Rede zur Verabschiedung von Stiftungsdirektor Prof. Dr. Detlef Garbe in den Ruhestand, Hamburg, den 30. Juni 2022

Prof. Dr. Günter Morsch

HAMBURG, DEN 30. JUNI 2022

Prof. Dr. Günter Morsch

Vorsitzender der Fachkommission der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung  an die Opfer der NS-Verbrechen

Sehr geehrte Frau Präsidentin

Sehr geehrter Herr Senator, lieber Herr Brosda

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Lieber Detlef,

Die Erinnerungskultur in Deutschland hat in den vergangenen vierzig Jahren einen starken und grundlegenden Wandel erlebt. Von der Leugnung, Verharmlosung, Verdrängung und Relativierung der NS-Verbrechen, die noch in den späten siebziger Jahre in der Bundesrepublik die Regel waren bis hin zu der sowohl in der Breite als auch in der Tiefe eindrucksvoll entwickelten Gedenkstättenlandschaft unserer Tage. Wie immer in der Geschichte gibt es auch in der Entwicklung der Erinnerungskultur Phasen, Brüche und Wendepunkte. Schauen wir uns dabei die verschiedenen Veränderungen, Wandlungen, Übergänge und Neugestaltungen näher an und fragen danach, wie sie zustande kamen, dann können wir nach meiner festen Überzeugung  konstatieren, dass Detlef Garbe dabei häufig eine wichtige Rolle als Initiator, Akteur, Gestalter, Historiker und Gedenkstättenvertreter spielte. Dass er dies natürlich nicht allein tat, sondern im Verbund mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern versteht sich nicht nur von selbst, sondern charakterisiert eine seiner wichtigsten Handlungsmaximen, die für den Erfolg verantwortlich waren und sind.

Mit einer etwa zehnjährigen Verspätung gegenüber den historischen Museen begannen sich verschiedene Initiativen Anfang der achtziger Jahre in der Bundesrepublik mit den „vergessenen KZ’s“ zu beschäftigen. Der damals 25 Jahre alte Student der Geschichte und Theologie gehörte einem Kreis von Initiatoren um die 1981 eröffnete und von Ludwig Eiber geleitete Dokumentationsstätte Neuengamme an, damals eine Untergliederung des Museums für Hamburgische Geschichte. Als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen kannte er die wesentlich weiter entwickelten KZ-Gedenkstätten in Polen. Sie verfügten ebenso wie die großen Mahn- und Gedenkstätten in der DDR über beachtliche Sammlungen, Archive, pädagogische Abteilungen sowie große Dauerausstellungen. Von Umfang und vom Selbstverständnis solcher großer Gedenkstätten waren auch die wenigen kleinen und häufig ehrenamtlich betriebenen Einrichtungen in der BRD noch meilenweit entfernt. Es konnte auf dem Boden einer durch den Zeitgeist der späten sechziger und siebziger Jahre sowie durch die weite Verbreitung des amerikanischen Fernsehfilm „Holocaust“ bewirkte allmähliche Zerbröckeln der Mauer aus Verdrängen und Verschweigen  zunächst nur darum gehen, die verschiedenen von den Verbänden der Überlebenden mitgetragenen Initiativen zusammenzubringen. Ein solches erstes Treffen, aus dem schließlich die bis heute regelmäßig stattfindenden Gedenkstättenseminare hervorgingen, fand in Hamburg statt. Der aus den verschiedenen Tagungsbeiträgen entstandene Sammelband wurde 1983 von Detlef Garbe unter dem Titel „Die vergessenen KZ’s“ herausgegeben. Die darin von Herausgeber im Vorwort gezogene Bilanz der deutschen Erinnerungskultur, von ihm als „organisierte Vergesslichkeit“ bezeichnet, war für die Bundesrepublik peinlich und beschämend.

Parallel zu den Bemühungen der grassroot-Bewegung, Gedenkstätten an den historischen Orten des Terrors zu gründen und zu etablieren, begann die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verfolgung der bisher vergessenen, verdrängten und häufig nach wie vor diskriminierten Opfergruppen, wie der Homosexuellen, der Sinti und Roma, der sowjetischen Kriegsgefangenen, der Wehrdienstverweigerer oder der sogenannten Bibelforscher. Die Anfänge seiner Beschäftigung mit dem Schicksal der Zeugen Jehovas setzte Garbe im Laufe der achtziger Jahre im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen fort.  Er widmete seine Dissertation der systematischen Verfolgung und dem erstaunlichen Widerstand dieser religiösen Sekte. Seine 1993 publizierte Studie gilt nach wie vor als ein Standartwerk, das viele weitere Forschungen zur Geschichte der Zeugen Jehovas initiiert hat. Sie hat seitdem vier Auflagen erlebt. 2008 erschien in Kooperation mit dem US-Holocaust-Museum auch eine englische Übersetzung.

Blick man auf diese erste Phase zurück und betrachtet die Rolle von Detlef Garbe in dieser Zeit, so kann man ihn wohl als ein Urgestein der von unten entstandenen und erkämpften bundesdeutschen Gedenkstättenbewegung bezeichnen. Er war als Teil seiner Generation über die Erinnerungsverweigerung der Eltern und Großeltern tief erschrocken. Für sie war die von zahlreichen Skandalen geprägte Nachgeschichte des NS-Terrors Teil der eigenen Lebenserfahrung. Sie waren im wörtlichen Sinn davon betroffen, wurden häufig als „Nestbeschmutzer“ beschimpft und nicht selten mit Ausrufen wie „Euch hat man vergessen zu vergasen!“ verbal und physisch bedroht. Umso unverständlicher und absurder ist es für mich, wenn gelegentlich denjenigen, die sich vor dem Hintergrund der nachwirkenden Diskriminierung mit den Verfolgten solidarisierten,  unterstellt wird, sie hätten durch Identifikation mit den Opfern der Beschäftigung mit den Tätern ausweichen wollen.

Die deutsche Einheit führte zu einem weiteren in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden grundsätzlichen Wandel in der deutschen Erinnerungskultur. Er kann als ein wirklicher Paradigmenwechsel bezeichnet werden. Denn die maßgeblichen Politiker fragten nun nicht mehr, was sie tun könnten, um den Forderungen der Gedenkstättenbewegung entgegenzukommen, sondern sie betrachteten umgekehrt die Fortentwicklung der deutschen Erinnerungskultur als eine conditio sine qua non, um die außenpolitische Akzeptanz des vereinten Deutschland vor allem in seinen Nachbarstaaten zu erreichen. Es war wohl eher ein glücklicher Zufall, dass zum gleichen Zeitpunkt Detlef Garbe die Leitung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme übertragen wurde. Zwei Jahre später legte eine Expertenkommission ein umfassendes Konzept zur Neugestaltung vor. Darin wurden nicht nur die Ausdehnung der Gedenkstätte auf das ehemalige, von der Justizvollzugsanstalt genutzte Häftlingslager, sondern auch wichtige Fortschritte hin zu einem modernen Ausstellungs- und Lernort vorgeschlagen. Die Umsetzung dieser weitreichenden Pläne konnte zwar erst rund zehn Jahre später nach dem durch die neue Regierungskoalition aus CDU, Schill-Partei und FdP verursachten national und international Aufsehen erregenden Skandal seit Frühjahr 2002 realisiert werden. Trotzdem trieb die neue Gedenkstättenleitung die Modernisierung, Professionalisierung und Neugestaltung in vielen Bereichen schon in den neunziger Jahren energisch voran.

Als ein Beispiel dafür will ich die von der Gedenkstätte Neuengamme und ihrem Leiter herausgegebene wissenschaftliche Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ nennen. Sie brachte es zwischen 1994 und 2020 auf insgesamt 19 Hefte.  Zwar stehen regional- und lokalgeschichtliche Perspektiven darin im Vordergrund, doch thematisieren die zahlreichen Aufsätze häufig grundsätzliche historische Forschungsfragen, teilweise sogar zum ersten Mal. Das Kaleidoskop der Beiträge reicht von Aspekten der Täterforschung über die Geschichte der verschiedenen Lager und den Umgang der Nachkriegsjustiz mit den NS-Verbrechen bis hin zu Fragen der musealen Präsentation. Auch die vergessenen und verdrängten Opfergruppen, wie die sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, werden behandelt. Um den Wert der Hefte zu verdeutlichen, muss man wissen, dass es bis zur Mitte der neunziger Jahre so gut wie keine wissenschaftliche Forschung über die Geschichte der Konzentrationslager gab.

Mir als ehemaligen Leiter einer der beiden nach der Wiedervereinigung besonders im geschichtspolitischen Streit stehenden KZ-Gedenkstätten, Buchenwald und Sachsenhausen, ist außerdem wichtig, ein weiteres großes  Verdienst Garbes in dieser entscheidenden Phase der Modernisierung und Umgestaltung hervorzuheben:  Anders als andere Urgesteine der westdeutschen Gedenkstättenbewegung sah der Leiter von Neuengamme nach anfänglichen Irritationen wegen einer nicht zu Unrecht befürchteten Relativierung der NS-Verbrechen im Zuge des Aufarbeitungsprozesses der SED-Diktatur vornehmlich die Chancen, die der Paradigmenwechsel bedeutete. Das Urgestein wurde, um im Bild zu bleiben, zu einem der tragenden Brückenpfeiler zwischen heftig widerstreitenden Positionen der Erinnerungspolitik.  Das lag nicht nur an seinem verbindlichen dialogischen Aushandlungsstil, sondern gerade auch an dem beruflichen Selbstverständnis als Wissenschaftler und Museumsmensch. Das in den neunziger Jahren auf Bundesebene durchgesetzte Konzept moderner Gedenkstätten als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben stieß bei ihm daher auf breite Zustimmung und Unterstützung. Er empfand es nicht als antiquarisch oder gar bildungsfeindlich, sondern als ein Weg, historische Forschung, museale Bewahrung, Denkmalschutz und moderne Präsentationsformen mit emphatischem Gedenken und moderner Pädagogik zu verbinden. Insoweit war es konsequent und richtig, dass die verschiedenen Bundesregierungen ihn als Vertreter der Länder in das Expertengremium der Bundeskulturbeauftragten beriefen, das über die Verteilung der sogenannten Projektmittel entscheidet. Gleichermaßen logisch war es, dass Garbe, der sich aktiv in der 1997 gegründeten Arbeitsgemeinschaft der Leiter der großen KZ-Gedenkstätten engagierte, 2018 zu deren Sprecher bestimmt wurde.

Die in den Jahren 1989 bis 2002 voran getriebenen inhaltlichen und praktischen Modernisierungen waren die Voraussetzung, dass in den folgenden drei Jahren bis zum 60. Jahrestag der Befreiung die umfassende Neugestaltung realisiert werden konnte. Institutionell allerdings blieb der Wandlungsprozess insoweit lange Zeit unvollständig, als die KZ-Gedenkstätte mit ihren Außenstellen am Bullenhuser Damm, in Poppenbüttel und Fuhlsbüttel eine nachgeordnete staatliche Einrichtung blieb. Die Selbständigkeit und die damit verbundene institutionelle Förderung durch den Bund strebte Garbe zwar an, konnte aber die dem Bundestrend folgende Umwandlung in eine politisch unabhängige, selbständige Stiftung erst 2020 erreichen.  Obwohl gerade in den letzten Jahren die Erinnerungskultur in der Hansestadt eine beeindrucke Ausgestaltung erfahren hat, an der der Leiter von Neuengamme großen Anteil hatte, sieht Detlef Garbe spätestens seit 2015 die geschichtspolitische Erfolgsgeschichte der Gedenkstätten eher wieder im Gegenwind. Nur wenige Jahre nach seinem häufig zitierten Aufsatz über die Entwicklung der Gedenkstätten von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur konstatiert er ein vor allem aus intellektuellem Milieu geäußertes neues Unbehagen an der Erinnerungskultur. Drei Gefahren, die die bisherige Erfolgsgeschichte bedrohen, meint er dabei identifizieren zu können: 1. Die Gefahr des Aufarbeitungsstolzes, 2. Den drohenden Verlust der gesellschaftlichen Unterstützung im Zeichen des Endes der Zeitzeugenschaft und des Rückzugs der Aufarbeitungsgeneration sowie 3. die erneut wachsende Gefahr der Relativierung der NS-Verbrechen. Er verweist dabei u. a. auf die Versuche von europäischen Politikern und der EU-Kommission, ein historisches Masternarrativ quasi per Dekret durchzusetzen, das einer banalisierten Totalitarismustheorie folgt. Natürlich entwickelt Garbe im gleichen Atemzug eine Reihe von Initiativen und Vorschlägen, wie die Gedenkstätten diesen Gefahren begegnen sollten. Dabei spart er auch nicht an Selbstkritik, etwa wenn er zu bedenken gibt, dass im Streben nach wissenschaftlicher Objektivität die Gedenkstätten in ihren Ausstellungen und Präsentationen das Verstörende zu sehr eingeebnet hätten. „Verlieren aber Gedenkstätten das Unbequeme und ihre Anstößigkeit“, dann, so befürchtet er, „sind sie als Lernorte nicht zukunftsfähig.“[1]

