS zur Perfektion entwickelten Sicherungsanlagen des ehemaligen Konzentrationslagers weitere Fluchten von Häftlingen verhinderten, wie sie dagegen in Weesow nicht selten vorgekommen waren. Aus der Sicht der sowjetischen Lagerverwaltung kam hinzu, dass die Aufnahmekapazitäten des bald schon in mehrere Zonen unterteilten etwa 20 Hektar großen Lagergeländes wesentlich größer waren. Schon zwei Monate nach seiner Errichtung verzeichnete die sowjetische Lagerverwaltung am 15. Oktober 1945 eine Belegungsstärke von über 11.0000 Häftlingen. Sachsenhausen war damit in kürzester Zeit zum größten der zehn sowjetischen Speziallager auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone heran gewachsen und es blieb das weitaus größte seiner Art auch bis zu seiner Auflösung im März 1950.

In dieser Zeit verstarben infolge der völlig ungenügenden Versorgung mit Kleidung und Lebensmitteln sowie Medikamenten an Hunger und Krankheiten nahezu 12.000 Menschen. Das Lager starb damit, wie es die Zeitzeugen beschreiben, einmal komplett aus. Aber auch diejenigen, die das Massensterben überlebten, litten und leiden bis heute noch unter den Folgeerscheinungen der Haft. Mit ihnen quälten sich auch die meisten Angehörigen der Opfer, die viele Jahre über das Schicksal ihrer Ehegatten, Väter, Mütter oder Kinder gewollt im Ungewissen bleiben mussten. Wir haben es daher als eine unserer wichtigsten humanitären Aufgaben angesehen, alle die Namen der im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen Verstorbenen aus allen erreichbaren Quellen und Archiven zusammenzutragen, sie mit der größtmöglichen wissenschaftlichen Genauigkeit und Präzision zu verzeichnen und der Öffentlichkeit, vor allem aber den Überlebenden sowie den Angehörigen, zur Verfügung zu stellen.

Mit dem nun vorliegenden Totenbuch, dessen erste Exemplare wir heute übergeben können, wird die durch das Entsetzen über den Tod so vieler Menschen verlorene Sprache ein Stück weiter wieder gefunden, indem die Namen der Opfer aufgerufen werden. Die von den Tätern beabsichtigte Anonymität der Massengräber wird durchbrochen, an die Seite des Entsetzens tritt die Trauer um das Individuum, um den einzelnen Menschen oder die Gruppe, deren Schicksal nun wieder dem beabsichtigten Verschweigen und Vergessen entrissen werden kann. Noch heute erreichen die Gedenkstätte jährlich Hunderte von Briefen, in denen die Angehörigen der Toten nach dem Schicksal der plötzlich und ohne Nachricht Verschwundenen nachforschen. Die Ungewissheit über deren Schicksal belastet auch nach mehr als einem halben Jahrhundert immer noch die Familien. Es ist unser tief empfundenes Anliegen, dass das heute Ihnen, den Überlebenden und den Angehörigen, übergebene Totenbuch nicht zuletzt aufgrund seiner Genauigkeit und Verlässlichkeit ein wenig dazu beiträgt, diese permanente Unsicherheit zu beenden.