In meiner kurzen Würdigung ist leider nicht die Zeit, diesen spannenden Diskurs über eine neuerliche „Zeitenwende“ in der deutschen Erinnerungskultur zu vertiefen. Anzeichen dafür gibt es sehr wohl. Da Ich aber von den Organisatoren gebeten wurde, in meiner Funktion als Vorsitzender der Fachkommission zu sprechen, will ich es keinesfalls versäumen, im Namen aller Kolleginnen und Kollegen, die die Gedenkstätte und Stiftung in inhaltlichen Fragen beraten dürfen, ganz herzlich für eine wirklich sehr gute, vertrauensvolle,  stets anregende und angenehme Zusammenarbeit zu danken. In der Fachkommission sind sowohl auswärtige Experten als auch Vertreterinnen und Vertreter der vielfältigen Hamburger Wissenschaftslandschaft präsent. Dabei kann ich mich als langjähriges Mitglied kaum an irgendwelche Konkurrenzen oder Unstimmigkeiten erinnern. Die Fachkommission hat im Gegenteil die anregenden wissenschaftlichen Forschungsleistungen der Gedenkstätte und ihres Direktors stets als wertvolle, qualitativ herausragende und innovative Ergänzung der universitären und außeruniversitären Forschungleistungen begrüßt und entsprechend gewürdigt. Für dieses fruchtbringende Miteinander waren zu einem Teil die von Garbe intensiv gepflegten persönlichen Kontakte und Freundschaften ein kaum zu überschätzender Vorteil. Zum anderen Teil ist sie das Ergebnis seiner persönlichen Überzeugung und Berufsauffassung, die ich abschließend zitieren will: „Ohne Wissen über die Ereignisse und Personen, an die erinnert und um die getrauert werden soll, ist Gedenken nicht möglich. Die wissenschaftliche Erschließung der jeweiligen historischen Orte ist zudem Voraussetzung jeder Vermittlungstätigkeit und pädagogischen Bemühung. Insofern ist die Forschung keine additive Aufgabe, sondern Grundbestandteil jeder Gedenkstättenarbeit.“[2]


[1] Detlef Garbe, Gedenkstätten in der Bundesrepublik. Eine geschichtspolitische Erfolgsgeschichte im Gegenwind, in: Detlef Garbe, Neuengamme im System der Konzentrationslager. Studien zur Ereignis- und Rezeptionsgeschichte, Berlin 2015, S. 485.

[2] Detlef Garbe, Eine ‚moderne‘ Gedenkstätte? Die Konzeption der KZ-Gedenkstätte neuengamme als zeitgeschichtliches Museum und historisch-politische Bildungsstätte, in: Ebenda,  S. 439.

Menschen im Fadenkreuz des rechten Terrors. Vortrag auf der Landesstrategiekonferenz Politisch motivierte Kriminalität 5. November 2021

Pressestelle.PP@polizei.Brandenburg.de

Pressemeldung Nr. 29/2021 vom 5.11.2021

Landtag Saarland. Gedenkansprache 27. Januar 2019

TAG DER OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS

IM SAARLÄNDISCHEN LANDTAG

AM 27. JANUAR 2019

PROF. DR. GÜNTER MORSCH

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,

Sehr geehrte überlebende Opfer des nationalsozialistischen Terrors und Angehörige

Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages, des Saarländischen Landtages und Mitglieder der Landesregierung,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Schülerinnen und Schüler

„Komm mit zum Judenerschießen!“ sagte ein SS-Mann zum anderen, „es gibt auch Alkohol.“  Hastig und wild übereinander geworfen, so fanden wir, die Mitglieder einer von der Brandenburgischen Landesregierung eingesetzten Expertentengruppe zur Aufklärung einer Massenmordaktion im Februar 1945, in einer Sandgrube direkt neben dem Tatort die von den Mördern in nicht geringer Zahl während ihrer blutigen Erschießungen geleerten Wein- und Schnapsflaschen. In der näheren Umgebung der Grube lagen noch Patronenhülsen und Magazine ihrer Mordwerkzeuge. Die SS-Männer, die in einer zwei Tage andauernden Massenmordaktion 1.342 vorwiegend ungarische und polnische Juden töteten,  hatten zunächst einfach durch das dünne Holz der sogenannten Schonungsbaracken des im Süden Brandenburgs errichteten KZ-Außenlagers Lieberose von Sachsenhausen hindurch auf die dort zusammen gepferchten wehrlosen Opfer geschossen. Wem es gelang durch Türen und Fenster herauszuklettern, den ließen die Mörder auf dem Boden zu sich herankriechen, um sie mit Kopfschüssen zu töten.

So sah er aus, der letzte Akt des Holocaust bzw. der Shoah, kaum anders als in den Kriegsjahren zuvor, nur jetzt auf deutschem Boden und unter den Augen der deutschen Bevölkerung. Obwohl der Kanonendonner der anrückenden Roten Armee bereits zu hören war und das Ende des „Dritten Reiches“ unmittelbar bevorstand, steigerte sich der Vernichtungswille der Nationalsozialisten immer mehr. Nein, nicht obwohl, sondern gerade deshalb. Denn die Anhänger des NS-Regimes wollten nicht nur möglichst viele Menschen mit in ihren eigenen Untergang hineinreißen, nein, sie wollten noch mehr, nämlich der Welt beweisen, dass das „Dritte Reich“  die systematische Vernichtung von Millionen Menschenleben weniger als sekundäre Folge seines Eroberungskrieges, sondern primär aus ideologischen Motiven planvoll und absichtlich betrieb. Massenmord und Lebensvernichtung waren daher kein funktionaler Kollateralschaden des Krieges, sondern sie waren das eigentliche Programm und Ziel der Nationalsozialisten.

Als 1996 der damalige Bundespräsident Roman Herzog zusammen mit Ignatz Bubis, dem unvergessenen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, den 27. Januar, den Tag der Befreiung der von der SS zurückgelassenen Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz, als allgemeinen Gedenktag vorschlugen, war ihnen der Symbolcharakter durchaus bewusst.  Mit dem Namen des deutschen Konzentrationslagers verbindet sich nicht nur ein spezifischer  Ort, wo über eine Million vorwiegend jüdischer Menschen umgebracht worden waren, sondern  sein Name steht gerade auch für die Einzigartigkeit des Holocaust unter den zahlreichen Verbrechen des „Dritten Reiches“. Trotzdem widmeten beide Initiatoren den Gedenktag absichtlich und bewusst allen Opfern des Nationalsozialismus. Wenn heute gelegentlich der 27. Januar als „Holocaust-Tag“ bezeichnet wird, dann widerspricht dies zweifellos seiner ursprünglichen Intention. Denn für den Nationalsozialismus galt die Vernichtung millionenfachen menschlichen Lebens als ein allgemeines legitimes staatliches Instrument zur Herstellung einer von Deutschland und seinen Verbündeten beherrschten Welt. In ihr durfte es für alle Juden, für Sinti und Roma, für  viele Millionen sogenannter slawischer Untermenschen, für politische Gegner ebenso wie für psychisch Kranke, für männliche Homosexuelle und für sogenannte unnütze und asoziale Esser oder unheilbar durch ansteckende Krankheiten  geschwächte Menschen, für alle diese stigmatisierten Gruppen und Individuen durfte es keinen Platz mehr auf der Erde geben. Die Lebensvernichtungspolitik der Nationalsozialisten kannte prinzipiell keine Grenzen und wir wissen nicht, wen sie alles noch erfasst hätte, wäre Deutschland nicht besiegt worden. Denn der Völkermord an den Juden, der einzige Genozid, bei dem alle Angehörigen vom Baby bis zum Greis ermordet werden sollten, war wie ein schwarzes Loch im Universum des Nationalsozialismus, das prinzipiell alles und jeden potentiell in sich hinein ziehen konnte.

Es hat in Deutschland  viele Jahrzehnte zumeist heftiger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen  bedurft, unter denen vor allem die NS-Opfer und ihre Angehörigen noch lange nach der Befreiung vom Nationalsozialismus gelitten haben, bis dieser generelle Vernichtungswahn des Deutschen Reiches in seinen ganzen Dimensionenvon einem Großteil der Öffentlichkeit, der Politik und der Gesellschaft anerkannt wurde. Und daher sehe ich überhaupt keinen Grund für einen Aufarbeitungsstolz. Leugnung oder Verharmlosung der Verbrechen, Banalisierungen  und Relativierungen, mit denen versucht wird, das allmähliche Entstehen einer aufgeklärten Erinnerungskultur in Deutschland zu verhindern, begleiten diesen langsamen und häufig schmerzvollen Prozess der kritischen Selbstbefragung von Beginn an. 

Trotzdem haben viele Bürgerinnen und Bürger zunehmend den Eindruck und die Sorge, dass wir nur wenig mehr als zwanzig Jahre nach der Einführung des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus bereits vor der Gefahr eines Rückfalls in vergangenheitspolitische Vorstellungen und Mythen der fünfziger und sechziger Jahre stehen. Anzeichen dafür gibt es tatsächlich nicht wenige. Um es gleich vorweg zu nehmen: ich glaube nicht, dass es gelingen kann, angesichts der  von der Geschichtswissenschaft ebenso wie von zahlreichen über die ganze Bundesrepublik verteilten ehrenamtlichen Initiativen über viele Jahre aufgearbeitetenGeschichte des Nationalsozialismus, die weitgehend überwundene Mauer aus Verdrängung und Verschweigen wieder aufzurichten. Wer die außerordentlich große Breite und Tiefe unserer historischen Erkenntnisse aus dem über siebzigjährigen Prozess der Aufarbeitung schlicht leugnet und zu alten längst widerlegten apologetischen Rechtfertigungen zurückgreift, stellt sich ins gesellschaftliche Abseits, ja er macht sich lächerlich.  Trotzdem steht die Erinnerungskultur zweifellos vor neuen Herausforderungen.

Ich will versuchen, diese  im Folgenden in der gebotenen Kürze zu thematisieren:

Mit dem allmählichen Erlöschen der Erlebnisgeneration und dem absehbaren Ende der Zeitzeugenschaft wird aus Zeitgeschichte Geschichte. Der unaufhaltsame Prozess der Historisierung des  Nationalsozialismus verändert unsere Wahrnehmungen und Einstellungen. Die Zeitzeugen, vor allem aus dem Kreis der Opfer der NS-Verbrechen, waren in der Lage, durch Ihre Präsenz und ihre eindrucksvollen Berichte eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen; sie kann in dieser Weise nicht mehr aufrecht erhalten werden. Vor allem aber ließen sie uns an ihrem Schicksal auch emotional teilhaben, wodurch gerade bei Schülerinnen und Schülern eine nachhaltige Empathie mit den Leiden der Opfer geweckt werden konnte. Ich darf an dieser Stelle, um nur ein Beispiel zu nennen, an  Alex Deutsch erinnern. Der jüdische Überlebende des KZ Auschwitz hat viele Jahre lang seine Erinnerungen an saarländische Schülerinnen und Schüler weitergegeben.  Die von den  Überlebenden des NS-Terrors  vermittelte emotionale Kraft und Eindrücklichkeit in der Darstellung ihrer subjektiv erlebten Geschichte ist unersetzbar. Allenfalls können ihre Angehörigen noch in ähnlicher Weise die zumeist schmerzhaften Erfahrungen, die mit nachwirkenden Traumatisierungen sowie wiederholten Demütigungen und langwierigen Auseinandersetzungen verbundenen waren, schildern und auch dadurch dem unangebrachten Aufarbeitungsstolz in Deutschland begegnen.

Mit dem Ende der Zeitzeugenschaft auch auf der Seite der Täter und der sogenannten bystander – ein englisches Fachwort, das mit dem deutschen Begriff der „Zuschauer“ nur unvollständig übersetzt wird – , ändern sich auch die Motive und Formen persönlicher Beschäftigung mit der NS-Diktatur. Der von „rechten“ Gegnern der Aufarbeitung immer wieder erhobene Vorwurf einer sogenannten Volkspädagogik der Schuld trifft schon seit vielen Jahren weder auf die Didaktik noch auf das Selbstverständnis deutscher Erinnerungspolitik zu und ist eine zu demagogischen Zwecken instrumentalisierte Schimäre. Aber für die Töchter und Söhne,  die wie ich mit der Erlebnisgeneration aufgewachsen sind,war die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit nicht selten Teil eines emotional ausgetragenen Generationenkonflikts. Das trifft auf Enkel und Urenkel der Zeitgenossen nicht mehr in gleichem Maße zu. In der Folge haben sich auch solche pädagogischen Ansätze historischer Bildungsarbeit weitgehend überlebt, die versuchen, quasi im Nachvollzug und analog zu den Erfahrungen der in den fünfziger und sechziger Jahren aufgewachsenen Generationen eine individuelle, wörtlich zu verstehende „Betroffenheit“ zu erzeugen.

Neuere Untersuchungen lassen eher vermuten, dass mit dem zeitlichen Abstand die teilweise unkritische Übernahme von Rechtfertigungsnarrativen der Großeltern- und Urgroßelterngenerationen, die anscheinend in vielen Familien unwidersprochen tradiert werden, immer noch wirksam sind. Immer schon klafften Familiengedächtnis und erlernte Geschichte auseinander und diese Kluft ist nicht kleiner geworden, sondern teilweise aufgrund der ungleichzeitigen Entwicklung beider Erinnerungsformen, der privaten und persönlichen einerseits sowie der öffentlichen, größtenteils wissenschaftlich fundierten andererseits,eher sogar gewachsen. Dabei gehört die Anerkennung und Verurteilung der zahlreichen nationalsozialistischen Verbrechen zum allgemein akzeptierten Geschichtsverständnis, während gleichzeitig die Zustimmung oder sogar Beteiligung eigener Familienmitglieder abgestritten oder zumindest tabuisiert wird. Den seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an vielen Orten entstandenen, vorwiegend ehrenamtlich arbeitenden dezentralen Bürgerinitiativen, Geschichtswerkstätten oder „Grabe-wo-Du-Stehst“-Bewegungen ist es in der Hauptsache zu verdanken, dass in der Bundesrepublik Deutschland eine Erinnerungskultur entstanden ist, die nicht quasi von oben verordnet wurde, wie etwa in der DDR, sondern von unten gegen teilweise heftige Widerstände erkämpft werden konnte.

Gestatten Sie mir, meine sehr geehrte Damen und Herren, dass ich in diesem Zusammenhang ein Beispiel aus meinem saarländischen Heimatort anführe. Es ist hauptsächlich dem unbequemen und hartnäckigen Einsatz einer solchen Bürgerinitiative zu verdanken, dass der saarländische Sozialdemokrat  Alois Kunz als mutiger Widerstandskämpfer geehrte wurde.  Erst sechzig Jahre nach der Saarabstimmung, in der er gegen die Angliederung an Nazi-Deutschland gekämpft hatte, und 56 Jahre nach seiner Verhaftung und Verschleppung in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Auschwitz, wo er schließlich 1942 verstarb,  erfuhr er in seinem Heimatdorf eine erste Ehrung. Leider wird sie nach wie vor nicht von allen Gemeindemitgliedern anerkannt, was ein Indiz dafür ist, über welch lange Fristen sich familiär tradierte Erzählungen verfestigen und wie tief sich Erinnerungslücken und Vorurteile in das private Gedächtnis eingraben.

Insoweit als die zivilgesellschaftlich organisierte, breite Bewegung der Aufarbeitung  an Generationskonflikte gebunden ist, wird sie sich zwangsläufig verändern. Doch das muss nicht notwendigerweise auch ein Ende der zurecht  vielfach gelobten dezentralen Erinnerungskultur in Deutschland  zur Folge haben. Die vor allem auch von Jugendlichen getragenen Initiativen zur Verlegung und Pflege von sogenannten Stolpersteinen machen Mut und sind eines von mehreren Beispielen dafür, dass zivilgesellschaftliche fundierte Erinnerungskultur in anderen Formen lebendig bleiben kann. Auch die vielfältige Arbeit an den Gedenkstätten und anderen Bildungseinrichtungen vermag solche nachhaltigen Ansätze zu unterstützen. In den Jahren nach der deutschen Einheit haben sich Selbstverständnis und Arbeit der Gedenkstätten an den historischen Orten stark gewandelt. Sie verstehen sich inzwischen als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben. Die pädagogische Arbeit an und mit den authentischen Relikten, seien es Baudenkmale, archäologische Spuren, Artefakte, bildliche Darstellungen oder Dokumente, kann sinnliches, emotionales und kognitives Lernen miteinander verbinden. Darin vor allem liegen die Chancen einer historischen Bildung am historischen Ort, das auch die Brücke schlägt zu den heutigen Lebenswelten und Fragen der Jugendlichen.

Aus eher liberalem und intellektuellem Milieu ist dagegen eine andere Form der Kritik zu vernehmen; dort spricht man  von einem „neuen Unbehagen an der Erinnerungskultur“. Dabei wird vor allem eine angebliche Ritualisierung und Verstaatlichung der Erinnerung kritisiert und gefragt: „Wie kann man das kritische Potential in der Erinnerungskultur retten und verhindern, dass Erinnerung pietätvoll und rituell, aber kostenlos und folgenlos praktiziert wird.“ (Aleida Assmann) Tatsächlich ist in den Jahren nach der deutschen Einheit das Gedenken an die Opfer der NS-Verbrechen vom Rand in das Zentrum der Gesellschaft gerückt. Fast siebzig Prozent aller in einer repräsentativen Untersuchung befragten Deutschen betrachten inzwischen die Erinnerung an den NS-Terror als Teil ihrer Identität. Bei jungen Menschen liegt dieser Anteil noch darüber. Darüber dürfen wir uns sehr freuen. Die Sorge vor dem Verlust an Widerständigkeit und kritischem Potenzial der Erinnerung, die durch Ritualisierung und staatliche Anerkennung verloren gehen könnten, ist m. E. übertrieben. Da die Nationalsozialisten ihre Verbrechen vorwiegend an Minderheiten verübten, kommt jedes Gedenken, ob staatlich oder bürgerschaftlich organisiert, nicht umhin, sich mit den erschreckenden Kontinuitäten der Diskriminierung in der Gegenwart, seien es Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, Homophobie oder politische Verfolgung, auseinanderzusetzen und sie zu thematisieren. Das Gedenken behält dadurch seinen Stachel. Solange gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auch in den modernen demokratischen Gesellschaften fort existiert, mindestens so lange bleibt auch die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen wach.

Viel problematischer ist es dagegen, wenn Staat und Politik der Versuchung erliegen, die Geschichte zu politischen Zwecken zu missbrauchen und zu instrumentalisieren. Es kommt leider immer wieder vor, dass hohe Repräsentanten unserer Staates angebliche Lehren aus der Geschichte heranziehen, um tagespolitische Entscheidungen zu begründen oder zu beeinflussen. So vermag z. B. weder der Zivilisationsbruch, der mit dem Namen Auschwitz verbunden ist, neue Kriege in Europa zu rechtfertigen, noch legitimiert ein Verweis auf den Hitler-Stalin-Pakt am 75. Jahrestag des Überfalls auf Polen Forderungen nach einer härteren Sanktionspolitik gegenüber Russland. Um solcherart Manipulationen und Instrumentalisierungen vorzubeugen, brauchen Gedenken und Erinnerung heute umso mehr historisches Wissen. Ohne die Einbettung der Geschichte in historische Kontexte und Ursachen ist die Versuchung groß, bestimmte Ereignisse aus der Unheilsgeschichte des „Dritten Reiches aus ihren Zusammenhängen zu reißen und auf gegenwärtige Entwicklungen unkritisch zu übertragen. Geschichte ist kein moralisches Rezeptbuch, das uns den pluralistischen und kontroversen Diskurs erspart. Die Geschichte zeigt jedoch Perspektiven, Alternativen und Bedingungsnetze möglichen Handelns und als solche kann sie durchaus eine wertvolle Ressource für Gesellschaften sein, die aus ihr lernen wollen. Geschichte darf jedoch keinesfalls dazu benutzt werden, um sachliche Kontroversen durch emotionale Überwältigung zu behindern. Gerade der multiperspektivische Blick auf die Geschichte ist ein wirksamer Schutz gegen vermeintliche Sachzwänge, gegen Alternativlosigkeit und Schicksalshaftigkeit.

Ich bin sehr dankbar, dass heute fast alle politischen Parteien in Deutschland eine Verbesserung historisch-politischer Bildung anstreben; so steht es u. a. auch  im Koalitionsabkommen der jetzigen Bundesregierung. Dabei geraten in der Regel Jugendliche in den Blick, die offenbar als besonders bildungsbedürftig angesehen werden. Ohne diese lobenswerten politischen Initiativen relativieren zu wollen, fehlt mir dabei jedoch der Hinweis auf die m. E. kaum weniger wichtige, nicht selten defizitäre  historisch-politische Bildung vieler Erwachsener vor allem bestimmter Berufsgruppen. Die Weimarer Republik – und damit will ich mich auch auf das riskante Feld historischer Vergleiche wagen – ist nicht nur deshalb zusammengebrochen, weil immer mehr Wähler den demokratischen Parteien ihr Vertrauen entzogen. Viel wichtiger noch war, dass die verantwortlichen Eliten in Staat, Reichswehr und Wirtschaft autoritäre oder sogar diktatorische Regierungsformen der Demokratie vorzogen und daher  nur allzu bereit waren, die Machtergreifung der Nationalsozialisten und die Durchsetzung des „Führerstaates“ zu unterstützen. Das galt z. B.  in besonderem Maße für den Berufsstand, der den liberalen Rechtstaat an herausragenden und einflussreichen Stellen verteidigen und exekutieren muss: die Juristen. Umso wichtiger scheint es mir daher, dass möglichst alle Angestellten und Beamten des Staates, insbesondere solche, die in Bildungseinrichtungen, in Justiz, Polizei, Verwaltung und Bundeswehr tätig sind, regelmäßig in der Geschichte des Jahrhunderts der Extreme weitergebildet werden. Dafür halte ich auch eine Weiterbildungspflicht für angemessen.

Die Erinnerungskultur muss sich zunehmend auch, damit komme ich, meine sehr geehrten Damen und Herren, zum letzten Punkt meiner Ausführungen, aus ihrer einseitigen Fixierung auf die Nationalgeschichte lösen.   Das gebietet bereits der zunehmende Bevölkerungsanteil von Menschen mit migrantischem Hintergrund. Sie erreichen wir vor allem dann, wenn es gelingt, auch an ihre traditierten Erinnerungskulturen anzuknüpfen.  Auch für ein Europa und eine globalisierte Welt, in der die Menschen unterschiedlicher Herkunft und in unterschiedlichen Ländern immer stärker miteinander verbunden sind,sollte sich der Blick auf die Geschichte weiten und über nationale Erzählungen hinausgehen. Zurecht wird dabei immer wieder darauf hingewiesen, dass die Europäische Union das Ergebnis eines erfolgreichen Lernprozesses aus der Geschichte ist. Hatte der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill noch kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1946 einen, wie er sagte, „segensreichen Akt des Vergessens“ für notwendig erachtet, „um den Schrecken der Vergangenheit den Rücken zuzukehren und in die Zukunft zu schauen“, so erwies sich schon bald und immer stärker die Erinnerung an Krieg, Zerstörung und Menschheitsverbrechen als ein wichtiges Antriebsmoment europäischer Verständigung. Kein anderes Land in Europa hat davon mehr profitiert als Deutschland und wahrscheinlich kaum ein andere deutsches Bundesland mehr als das Saarland. Die vielen mit internationalen Preisen ausgezeichneten Romane, Essays und Erinnerungen des bekannten saarländischen Schriftstellers Ludwig Harig z. B. widerlegen Churchills Prognose und legen von der Bedeutung und Wirksamkeit der Erinnerung für die transnationale Verständigung eindrucksvolle Zeugnisse ab. Auch die deutsche Einheit wäre wohl von vielen Nachbarstaaten der Bundesrepublik  ohne den grundlegenden Wandel der Erinnerungskultur in Deutschland nicht unterstützt worden.

 Doch spätestens seit der Aufnahme ost- und mittelosteuropäischer Länder in die EU kurz nach der Jahrtausendwende scheint sich diese außerordentlich erfreuliche Entwicklung wieder umzukehren. Nationale Narrative und Mythen drängen wieder in den Vordergrund. Die Erinnerung legt das maligne Potential der Geschichte offen. Scheinbar aus dem Nichts tauchen alter Hass und Rachegefühle zum Teil aus längst vergangenen Zeiten wieder auf, wie uns z. B. der Jugoslawienkrieg gezeigt hat. Mit der Beschwörung verlorener Schlachten vor hunderten von Jahren können Nachbarn gegen Nachbarn aufgehetzt und können Kriege auch in Europa wieder angezettelt werden. Die Erinnerung ist also nicht risikolos, sie ist kein Allheilmittel. Der Umgang mit ihr muss verantwortungsvoll sein. Das Jahrhundert der Extreme, wie der britische Historiker Eric Hobsbawn die europäische Entwicklung zwischen Imperialismus, Erstem Weltkrieg, Faschismus, Stalinismus, Nationalsozialismus und wirtschaftsliberaler Demokratie bezeichnet hat, ist offenbar noch nicht zu Ende. Geschweige denn, dass wir an ein Ende der Geschichte gelangt sind, wo sich das westliche Modell der Demokratie global durchgesetzt hat. Auch das westeuropäische Modell der Erinnerung kann nicht einfach auf andere Länder übertragen werden. Wie ich als ehemaliger Direktor der größten Gedenkstättenstiftung Deutschlands, der mit polnischen Einrichtungen und

Personen engen Kontakte pflegte, aus eigener Erfahrung weiß, wird die Anpreisung  der deutsch-französischen Verständigung als ein Vorbild für die Versöhnung mit den Menschen Mittel- und Osteuropas vielfach als geschichtsvergessene Zumutung und wiederholte Demütigung empfunden. Dabei verweist man zurecht zum einen auf die völlig anderen Dimensionen der deutschen Besatzungspolitik und des nationalsozialistischen Terrors, die in den Staaten östlich der Grenzen des Deutschen Reiches Formen geplanter Vernichtung und Versklavung großer Bevölkerungsteile annahmen. Außerdem  muss Europa zum anderen auch die Erinnerung an das Unrecht und an die Verbrechen kommunistischer Diktaturen in sein Gedächtnis integrieren.

Doch die Versuche vornehmlich der letzten zehn bis zwanzig Jahre in Sorge um den Fortbestand der EU  die Sicht auf die europäische Geschichte zu vereinheitlichen, sie per Dekretdes Europaparlaments, der EU-Kommission oder einzelner Staatenunter die Vorherrschaft einer europaweiten einheitlichen historischen Meistererzählung zu stellen, sind nicht nur, wie ich meine, gescheitert, sondern haben die Gräben eher vertieft. Der Schaffung einer transnationalen Erinnerungskultur sind im wörtlichen und übertragen Sinne Grenzen gesetzt. Umso wichtiger ist es aber, die Verständigung in Europa über die notwendigerweise unterschiedlichen Sichten auf die Geschichte und die Erinnerungsweisen daran zu fördern. Es ist mehr gewonnen, wenn wir verstehen, warum z. B. in Spanien  das Gedenken an die Opfer des Bürgerkrieges der dreißiger Jahre  so schwer fällt, warum es in Frankreich  nicht einfach ist, die Erinnerung an Kollaboration und Résistance zusammenzubringen, wieso für die Polen der Name von Katyn, Symbol des  von Stalin befohlenen Massenmordes an polnischen Offizieren, kaum weniger wichtig ist als die Namen der deutschen Vernichtungslager  Belcez, Kulmhof, Sobibor und Treblinka und warum man in Griechenland die europäische Währungs- und Austeritätspolitik der letzten Jahre in erster Linie Deutschland übel genommen hat.

Auch der 27. Januar, der Tag der Befreiung der von der SS zurückgelassenen  Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz, wird in den europäischen Staaten unterschiedlich begangen: in Deutschland als Tag aller Opfer des Nationalsozialismus, vornehmlich in westeuropäischen Staaten als Gedenktag für die Opfer des Holocaust an den Juden. In mittel- und osteuropäischen Staaten wird dagegen der 23. August, der Tag, an dem der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet wurde, als Gedenktag für “alle Opfer aller autoritärer und totalitärer Staaten“ stärker beachtet. Daneben gibt es noch in allen Ländern spezifische nationale Gedenktage, so auch in Deutschland der Volkstrauertag, an dem in der Tradition des „Volksbundes deutsche Kriegsgräberfürsorge“ unterschiedslos an alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erinnert werden soll.

Es ist unsere vornehmste Aufgabe, zu verstehen, warum die Erinnerungen so unterschiedlich sind. Im gegenseitigen Verstehen der Geschichte und in der Akzeptanz unterschiedlicher Erinnerungen liegen auch zukünftig die Chancen der Verständigung im Gedenken über nationale Grenzen hinweg. Und dieses gegenseitige Verständnis der unterschiedlichen Sichtweisen auf die Geschichte zu fördern und sie nicht durch Vereinheitlichungsversuche zu erschweren, ist nötiger denn jeh, wollen wir das Projekt Europa nicht aufgeben, sondern festigen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Sitzung der SPD-Landtagsfraktion am 22. Mai 2018: Thesen zur Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur nach der deutschen Einheit

Landtag Brandenburg

SPD-Fraktion

  1. Mai 2018

 

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Gutheil,

sehr geehrter Herr Bischof,

lieber Herr Lüttmann,

sehr geehrte Landtagsabgeordnete,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

ganz herzlich möchte ich mich zunächst für Ihre Einladung bedanken, der ich natürlich sehr gerne gefolgt bin. […] Ich konnte mich auch auf manch gute bis freundschaftliche Verbindungen zu Sozialdemokraten in Brandenburg stützen. Namentlich will ich heute nur Ihren leider viel zu früh verstorbenen Fraktionsvorsitzenden und langjährigen Generalsekretär Klaus Ness nennen. Nicht nur Ness, sondern auch viele andere Sozialdemokraten bis hin zu den Ministerpräsidenten Stolpe, Platzeck und natürlich auch Woidke waren für mich stets ansprechbar und hatten ein offenes Ohr für die Belange der Gedenkstättenstiftung.  Das war und ist nicht selbstverständlich und wurde daher von mir immer dankbar als ein Zeichen besonderer Verbundenheit der Sozialdemokratie mit den authentischen Orten des NS-Terrors sowie des SED-Unrechts angesehen.  Insoweit freue ich mich darüber, Ihnen meinen großen Dank für diese langjährige Unterstützung auch persönlich aussprechen zu können.

Ich bin von Ihrem Referenten Dr. Bengtson-Krallert darum gebeten worden, Ihnen eine Bilanz und ein Resumée der 25 Jahre meiner Tätigkeit als Gedenkstättenleiter und Stiftungsdirektor vorzutragen. Auch wenn Ihr Referent zur nachhaltigen Unterstützung seiner Bitte geschickt darauf hinweist, dass er u. a. bei mir an der Freien Universität Berlin vor nicht allzu langer Zeit, also vor etwa zehn Jahren, studiert hat, so will ich mich jedoch ein Stück weit seinem Wunsch verweigern.  Die Gründe für diese kleine Widerspenstigkeit, für die ich mich bei Ihnen und bei ihm entschuldigen will, liegen weniger darin, dass ich eine solche Gesamtschau in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht leisten kann. Vielmehr will ich als Historiker, der sich der Relativität von Urteilen auf dem Hintergrund der unterschiedlichen Zeitläufe sehr bewusst ist, die Bewertung solcher Bilanzen gerne anderen Experten überlassen. Anstatt dessen möchte ich Ihnen lieber einige Thesen dazu vortragen, wie es zu dem zweifellos gravierenden Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur Deutschlands nach der deutschen Einheit gekommen ist und was die wichtigsten Elemente dieses, wie ich meine überaus erfolgreichen Wandels gewesen sind. Auf dem Hintergrund eines Rückblicks auf die vergangenen 25 Jahre der Entwicklung lassen sich dann vielleicht auch einige Hinweise für künftige Herausforderungen gewinnen, entsprechend der von mir persönlich geschätzten Devise „Die Historiker sind unter den Akademikern die Krebse, sie schreiten rückwärts vorwärts.“

Dazu möchte ich Sie zunächst mit dem Hinweis auf wenige Skandale und Vorkommnisse zurückversetzen in die zugleich hoffnungsvolle wie stürmische Zeit des Aufbruchs und des Neubeginns, die wir, die wir inzwischen selbst Zeitzeugen dieser  unzweifelhaft historischen Phase des Zusammenbruchs sowie des Zusammenwachsens gleichermaßen waren, möglicherweise teilweise bereits vergessen haben. Aus der Fülle der international Aufsehen erregenden Ereignisse, die in den frühen neunziger Jahren, in der Zeit der Neugründung der Bundesrepublik und Europas auch auf die Brandenburger Gedenkstätten einstürzten, will ich nur drei nennen.  Sie werfen gleichwohl scharfe Schlaglichter auf die große politische Brisanz der damaligen Herausforderungen: Der sogenannte Supermarktskandal in Fürstenberg, als die Häftlingsverbände gegen eine vermeintliche kommerzielle Überformung des Gedenkenstättengeländes protestierten, erschien vielen als Menetekel eines vereinten Deutschlands, das die Last der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen endgültig abwirft und hinter sich lässt. Etwa zur gleichen Zeit deckten Einheiten der Bundeswehr in der unmittelbaren Umgebung der Gedenkstätten Sachsenhausen die Massengräber der Opfer der in der DDR tabuisierten sowjetischen Speziallager auf. In der daraufhin heftig entbrannten Debatte über die historische Bewertung und Einordnung der Speziallager öffneten sich die schroffen Fronten und tiefen Gräben  des Kalten Krieges wieder, was vereinzelt in den Gedenkstätten Sachsenhausen und später in der Potsdamer Leistikowstraße sogar zu tätlichen Angriffen führte. Schließlich zündeten Rechtsextremisten im Herbst 1992 die sogenannten jüdischen Baracken in Sachsenhausen an. Der Brand, der nur Teil einer davor und danach sich unheilvoll und schnell ausbreitenden antisemitischen und rassistischen Anschlagswelle mit zahlreichen Opfern vor allem unter Minderheiten sowie Ausländern war, wurde allgemein als ein Fanal empfunden. Quo vadis vereintes Deutschland? – diese Frage stellten sich damals mit Sorge oder sogar Angst viele Menschen nicht nur in der Bundesrepublik, sondern wohl auch in einem großen Teil Europas und der Welt.

Die Gedenkstätten waren kein unwichtiger Teil dieses innen- und außenpolitischen, teilweise krisenhaft verlaufenden Umorientierungs- und Neuordnungsprozesses. Aus den marginalisierten Nischen alternativer und regional beschränkter Gedenkkultur in der Bundesrepublik einerseits und den monumentalisierten Tempeln des Antifaschismus in der DDR andererseits wurden sie in die Arenen geschichtspolitischer Deutungskämpfe der sogenannten Berliner Republik hineingeworfen. Die Politik mit der Geschichte erlebte in dieser Zeit der Neuorientierung einen gewaltigen Aufschwung, wie in einer historischen Phase, in der sich Staaten und Nationen umstrukturierten oder sogar neu bildeten, kaum anders zu erwarten war. Dieser Prozess hat Höhen und Tiefen erlebt. Gerade im Moment erleben wir, wie an vermeintlich sicheren historischen Fundamenten des Selbstverständnisses der Bundesrepublik ebenso wie Europas wieder kräftig gerüttelt wird.

Nichts weniger als ein Paradigmenwechsel in der deutschen Erinnerungskultur war erforderlich, wenn sich die Gedenkstätten in diesem außerordentlich emotionalisierten und geschichtspolitisch aufgeladenen Prozess der  Neugründung der Bundesrepublik behaupten wollten. Dabei standen die Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen vor allem aufgrund ihrer dreifachen Vergangenheit, als nationalsozialistische Konzentrationslager, als sowjetische Speziallager und als große Nationale Mahn- und Gedenkstätten der DDR, im Brennpunkt der erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen, die nicht nur in den Medien und zwischen den Opferverbänden, sondern auch im Deutschen Bundestag sowie in den Länderparlamenten  mehrfach, ausführlich und nicht selten polemisch geführt wurden. Dem Land Brandenburg kommt der Verdienst zu, schon sehr bald nach der deutschen Einheit erkannt zu haben, dass ein solcher Paradigmenwechsel eines offenen Diskurses zwischen Politik und Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Gedenkstättenexperten sowie Medien und Opfer- bzw. Interessenverbänden bedarf. Mit der Einsetzung einer Expertenkommission, die auf dem Hintergrund einer sorgfältigen Betrachtung und Analyse des status quo nicht nur Empfehlungen zur Neukonzeption und Neugestaltung der großen Gedenkstätten erarbeitete und zur Diskussion stellte, sondern auch entscheidende Organisationsprinzipien einer zu errichtenden selbständigen, öffentlich rechtlichen Gedenkstättenstiftung entwickelte,  übernahm Brandenburg eine Pionierrolle. Diesem Vorbild folgten bald schon andere Bundesländer – sogar der Freistaat Bayern –  und auch die Empfehlungen einer Bundestagsenquetekommission sowie die 2009 erarbeitete und seitdem immer wieder bestätigte Gedenkstättenkonzeption des Bundes wurden von den in Brandenburg entwickelten und vorgelegten Empfehlungen stark beeinflusst.

Nach Jahren teilweise heftiger Auseinandersetzungen um die Inhalte des Gedenkens, nach Jahren immer wieder mit mehr oder weniger Nachdruck  erhobener Forderungen und Bitten um eine dringend erforderliche bessere Finanzausstattung der Stiftung, nach  Jahren der Neukonzeption, Neugestaltung, Sanierung und Sicherung der Gedenkstätten, nach Jahren des Forschens, des Sammelns, des Publizierens und des Ausstellens, nach Jahren stark wachsender Besucherzahlen und Betreuungsanfragen sowie nach Jahren gemeinsamen Gedenkens mit den überlebenden Opfern und deren Angehörigen dürfen wir, rückblickend betrachtet, es m. E. wagen zu formulieren: Was Willy Brandt als einen Prozess des „Zusammenwachsens was zusammengehört“ proklamierte, das scheint mir in den Gedenkstätten allen vergangenen und gegenwärtigen Konflikten und Problemlagen zum Trotz, beispielhaft gelungen zu sein. Was waren die wichtigsten Gründe für diesen am Beginn der deutschen Einheit nicht zu erwartenden Erfolg?

  1. Der in der bundesdeutschen Politik nach 1990 vollzogene erinnerungspolitische Paradigmenwechsel war neben dem Kampf der breiten zivilgesellschaftlichen, die Gedenkstätten in der alten Bundesrepublik tragenden Bewegungen und Initiativen vor allem außenpolitischen Erwägungen geschuldet.

Die erwünschte Rückkehr Deutschlands als gleichberechtigter Staat in den Kreis der Nationen schien ohne die Etablierung einer starken und dauerhaften Erinnerungskultur an die NS-Verbrechen nicht möglich. Allerdings dauerte dieser immer wieder intensiv und öffentlich diskutierte Umdenkungsprozess mindestens ca. zehn Jahre. Insoweit muss man sich bewusst machen, dass diejenigen, die in Deutschland ganz wesentliche Grundsätze der Erinnerungskultur in Frage stellen, auch unser Verhältnis zu den europäischen Nachbarstaaten wieder in Unsicherheiten stürzen. Dies mag sogar von manchen intendiert sein. Umgekehrt allerdings muss die Erinnerungskultur in Deutschland eine selbstkritische bleiben, gerade auch im Hinblick auf ihren schwierigen Entstehungsprozess. Denn während in der alten Bundesrepublik Gedenkstätten bis zur deutschen Einheit marginalisiert waren, ist die Erinnerung an die NS-Verbrechen von der DDR zur Legitimierung ihres eigenen staatlichen Unrechtsystems instrumentalisiert worden. Jeder Form von neuem Erinnerungsstolz muss daher mit Verweis auf diesen schwierigen Entstehungsprozess entgegen getreten werden. Eine außenpolitische Instrumentalisierung der Erinnerungskultur zur Legitimation einer neuen Funktion der Bundesrepublik als Hegomon in Europa gar, wie sie z. B. der Berliner Politikwissenschaftler und Berater der Bundeskanzlerin Herbert Münkler betreibt, widerspricht ganz und gar dem Auftrag der Gedenkstätten und dem Geist der Erinnerung an den NS-Terror. Gedenkstätten sind daher aufgerufen, ihren eigenen Entstehungsprozess immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen. Sachsenhausen hat als erste große KZ-Gedenkstätte schon 1996 im Rahmen einer Publikation sowie einer großen permanenten Ausstellung, ihre Geschichte als Mahn- und Gedenkstätte der DDR kritisch hinterfragt und dargestellt. Es ist jetzt an der Zeit, auch den 25-jährigen Prozess der Neukonzeption. Neugestaltung und Sanierung der Gedenkstätten seit der deutschen Einheit zum Gegenstand von verschiedenen Darstellungen zu machen. Ich werde demnächst eine umfangreiche Publikation der Stiftung herausgeben, in der es hauptsächlich um das Baugeschehen dieser 25 Jahre geht. Darin werden Konzepte, architektonische Lösungen und finanzielle Bilanzen der baulichen Investitionen präsentiert. Das spiegelt aber nur einen, wenn auch sehr wichtigen Teil unserer Tätigkeit in den Einrichtungen der Stiftung. Mindestens genauso wichtig scheint es mir zu sein, über die bisherigen Formen des Gedenkens, der Darstellungen in Ausstellungen und Museen sowie der pädagogischen Vermittlung auf dem Hintergrund von rückblickenden Betrachtungen nachzudenken, damit die Gedenkstätten sich stets der Historizität ihrer Einrichtungen und Aufgaben bewusst und so neuen Entwicklungen gegenüber offen bleiben.

 

  1. Der Prozess der Neukonstituierung einer Erinnerungskultur, die breite Bevölkerungskreise diskursiv mit einbezieht, ohne ihre Inhalte so wie in der DDR von oben herab zu dekretieren, brauchte eine neue Form, in der öffentlich-rechtliche Finanzierung einerseits und inhaltliche Autonomie andererseits juristisch möglichst weitgehend gesichert werden können. Der Vorschlag der von der Landesregierung Brandenburg 1991 eingesetzten Expertenkommission zur Bildung einer von ministeriellen Anweisungen unabhängigen, selbständigen, öffentlich-rechtlichen Stiftung setzte auch in dieser Hinsicht Maßstäbe. Im Rückblick zeigt sich allerdings, dass dieses Verhältnis von inhaltlicher Autonomie einerseits und finanzieller sowie administrativer Abhängigkeit andererseits sehr sensibel ist und von den verschiedenen Akteuren unterschiedlich interpretiert wird. Mehrfach hat es in den ergangenen 25 Jahren  teils misslungene, teils gelungene Versuche gegeben – und es gibt sie natürlich noch – geschichtspolitische, gar tagespolitische Prinzipien den Gedenkstätten mit unterschiedlichen Mitteln und in unterschiedlichen Formen aufzudrängen. Als ein Beispiel will ich die schwierige Diskussion in Brandenburg um die Gesetzesvorlager zur Einsetzung einer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur nennen. In den damaligen Diskussionen und Anhörungen, die in einem engen Zusammenhang mit den vehementen Protesten im Umfeld der Konstituierung der ersten rot-roten Koalition 2009 standen, wurden die Gedenkstätten der Stiftung öffentlich mit nachweisbar falschen und polemischen Beschuldigungen überzogen, ohne dass wir uns hinreichend dagegen zur Wehr setzen konnten. Ein nicht kleiner Teil der Politik, auch in der Sozialdemokratie, war geneigt, diesen teilweise unsinnigen Vorwürfen zu folgen, da sie von Opferverbänden bzw. Zeitzeugen erhoben wurden, deren scheinbare Autorität in historischen Fragen nicht hinterfragt werden durfte.  Sogar der seit den siebziger Jahren als Grundlage einer pluralistischen historischen Bildung allgemein und gesamtgesellschaftlich anerkannte „Beutelsbacher Konsens“  wurde von einer Mehrheit der zum Teil prominenten Mitglieder der damals eingesetzten Enquete-Kommission als Werterelativismus kritisiert und verworfen. Insbesondere die Leitungen der Gedenkstätten Potsdam-Leistikowstraße sowie Sachsenhausen wurden heftig bedrängt, ihre wissenschaftlich ausgewiesenen historischen Darstellungen im Dienste einer Parteinahme für die Verbände von Opfern kommunistischer Gewaltherrschaft  zu korrigieren und an deren Interpretation der Geschichte anzupassen.

 

Es ist wohl zum Teil unserem heftigen Widerstand gegen solche von Politik und Verwaltung immer wieder versuchten inhaltlichen Einflussnahmen auf die Arbeit der Gedenkstätten zu verdanken, dass ich in vielen rückblickenden Würdigungen meiner Tätigkeit, für die ich dankbar bin, häufig den Begriff des „streitbaren Historikers“ finde. Erst kürzlich hat der Vertreter des Kulturministeriums im Rahmen meiner persönlich organisierten Abschiedsfeier gemeint, er müsse in seiner Rede besonders hervorheben, dass der Umgang mit mir nicht immer einfach gewesen sei. Das kann und will ich nicht abstreiten, gilt aber vice versa mindestens in gleichem Maße.  Aber wenn  aus dieser Kritik der Wunsch von Politik und Verwaltung abgeleitet wird, dass der künftige Direktor leichter lenkbar sein sollte, dann kann ich nur davor warnen. Geschichtspolitische Lenkbarkeit ist der beste Weg in die staatliche Ritualisierung der Gedenkstätten und damit in ihre   Monumentalisierung und Wirkungslosigkeit als Einrichtungen einer kritischen historisch-politischen Bildung. Diese aber wird im Sinne einer lebendigen Demokratie gerade heute unbedingt gebraucht. Schließlich begeben sich Politik und Verwaltung, wenn sie sich zur Parteinahme für die eine oder andere Position hinreißen lassen und versuchen, diese durchzusetzen, auch in den nicht seltenen Konflikt zwischen die unterschiedliche Konzepte und Interessen vertretenden Gruppen. Durch den Respekt vor der inhaltlichen Autonomie der Stiftung und das Vertrauen in den pluralen Diskurs zwischen den Beratungsgremien, internationaler Beirat und Fachkommission, einerseits und den wissenschaftlichen Leitungen der Gedenkstättenstiftung andererseits schützen sich Politik und Verwaltung davor, in geschichtspolitische Kontroversen, die ein erhebliches malignes Potential beinhalten, einbezogen zu werden. In unserer Mediengesellschaft kann dies nicht bedeutungslos sein. Wir erleben gerade in den Einrichtungen der Stiftung, wie die gegenwärtige konservative polnische Regierung das von ihr präferierte nationalgeschichtliche Narrativ der Deutung des historischen Geschehens an den historischen Orten uns überzustülpen versucht.  Die politische Verteidigung der inhaltlichen Autonomie der Stiftung und der Freiheit ihres wissenschaftlich fundierten und pluralen Diskurses zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Betroffenen und Wissenschaftsrichtungen  ist gerade in solchen Konflikten sinnvoller als eine von makropolitischen und außenpolitischen Erwägungen bestimmte direkte Einflussnahme , gleichgültig in welche Richtung sie sich bewegt.

 

  1. Die Gedenkstätten mussten sich nach der deutschen Einheit als Einrichtungen neu aufstellen,  nicht mehr nur als Orte des Trauerns, des staatlich-ritualisierten Gedenkens oder ausschließlich als Orte historisch-politischer Bildung für gesellschaftliche Minderheiten. Sie waren dem grundsätzlichen Wandel, der nicht zuletzt durch das absehbare Ende der Zeitzeugenschaft  forciert wurde, nur gewachsen, wenn sie sich zu modernen zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben emanzipierten. Sachsenhausen war wohl die erste große KZ-Gedenkstätte, die sich bereits am 2. Januar 1993 durch ihre Umbenennung in Gedenkstätte und Museum auf dieses Modell festlegte. „Überhaupt glaube ich“, so heißt es in meiner damaligen Antrittsrede noch vor der der Gründung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, „dass sich die Aufgabenstellung der Gedenkstätten bei allen auch weiterhin geltenden Unterschieden immer stärker denen der historischen Museen, speziell zeitgeschichtlicher Museen, wie etwa das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, annähern wird. Von diesen können die Gedenkstätten viel gerade im Hinblick auf Professionalisierung und Organisation lernen.“

 

Dieser Emanzipationsprozess der Gedenkstätten vollzog sich vor allem in den neunziger Jahren. Etwa seit der Jahrtausendwende erlahmt er zusehends. Von einem Aufholungs- und Gleichstellungsprozess kann nicht mehr die Rede sein, wenn bei einer Steigerung der Besucherzahlen in Sachsenhausen von 1992 bis heute um ca. 400 Prozent eine einzige zusätzliche Pädagogenstelle eingerichtet werden konnte. Nach wie vor scheint die historisch-politische Bildung in den Gedenkstätten nicht die gleiche Wertschätzung zu erfahren wie an anderen vergleichbaren großen Einrichtungen. In dieser Situation, in der wir nicht einmal die Hälfte aller Nachfragen von Besuchern erfüllen können, den verpflichtenden Besuch von Gedenkstätten anzuregen, ist praxisfern. Indem man dort, wo nachweisbar die Nachfrage nach historisch-politischer Bildung groß ist, an veralteten Stellenplänen festhält, vergibt man sich auch einer großen Chance, die gerade angesichts der Rechtsentwicklung in Deutschland und in Europa nicht verpasst werden sollte.

 

  1. Der Paradigmenwechsel, der nach der deutschen Einheit alle Aufgabenfelder und Bereiche der Gedenkstätten erfasste, sollte sich nicht allein als administrativer, sondern als gesamtgesellschaftlicher Prozess vollziehen. Die breite Verankerung der Gedenkstätten vor allem in den Verbänden der Opfer und ihrer Angehörigen, in der Wissenschaft ebenso wie in den Parlamenten, in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen, Interessenverbänden und in staatlichen Institutionen – nur dadurch war eine große Teile der Gesellschaft umfassende Akzeptanz für die als notwendig erachteten und auch in der Zukunft nicht geringen dauerhaften finanziellen Aufwendungen zu erreichen. Doch die zivilgesellschaftliche Unterstützung der Gedenkstätten ist nach dem Ende der Zeitzeugenschaft nicht mehr einfach herzustellen. Insbesondere die Einbindung der historischen Orte in einen internationalen Diskurs wird immer schwieriger, zumal die persönlichen Kontakte zu den Nachfahren der Opfer in Ost- und Mittelosteuropa fast vollständig abgerissen sind. Dabei sind die Orte der NS-Verbrechen und des kommunistischen Unrechts in der europäischen Erinnerungskultur von großer nach wie vor aktueller Bedeutung. Denn nicht nur die Kriegs- sondern auch die Nachkriegsgeschichte verbindet sie mit diesen historischen Orten in der Entwicklung vieler Staaten. Die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen sowie die Gründung der Europäischen Union waren  bekanntlich unmittelbare Folgen der historischen Erfahrungen von Krieg und Völkermord, auch wenn das über dem Streit um Schweinepreise, wie der österreichische Schriftsteller Robert Menasse in seinem tollen Roman „Die Hauptstadt“   ausführlich schildert, offenbar vergessen zu sein scheint. An der Aufrechterhaltung der internationalen zivilgesellschaftlichen Vernetzung der Gedenkstätten müssen wir daher ein großes politisches Eigeninteresse haben, dem relativ kleine finanzielle Aufwendungen nicht entgegenstehen dürfen. Als ein Vorbild will ich die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem nennen. Sie unterstützt auch finanziell den Aufbau von Freundeskreisen in vielen Ländern der Welt und festigt so die internationalen Kontakte. Auch Sachsenhausen hat seit 1998 einen solchen internationalen Förderverein, dessen Wirkungskreis aber aufgrund einer ganz überwiegend ehrenamtlich geleisteten Arbeit zwar beeindruckend aber auch begrenzt ist.

 

Schluss

Wenn wir nun resümierend zurückschauen und uns noch einmal diesen umfassenden Prozess der Neukonzeption, Neugestaltung und Sanierung der Gedenkstätten in den vergangenen 25 Jahren  vor Augen führen und ihn zusammenfassend als insgesamt erfolgreich charakterisieren, so heißt das nicht, dass nun alle genannten Herausforderungen erfüllt und alle Aufgaben erledigt sind. Das wäre mehr als naiv: Denn die Beibehaltung einer lebendigen Erinnerungskultur, die nicht in Ritualisierung erstarrt, die sich in aktuelle gesellschaftliche Debatten einmischt, die ständig ihre Fragestellungen, ihre pädagogischen Konzepte und ihre Darstellungsformen den Zeitläufen anpasst, die den Versuchen der Instrumentalisierung von Teilen der Politik und des Staates ebenso Widerstand entgegensetzt wie der Indienstnahme durch Interessengruppen, die Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit durch eine intensive und kreative historisch politische Bildung die Grundlagen zu entziehen versucht und die das Andenken an die Opfer weiter pflegt sowie die Zeugnisse und Denkmale bewahrt – eine solche lebendige Erinnerungskultur braucht nicht nur das Engagement aus  der Zivilgesellschaft, sondern vor allem rechtlich selbständige Gedenkstätten, die als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben in Politik und Gesellschaft auf Dauer hineinwirken wollen und können.

 

Evaluation des Konzepts „‚Geschichte vor Ort. Erinnerungskultur im Land Brandenburg für die Zeit von 1933 bis 1990“, 36. Sitzung des Ausschusses für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landtages Brandenburg am 23. Mai 2018

  1. Sitzung des Ausschusses für Wissenschaft, Forschung und Kultur

Am 23. Mai 2018, 13 Uhr

Evaluation des Konzepts „Geschichte vor Ort. Erinnerungskultur im Land Brandenburg für die Zeit von 1933 bis 1990“

 

Prof. Dr. Günter Morsch

 

Sehr geehrte Frau Vorsitzende von Halem

sehr geehrte Frau Ministerin Dr. Münch,

sehr geehrte Landtagsabgeordnete,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

ganz herzlich möchte ich mich zunächst dafür bedanken, dass Sie der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten erneut die Möglichkeit geben, im Rahmen ihrer Ausschusssitzung zur Evaluation des Konzepts der Landesregierung „Geschichte vor Ort. Erinnerungskultur im Land Brandenburg für die Zeit von 1933 bis 1990“ Stellung nehmen zu dürfen.

Lassen Sie mich zunächst betonen, dass die Stiftung und ihre Einrichtungen in Brandenburg/Havel  mit den Gedenkstätten zur Geschichte der NS-Krankenmorde sowie zur Geschichte der Strafanstalt Brandenburg-Görden im Nationalsozialismus sowie in der DDR, mit der Gedenk- und Begegnungsstätte Potsdam-Leistikowstraße, der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück sowie der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen inklusive ihrer Außenstelle im Belower Wald stets in der Erarbeitung dieses Berichts einbezogen war. In einer ausführlichen  Stellungnahme haben wir uns bereits am 16. August vorigen Jahres mit der uns zugesandten Evaluation befasst. Zu einem überwiegenden Teil wurde unsere Stellungnahmen bei der Überarbeitung des Berichts berücksichtigt.

 

Insoweit wird es Sie nicht verwundern, dass ich im Rahmen dieser Anhörung nur vergleichsweise wenige Kommentare, Ergänzungen bzw. Anregungen geben kann.

  1. Grundsätzlich belegt die Evaluation die Sinnhaftigkeit eines solchen, sehr verdienstvollen Konzepts der Landesregierung. Soweit wir das beurteilen können, schließt sich die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten der Bewertung der Studie an, wie sie im ersten Absatz des Fazits zusammengefasst ist. Aus unserer grundsätzlich positiven Bewertung ergibt sich darüber hinaus der Wunsch, die Evaluation des Konzepts in regelmäßigen Abständen fortzuschreiben und im Rahmen von Stellungnahmen und Anhörungen einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Leider ist die dazu vom Kulturministerium organisierte Veranstaltung zur Vorstellung der Studie anscheinend auf relativ wenig Resonanz und Interesse gestoßen. Vielleicht ändert sich das, wenn Landesregierung, ZZF und die Gedenkstättenstiftung eine öffentliche Präsentation gemeinsam vorbereiten und veranstalten. Gegebenenfalls käme trotz der leider bisher geringen Resonanz auch eine erneute Präsentation in anderen Kontexten in Betracht. Das wäre unbedingt zu wünschen, denn die Inhalte haben es verdient.
  2. Ich rege an, dass in einem Folgebericht in einem einleitenden Teil grundsätzliche Fragen der Fortentwicklung der Erinnerungskultur diskutiert werden. Dann wäre es auch möglich aktuelle politische Entwicklungen, die sich auf die Erinnerungskultur direkt oder indirekt auswirken gerade im Hinblick auf eine Beratung der Landesregierung zu thematisieren. Dann könnten z. B. die vor allem im Süden Brandenburgs, etwa in Cottbus, aufgetretenen äußert beunruhigenden Entwicklungen dahingehend diskutiert werden, inwieweit Gedenkstätten und Museen aktiv durch ihre Bildungspolitik stärker als bisher zur Bekämpfung rechtsextremistischer, antisemitischer, rassistischer und fremden- sowie Demokratie-feindlicher Bewegungen beitragen können.
  3. Ein solch eher grundsätzlicher und theoretischer Einleitungsteil macht gerade auch im Hinblick auf die in der Studie zurecht geforderte Transparenz geschichtspolitischer Entscheidungen und Konzepte Sinn. Sie sind implizit ohnehin in die Darstellung eingegangen. Dann kann z. B. auch über die in Kapitel 2.2.3. zu den Orten mit mehrfacher Vergangenheit genannte sogenannte Faulenbach-Formel, wonach die eine Diktatur durch die andere weder relativiert noch bagatellisiert werden darf, auf dem Hintergrund der Fortentwicklungen nachgedacht werden. Diese „Formel“ war sicherlich in den vergangenen Jahren von großer grundsätzlicher Bedeutung. Es sollte angesichts aktueller Entwicklungen darüber diskutiert werden, wie sie fortgeschrieben werden kann. Das aus meiner Sicht weitgehende Versagen historisch-politischer Bildung in vergleichbaren sächsischen Einrichtungen, die ihre zumeist an einem sehr einfachen, geradezu platten Totalitarismusmodell orientierte Geschichtspolitik durch die Faulenbach-Formel einer kritischen Diskussion entzogen haben, macht Veränderungen dringend erforderlich. Die stärkere Herausstellung und Beachtung der großen und vielfältigen Unterschiede des NS-Terrors gegenüber dem DDR-Unrecht ist geeignet, platte Opferanalogien zu vermeiden und damit eine eher selbstkritische und kontextualisierende Aufarbeitung der Geschichte der beiden Diktaturen zu akzentuieren. Dazu zählt auch, dass endlich die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen zur Funktion und zur Rolle der sowjetischen Speziallager sowie der frühen Verfolgungsmaßnahmen in der SBZ in Politik und Öffentlichkeit wahrgenommen werden, um die häufig vorherrschenden vereinfachten Bilder sogenannten roten Terrors zu differenzieren.
  4. Nach wie vor halten wir die Einrichtung einer Stiftungsprofessur zur Diktaturaufbereitung bestenfalls für eine nachrangige Lösung. Dass sich die Landesregierung bei der Bundesregierung für ein spezifisches Forschungsprogramm zur NS-Geschichte einsetzen will, lesen wir gerne, aber wir wissen auch um die Erfolgsaussichten (Im Koalitionsabkommen steht nichts davon). Besser wäre es aus unserer Sicht – und ich spreche dabei für die allermeisten Gedenkstätten – das für die Professur erforderliche Geld in eine eigene brandenburgischen Forschungsförderung zu investieren. Dann könnte es vielleicht gelingen, dass die großen völlig unverständlichen und unzeitgemäßen Forschungslücken z. B. zur Geschichte der Machtergreifung und des frühen Terrors in den Städten und Dörfern Brandenburgs endlich geschlossen werden. Für die Aufarbeitung der Geschichte der SBZ/DDR dagegen gibt es dankenswerterweise die SED-Aufarbeitungsstiftung. Weshalb eine Stiftungsprofessur zur (übergreifenden) Diktaturaufarbeitung eingerichtet werden soll, erschließt sich uns daher auch nicht.
  5. Aus meiner Sicht gilt es die zwischen Brandenburg und Berlin länderübergreifenden Kooperationen viel stärker als bisher auszubauen. Der zurecht als große positive Ausnahme erwähnte Arbeitskreis der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten tritt zumeist ohne Beteiligung der zuständigen Brandenburger Verwaltungen zusammen. Die Parallbehörden zu den anwesenden Einrichtungen der Berliner Landeszentrale für politische Bildung, des Senators für Bildung sowie der Kultur sind trotz Einladungen zumeist nicht vertreten. Das ist sehr schade und wirkt zumal auf dem Hintergrund der Geschichte beider Länder völlig unverständlich. Bekanntlich gab es vor allem auch vor 1945 einen Provinziallandtag von Brandenburg, der in Berlin tagte, einen gemeinsamen Oberpräsidenten, einen gemeinsamen Polizeipräsidenten sowie einheitliche Berlin und Brandenburg umgreifende Organisationen der Parteien, der Gewerkschaften und der Verbände. Dieses anscheinend auch in der Kulturpolitik offenbar immer mehr um sich greifende gegenseitige Desinteresse verhindert die ansonsten immer wieder beschworenen positiven Auswirkungen von Synergien. So organisierte Berlin zum 80. Jahrestag der Machtergreifung in ganz Berlin eine großartige und vielfältige, tief in die Bevölkerung hinein reichende Kampagne unter dem Namen „ Zerstörte Vielfalt“. Brandenburg nahm das Kooperationsangebot nicht an. Eine der wenigen großen Aktionen zum Jahrestag der Machtergreifung war die Erarbeitung einer Wanderausstellung zum Thema „Frühe Konzentrationslager“ der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen. Seit 2013 wandert diese Ausstellung in zahlreiche Städte und Gemeinden in Brandenburg und belegt das große Interesse, das auch in unserem Bundesland an diesem teilweise vergessenen Thema des frühen NS-Terrors existiert. Es wäre zu wünschen, dass es 2019 aus Anlass des 80. Jahrestages des Kriegsbeginns zu einer solchen koordinierten Aktion käme, wie sie beispielhaft mit dem Programm „zerstörte Vielfalt“ in Berlin stattfand.
  6. Die Evaluation spricht sich auf S. 5 dafür aus, die Aufgaben und Strukturen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten neu zu überdenken. Dem wollen wir uns nicht verschließen. Leider jedoch fehlt in den entsprechen Passagen des Berichts der Teil unserer Stellungnahme, in der wir darauf hinweisen, dass dabei die inhaltliche Autonomie der Stiftung nicht nur bewahrt, sondern eher gestärkt werden muss. Vergangene aber auch gegenwärtige Versuche sowohl von Regierungen als auch von Interessengruppen der Gedenkstättenstiftung bestimmte historische Narrative aufzudrängen, können nur abgewehrt werden, indem man die inhaltliche Autonomie der Einrichtungen stärkt. Außerdem halten wir es für unbedingt erforderlich, dass der wichtigste Ort der Schoah in Brandenburg außerhalb der beiden Hauptlager, ich spreche von Lieberose, auf Dauer als Einrichtung von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten übernommen werden soll. Dies hat nach der Auswertung jahrelanger einschlägiger Erfahrungen der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland gefordert und der Stiftungsrat ist dankenswerterweise gegenwärtig geneigt, diesem Wunsch zu folgen. Die Überarbeitung der Einrichtungsverordnung der Stiftung sollte auch genutzt werden, um die Gedenk- und Begegnungsstätte Potsdam-Leistikowstraße ebenfalls als gleichberechtigte Einrichtung in die Gedenkstättenstiftung aufzunehmen. Der Evaluationsbericht würdigt zurecht den außerordentlich schwierigen, mit schlimmen, teilweise körperlichen aber vor allem auch polemischen Angriffen gegen die Mitarbeiter in Potsdam und den Stiftungsvorstand in Oranienburg einher gehenden Normalisierungs- und Erfolgsprozess. Daher sollte die Übergangsphase, in der die Gedenkstätte als unselbständige Stiftung von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten nur treuhänderisch verwaltet wird, beendet und die Gedenk- und Begegnungsstätte vollständig integriert werden. Das entspricht auch der Rolle und Bedeutung dieses historischen Ortes, der anders als etwa die Untersuchungshaftanstalt Lindenstraße als zentrale Haftanstalt des Antispionagedienstes Smersch der Roten Armee für den gesamten Bereich der SBZ/DDR zuständig war.
  7. Lassen Sie mich als letztes noch einige Probleme und neuere Entwicklungen in den verschiedenen Einrichtungen der Gedenkstättenstiftung stärker akzentuieren bzw. ergänzen, als diese im Evaluationsbericht vorkommen.
    • Am 29. April diesen Jahres konnte nach langem aber erfolgreichen Ringen endlich ein eigenes Museum im ehemaligen Direktorenhaus der Strafanstalt Brandenburg-Görden eröffnet werden. Es widmet sich, anders als dies in polemischer Absicht immer wieder behauptet wird, sowohl der Geschichte des Justizterrors in der NS-Zeit als auch der viel längeren Phase des Justizunrechts in der DDR. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei allen bedanken, die sich dafür in den vergangenen 25 Jahren eingesetzt haben. Ich darf allerdings auch nicht verschweigen, dass der Stellenplan der Stiftung nur eine Leitungsposition sowie zwei zusätzlich durch das Bildungsministerium finanzierte Gedenkstättenlehrer vorsieht. Das ist natürlich viel zu wenig, bedenkt man, dass in Brandenburg nun inklusive der NS-Krankenmorde drei historische Verfolgungskomplexe an zwei unterschiedlichen Orten behandelt werden müssen.
    • Der außerordentliche Erfolg der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen, die zwischen 1992 und heute eine Steigerung der Besucherzahlen um rund 400 Prozent erfuhr, führt nicht nur, wie im Bericht erwähnt, zu erheblichen räumlichen und logistischen Problemen. Vor allem das pädagogische Personal reicht bei weitem nicht aus, um die Nachfrage in der nach Auschwitz und Dachau inzwischen drittgrößten internationalen KZ-Gedenkstätte auch nur annähernd zu befriedigen. Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli hat die Einführung von Pflichtbesuchen an KZ-Gedenkstätten gefordert. Wir würden uns freuen, wenn wir zumindest diejenigen, die überwiegend freiwillig kommen, pädagogisch gut und angemessen betreuen könnten. Eine weitere erfreuliche Entwicklung, die im Bericht aus zeitlichen Gründen noch nicht aufgenommen werden konnte, will ich Ihnen nicht verschweigen: Nach vielen, vielen Jahren konnten wir im Februar diesen Jahres endlich ein allen konservatorischen Anforderungen entsprechendes Depot einweihen.

Ganz zum Schluss möchte ich mich noch einmal ganz herzlich bei denen bedanken, die sich der nicht unaufwendigen Kärrnerarbeit unterzogen haben, um diesen aus vielen Aspekten, Darstellungen und Bewertungen bestehenden, sinnvollen und ertragreichen Evaluationsbericht anzufertigen.

 

Eröffnung des neuen Museums der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten im ehemaligen Direktorenhaus der Jusizvollzugsanstaltung Brandenburg Görden, 29. April 2019

Eröffnung des neuen Museums der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten im ehemaligen Direktorenhaus der Justizvollzugsanstalt Brandenburg-Görden mit dem Titel:

„Auf dem Görden. Die Strafanstalt Brandenburg im Nationalsozialismus und in der DDR“

  1. April 2018

Begrüssung

Prof. Dr. Günter Morsch

 

Sehr geehrte Überlebende und Angehörige von Gefangenen der Strafanstalt Brandenburg,

Sehr geehrter Herr von Schlieben-Droschke,

sehr geehrter Herr Drenger,

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Gutheil,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Scheller,

sehr geehrte Frau Deres,

Lieber Herr Holzschuher (MdL)]

Sehr geehrte Vertreter ausländischer Staaten,

liebe  Frau Dr. de Pasquale

 

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten darf ich Sie zunächst alle ganz herzlich zur Eröffnung unseres neuen Museums im ehemaligen Direktorenhaus der Strafanstalt Brandenburg-Görden begrüßen.

„Seid wachsam und wehret den Anfängen!“ Mit dieser Mahnung schloss Walter Hammer 1955 die Einleitung zu seinem in hoher Auflage weit verbreiteten Buch „Hohes Haus in Henkers Hand“ ab. Der ehemalige Gefangene  des Zuchthauses Brandenburg Görden, der zuvor mehrere Konzentrationslager, darunter auch Sachsenhausen, durchlitten hatte, hatte noch während seiner Gefängnishaft  damit begonnen, Dokumente und Akten zu sammeln, um sie nach der Befreiung vom Nationalsozialismus für den Aufbau eines Archivs und einer Gedenkstätte zu nutzen. Seinen Plan, in der ehemaligen Strafanstalt eine Gedenkstätte und ein Museum einzurichten, konnte er nicht mehr verwirklichen. Um seiner Verhaftung zu entgehen, musste der Publizist, Schriftsteller und Verleger 1950 aus der DDR fliehen. Etwa zur gleichen Zeit füllten sich die Zellen der Strafvollzugsanstalt Brandenburg erneut mit Gefangenen,  die, wie z. B. Angehörige der Zeugen Jehovas, als Gegner des kommunistischen Staates inhaftiert wurden.

Erst Mitte der siebziger Jahre richtete die DDR in den ehemaligen Hinrichtungsräumen des Zuchthauses eine kleine Gedenkstätte zur Erinnerung an, wie es hieß,  den „Widerstandskampf der antifaschistischen Häftlinge“ ein. Seitdem fanden an dem inmitten der Strafanstalt nur schwer zugänglichen historischen Ort regelmäßige Gedenkveranstaltungen statt. Dabei wurde vor allem der etwa 2.000 Opfer gedacht, die als politische Häftlinge zwischen 1940 und 1945 von der nationalsozialistischen Justiz verurteilt und durch Guillotine oder Strick grausam hingerichtet worden waren. 1970, zum 25. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des Zuchthauses Brandenburg, kam es zu einem kleinen, aber trotzdem bemerkenswerten Zwischenfall: Rudi Wunderlich, der für die Organisation der Gedenkveranstaltung verantwortliche wissenschaftliche Mitarbeiter des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer, hatte den bekannten DDR-Dissidenten Robert Havemann zur Gedenkfeier eingeladen. Wunderlich, selbst ein Überlebender des KZ Sachsenhausen, würdigte mit seiner Einladung weniger den bekanntesten DDR-Oppositionellen als den Gründer und Kämpfer der sozialistischen Widerstandsgruppe „Europäische Union“. Denn während seine Freunde und Kameraden, wie der Arzt Georg Großkurth, im Mai 1944 in der in Sichtweite Havemanns eingerichteten Garage hingerichtet wurden, hatte es der Chemiker verstanden, unter Vorwänden die Vollstreckung seines Todesurteils hinauszuzögern.  All das zählte aber nicht: Wunderlich wurde entlassen. Er starb 1988, ohne seine Rehabilitation erreicht zu haben.

Nach der friedlichen Revolution 1989/90, in deren Verlauf es auch zu einem Aufstand der Gefangenen in der DDR-Strafanstalt Görden kam, war der damaligen Landesregierung vor allem daran gelegen, in einer Art politischer Gegenreaktion die hochfliegenden Pläne Honeckers zum Bau einer neuen und riesigen Mahn- und Gedenkstätte Brandenburg auf dem Marienberg auf ein möglichst geringes Niveau zurückzuschneiden. Selbst die äußerst bescheidenen Vorschläge der von der Landesregierung eingesetzten Expertenkommission 1991 wurden noch unterschritten. Von einer Darstellung der Rolle der Strafanstalt bei der Verfolgung der politischen Opposition in der DDR war zur damaligen Zeit überhaupt keine Rede. Die 1993 gegründete Stiftung Brandenburgische Gedenkstätte hat diese hauptsächlich politisch begründeten Restriktionen für den zur Dokumentationsstelle herabgestuften historischen Ort  von Anfang an für falsch und überzogen erachtet. Sie suchte deshalb immer wieder nach geeigneten Räumen und Möglichkeiten in der Stadt Brandenburg, um außerhalb des Sicherheitsbereichs der Justizvollzugsanstalt die Geschichte dieses in beiden deutschen Diktaturen wichtigen und zentralen historischen Orts darstellen zu können.  Doch nur selten fanden wir die dafür notwendige Unterstützung von Regierung und Politik.  Umso mehr haben wir uns darüber gefreut, dass wir in der Stadt Brandenburg, u. a. durch Oberbürgermeisterin Sieglinde Tieman sowie  Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg sowie den Landtagsabgeordneten Ralf Holzschuher auf Verständnis und Hilfe stießen. Leider aber verhallten auch die eindrucksvollen Appelle der überlebenden Gefangenen, an ihrer Spitze der unermüdlich bis zu seinem Tod 2007 für ein neues Museum und eine neue Ausstellung werbende und  kämpfende jüdische Überlebende, Günter Nobel,  sowie der nicht weniger engagierte ehemalige tschechische Widerstandskämpfer Jaroslav Vrabec, beide Mitglieder des internationalen Beirats der Stiftung, nur allzu oft. Auch die verschiedenen Regierungen der Bundesrepublik Deutschland überhörten die Empfehlung der Bundestags-Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur“ sowie vieler Gutachter der Gedenkstättenkonzeption des Bundes die Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg-Görden  formell in die Liste der institutionell geförderten Einrichtungen aufzunehmen.

Ein Wendepunkt in der bis dahin eher deprimierenden Entwicklung unserer  in der „Wiege der Mark“ ansässigen Gedenkstätte  wurde 2002 mit der internationalen wissenschaftlichen Tagung unter dem Titel „Perspektiven für die Dokumentationsstelle Brandenburg“  in der hiesigen Justizschule erreicht. Zahlreiche Forscherinnen und Forscher arbeiteten in vergleichender Perspektive und mit wissenschaftlicher Akribie den besonderen, überregionalen und internationalen Rang und die Bedeutung der Stadt Brandenburg als Standort der ersten Gaskammer zum Massenmord an Tausenden von Kranken im sogenannten alten Zuchthaus einerseits sowie als Ort der politischen Repression in der ursprünglich als Reformanstalt gebauten Anlage auf dem Görden andererseits eindrucksvoll heraus. Von großer Bedeutung dafür war auch, dass mit den wissenschaftlichen Forschungen von Leonore Ansorg und Sylvia de Pasquale wichtige historische Grundlagen für eine Ausstellungskonzeption gelegt wurden. Dabei konnte über die bisherige Einschränkung auf die Bedeutung der Strafanstalt für die politische Verfolgung hinaus auch die herausgehobene Rolle des Zuchthauses bei den Verfolgungsmaßnahmen im Rahmen der kriminalbiologisch und rassenhygienisch begründeten nationalsozialistischen Vernichtungspolitik erforscht werden.

Den entscheidenden politischen Durchbruch allerdings brachte eine ministerielle Vereinbarung,  die unter der seit 2009 amtierenden neuen Landesregierung geschlossen wurde. Gerne nenne ich hier die Namen der drei entscheidenden Minister der Landesregierung,  zumal der damals heftig angefeindeten rot-roten Koalition – und natürlich auch mir persönlich als Direktor der Stiftung –  bis heute von Seiten einzelner Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft nicht selten, aber trotzdem  fälschlicherweise ein Vertuschen der DDR-Geschichte in der Strafanstalt Brandenburg-Görden  unterstellt wird. Es waren die Kulturministerin Prof. Sabine Kunst, der stellvertretende Ministerpräsident und Finanzminister Dr. Helmuth Markow sowie Justizminister Volkmar  Schöneburg, die der Stiftung das ehemalige, weitgehend original erhaltene  Direktorenhaus als künftiges Museum für die Geschichte der Strafanstalt Brandenburg-Görden im Nationalsozialismus ebenso wie in der DDR sowie die Finanzierung sowohl der nicht unaufwendigen Gebäudesanierung als auch der Ausstellung  in Aussicht stellten. Dem Versprechen der Landesregierung, zu dem diese auch in der darauf folgenden, neuen Legislaturperiode  allen personellen Veränderungen zum Trotz unverändert stand, schloss sich schließlich auch die Bundesregierung an. Ich möchte mich daher an erster Stelle bei der Landes- sowie der Bundesregierung dafür bedanken, dass die Stiftung dieses in den 25 Jahren seit ihrer Gründung lange Zeit vergeblich angestrebte Museums- und Gedenkstättenprojekt endlich realisieren konnte. Eine große Hilfe dabei war auch die Bereitschaft der Leiterin der Justizvollzugsanstalt Petra Wellnitz und ihrer Vollzugsbeamten, der Stiftung immer wieder helfend zur Seite zu springen und uns schließlich für die heutige Veranstaltung ihre Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.

Dabei erwies sich der Umbau des ehemaligen Wohnhauses des Anstaltsdirektors, anders als zunächst vermutet, als ein schwieriges Bauvorhaben. Ich danke dem Architektenbüro Uli Krieg sowie dem Brandenburgischen Landesbetrieb für Liegenschaften und Bauten für die gelungene Sanierung des denkmalgeschützten Gebäudes sowie die Errichtung eines kleinen Anbaus. Der Firma „Tatwerk“, die auf die häufig nicht einfach umzusetzenden Ideen und Vorstellungen von uns Historikern stets bereitwillig eingegangen ist,  danke ich für die sehr gelungene Gestaltung der Ausstellung. Den ehemaligen Gefangenen der Strafanstalt sowie ihren Angehörigen danke ich ganz herzlich für die Bereitstellung von Exponaten und anderen Materialien sowie ihre keineswegs selbstverständliche Mitarbeit im Rahmen von Zeitzeugeninterviews. Eine kleine Arbeitsgruppe, die wir aus dem internationalen Beirat sowie der Fachkommission der Gedenkstättenstiftung gebildet haben, hat dankenswerterweise die Erarbeitung der inhaltlichen Konzeption der Ausstellung durch Rat und Tat begleitet. Michael Viebig und Professor Dr. Nikolaus Wachsmann haben darüber hinaus an der endgültigen Abfassung der Ausstellungstexte mitgearbeitet.

Mein besonderer Dank aber gilt der Gedenkstättenleiterin Dr. Sylvia de Pasquale und ihrem relativ kleinen Team. Spätestens seit der erwähnten Konferenz im Jahre 2002 hat Frau de Pasquale – nicht zuletzt durch ihre (bei mir) geschriebene Dissertation zur Geschichte des Strafvollzugs in Brandenburg an der Havel 1920-1945 – unser gemeinsames Ziel, am authentischen Ort eine neue Gedenkstätte zu eröffnen, nie aus dem Auge verloren und beharrlich verfolgt. Obwohl sie seit ihrer Eröffnung 2012 auch unsere „Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde“  leitet, hat sie zur gleichen Zeit ganz maßgeblich an der Konzeption und Ausarbeitung der Ausstellung  auf dem Görden gearbeitet und auch die immer wieder von Rückschlägen betroffenen Baumaßnahmen  begleitet. Sylvia de Pasquale und ihrem Team gilt daher mein ganz besonderer Dank.

 

„Seid wachsam und wehret den Anfängen!“, wie oft ist uns dieser Satz von Walter Hammer schon über die Lippen gekommen. Er ist heute aktueller denn je. Mit einer Partei im deutschen Bundestag, in deren Anfragen an die Bundesregierung die eugenischen und rassehygenischen Vorbehalte gegen Behinderte und Ausländer, wenn auch in kruder, versteckter Form wieder postuliert werden, kann und darf es keine Kompromisse, geschweige denn Koalitionssondierungen geben.  Aber auch den erneut anwachsenden Vorurteilen gegenüber den demokratischen Prinzipien der Resozialisierung im Strafvollzug gilt es energisch zu widersprechen. Populäre Forderungen, wie z. B.  die Straftäter einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen, oder gar die Todesstrafe wieder einzuführen, haben mit den Prinzipien eines Rechtsstaates nichts zu tun. Dagegen will unsere Ausstellung zeigen, dass zum Herzstück der Demokratie die konsequente Bewahrung des Rechtsstaates gehört. Autoritäre und diktatorische Regime beginnen, wie gegenwärtige Beispiele in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern erneut beweisen, immer zuerst damit, rechtsstaatliche Prinzipien aufzuweichen, zu relativieren und sie schließlich  Stück für Stück sowie nach und nach abzuschaffen.  Unser neue Ausstellung, die die unvergleichlichen Verbrechen der NS-Justiz ebenso ausführlich behandelt wie das Unrecht des DDR-Strafvollzuges  soll, das wünschen wir uns, als ein beständiges und eindringliches Plädoyer für den Rechtsstaat als Herzstück jeglicher demokratischer Ordnung verstanden werden und nachhaltig in diesem Sinne  gerade auch auf junge Menschen wirken.

 

 

25 Jahre Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Begrüssung der Gäste anlässlich des Festempfangs des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und der Stiftung Brandenburgische Gedenksätten am 18. April 2018 in der Staatskanzlei

Günter Morsch

25 JAHRE STIFTUNG BRANDENBURGISCHE GEDENKSTÄTTEN

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Dr. Woidke,

sehr geehrter Herr Landtagsvizepräsident Dombrowski,

Sehr geehrte Überlebende der Konzentrationslager des sowjetischen Speziallagers sowie der Gefängnisse

sehr geehrte Mitglieder der Landesregierung und des brandenburgischen Landtages,

sehr geehrte Mitglieder der drei Gremien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der verschiedenen Opfer- und Interessenverbände

Exzellenzen, Vertreter ausländischer Staaten,

Sehr geehrte Frau Bering,

Lieber Herr Faulenbach,

lieber Herr Lutz,

lieber Herr Beattie

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

 

im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten möchte auch ich Sie zunächst ganz herzlich zu unserem Festakt aus Anlass unseres fünfundzwanzigsten Geburtstages begrüßen. Im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung bedanke ich mich bei der Landesregierung, insbesondere bei Herrn Ministerpräsidenten Dr. Woidke, für die Ehre, die der Gedenkstättenstiftung mit diesem Festakt hier in der Staatskanzlei erwiesen wird.

 

Am 9. November 2010 fand im ehemaligen Erschießungsgraben des Konzentrationslagers Sachsenhausen die seit vielen Jahren regelmäßig stattfindende Gedenkveranstaltung für die Opfer einer Massenmordaktion an mindestens 33 polnischen Häftlingen statt. Mühselig und im Rollstuhl sitzend war der damals 95-jährige Sachsenhausen-Überlebende Karl Stenzel aus seinem Altersitz in Groß-Köris nach Sachsenhausen gekommen, um seiner polnischen Kameraden zu gedenken. Seine letzte Rede in der Gedenkstätte, für die er über Jahrzehnte als Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausen-Komitees gekämpft und sich eingesetzt hatte, war für uns alle, die wir ihm zuhörten, bestürzend. „Wir, die ehemaligen KZ-Häftlinge, wir haben versagt, so sagte er fast flüsternd. „Wir haben geglaubt, die Welt würde aus unserer Erfahrung lernen, sie würde besser werden, keine Völkermorde mehr, kein Rassismus und Antisemitismus, kein Nationalismus,  kein Krieg mehr, so haben wir in unseren unterschiedlichen Erklärungen nach der Befreiung aus den Lagern gefordert. Doch was“, so fragte Karl Stenzel weiter, hat die Welt aus unseren Erfahrungen gemacht?“

Der ehemalige deutsche Kommunist, der in den neunziger Jahren ganz entscheidend an der Neugestaltung der brandenburgischen Gedenkstätten  konstruktiv mitgewirkt und sie voran getrieben hat, steht mit dieser Feststellung im Kreise auch seiner internationalen Kameradinnen und Kameraden nicht allein.  In dem 2009 von den Präsidenten der verschiedenen Häftlingskomitees, unter ihnen die im internationalen Beirat der Stiftung Brandenburgische Gedenkstäten vertretenen Präsidenten von Ravensbrück und Sachsenhausen, Dr. Annette Chalut und Pierre Gouffault, verfassten das, wie sie es nannten,  „Vermächtnis der Überlebenden“ und übergaben es in zahlreichen Veranstaltungen verschiedenen namhaften staatlichen Repräsentanten . Darin  heißt es in ganz ähnlicher Weise: „Nach unserer Befreiung schworen wir eine neue Welt des Friedens und der Freiheit aufzubauen. Wir haben uns engagiert, um eine Wiederkehr dieser unvergleichlichen Verbrechen zu verhindern. Zeitlebens haben wir Zeugnis abgelegt, zeitlebens waren wir darum bemüht, junge Menschen über unsere Erlebnisse und unsere Erfahrungen und deren Ursachen zu informieren. Gerade deshalb schmerzt und empört es uns sehr, heute feststellen zu müssen: Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt.“

Einige von Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, mögen diese uns in tiefe Zweifel stürzende  Zitate der Zeitzeugen des Terrors und der Kriege als unpassend für den heutigen Anlass empfinden. Doch angesichts der gerade im Moment zunehmenden antisemitischen und rassistischen Übergriffe, der Wiederkehr nationalistischer Bewegungen, der zunehmenden Flut aggressiver, die Opfer der Diktaturen beleidigender Äußerungen,  angesichts der selbst im Deutschen Bundestag zu hörenden Stellungnahmen von anscheinend ohne jegliches kritisches historische Bewusstsein und jegliche  Sensibilität  rücksichtslos nach Einfluss und Macht strebenden rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen sowie angesichts des am Horizont drohenden Zerfalls der Europäischen Union und der Zunahme von Konflikten zwischen den europäischen Nachbarn müssen wir uns  gerade an einem solchen Tag, an dem wir auf die vergangenen Erfolge zurück blicken wollen, auch den neuen Herausforderungen der Gegenwart stellen. Dabei kommen wir nicht umhin, feststellen zu müssen:  Die wirkliche Probe auf die Festigkeit und Nachhaltigkeit der Erinnerungskultur in Deutschland und in Europa, sie scheint erst jetzt zu kommen!

Jetzt – da die ständigen Weckrufe und Mahnungen, die zumeist mit großer menschlicher  Wärme und Überzeugungskraft vorgetragenen Erlebnisse und Erfahrungen der Zeitzeugen weitgehend verstummt sind und zu verblassen scheinen.

Jetzt – da die allermeisten Nachbarn Deutschlands, die zweimal im Laufe des vorigen Jahrhunderts unter der aggressiven Kriegspolitik des Deutschen Reiches leiden mussten,  der vereinten Bundesrepublik des Grundgesetzes nicht zuletzt aufgrund ihrer offenen und breit entwickelten, fest in der Zivilgesellschaft verankerten, staatlich unterstützten neuen Erinnerungskultur vertrauen.

Jetzt – da die meisten Angehörigen der Opfer in ihrer Trauer einen mitfühlenden Widerhall und ein sympathetisches Verständnis bei vielen Menschen in Deutschland vorfinden und

Jetzt – da die meisten Verbände der verschiedenen Opfergruppen, die über Jahrzehnte  immer wieder an das Gewissen der Deutschen appellierten und gegen Verdrängungsprozesse ankämpften entweder sich aufzulösen beginnen oder aber angesichts ihrer begrenzten Kraft  den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf neue Herausforderungen legen müssen.

 

Ich bin allerdings fest davon überzeugt, sehr geehrte Anwesende, dass die vor 25 Jahren in der Einrichtungsverordnung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten einschließlich ihrer 1997 und 2016 vorgenommenen Novellierungen festgeschriebenen Grundsätze eine nach wie vor sichere Grundlage und Basis bieten, um diesen neuen Herausforderungen stand zu halten und Antworten darauf zu finden. Welche sind dies?

  1. Im Zentrum der Erinnerungskultur in Brandenburg stehen die historischen, bzw. die authentischen Orte der Verbrechen. Sie zu erhalten und zu bewahren, sollte oberste Aufgabe bleiben, auch wenn das angesichts der zahlreichen baulichen Zeugnisse bedeutet, eine nicht geringe Finanzierung auf Dauer sicher zu stellen, damit sowohl die Denkmale aus der Zeit als auch die Denkmale an die Zeit auch künftigen Generationen erhalten bleiben.
  2. In den historischen Orten fokussiert sich die Erinnerung; sie geht von ihnen aus. Ihre Kraft darf nicht durch Verwaltungsreformen oder andere in Zeiten von Zentralisierungen und vermeintlich Synergien bündelnden Maßnahmen geschwächt, sondern muss  im Gegenteil weiter gestärkt werden.
  3. Gedenkstätten können nur als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben in einer stark von den neuen Medien bestimmten Gesellschaft Wirkung und Nachhaltigkeit erzielen und sich behaupten. Ihre feste Verankerung in der Wissenschaft, die Aufarbeitung und Ergänzung ihrer Sammlungen, die stets den sich ändernden Fragen an die Geschichte sich öffnenden Dauer-, Sonder- und Wechselausstellungen sowie Veröffentlichungen aller Art, aber vor allem auch eine offene, moderner Didaktik gegenüber aufgeschlossene, vor allem aber personell und finanziell besser als bisher ausgestatte pädagogische Arbeit, bleiben unverzichtbare fundamentale Aufgaben der Gedenkstätten.
  4. Die Gedenkstättenstiftungen müssen auch weiterhin in Deutschland, wo es auch auf absehbare Zeit keine starke etablierte und tradierte private Kulturförderung gibt, öffentlich rechtlich verfasst bleiben. Umso wichtiger ist es, dass Staat und Politik die inhaltliche Autonomie der Gedenkstätten und der Stiftung achten und bewahren. Gerade auf dem Hintergrund der in den neuen Bundesländern noch stark  nachwirkenden Erfahrungen des staatlich instrumentalisierten Antifaschismus muss den offenbar gegenwärtig  wachsenden Versuchungen widerstanden werden, auf die inhaltliche Ausrichtung der Gedenkstätten administrativ Einfluss zu nehmen oder gar sie zu bestimmen.
  5. Staatliche Verwaltungen, Parteien und Verbände sind aber aufgefordert, sich am möglichst pluralistischen Diskurs über Ziele und Inhalte zu beteiligen. Dabei müssen neue Wege gefunden werden, um auch in der Zukunft die Beteiligung einer internationalen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft an der Fortentwicklung der Gedenkstätten sicher zu stellen. Denn in Below und in Brandenburg an der Havel, in der Potsdamer Leistikowstraße ebenso wie in Lieberose, in Ravensbrück ebenso wie in Sachsenhausen bündelt sich nicht allein deutsche, sondern europäische Vorkriegs- Kriegs- und Nachkriegsgeschichte.

 

Die heutige Festveranstaltung bietet der Stiftung auch eine gern genutzte  Gelegenheit, um unseren aufrichtigen Dank an alle die Stiftung in vielfältigen Formen helfenden, unterstützenden und tragenden Einrichtungen sowie Personen zum Ausdruck zu bringen. Lassen Sie mich im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung daher zum Schluss meiner Ausführungen, Ihnen allen versichern, wie sehr wir die Unterstützung und Hilfe, die wir von vielen Seiten erhalten, schätzen und anerkennen. Vor fünf Jahren, aus Anlass des zwanzigsten Geburtstages unserer Stiftung, habe ich versucht, nahezu alle Institutionen, Organisationen und Personen namentlich zu nennen, denen wir diesen Dank schulden. Die dazu gemachten Ausführungen füllten mehr als zwei Seiten meines Manuskripts. Trotzdem bin ich an dieser gerne übernommenen Aufgabe gescheitert, wie spätere Beschwerden zeigten.  Daher bitte ich um Verständnis, wenn ich heute Ihnen allen ganz herzlich danken möchte, ohne erneut peinliche und unbeabsichtigte Versäumnisse zu riskieren. Der Dank kommt trotzdem von ganzem Herzen. Eine Ausnahme will ich trotzdem machen:  Mein letzter Satz  soll den ihre Haft überlebenden Opfern von Holocaust und KZ-Verbrechen, von Gefängnis- und Speziallager-Haft  gelten. Ihnen schulden wir vor allem deshalb Dank, weil sie trotz des ihnen angetanen Leids und Unrechts uns allen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenso wie den Leiterinnen und Leitern der Gedenkstätten sowie dem Vorstand und Direktor der Stiftung stets eine nicht zu ersetzende, moralische Stütze waren und sind.

Rede zur Gedenkveranstaltung an der „Säule der Gefangenen“ in Erinnerung an die Befreiung der Häftlinge des KZ-Außenlagers Lichterfelde, 8. Mai 2018

GEDENKFEIER AN DER „SÄULE DER GEFANGENEN“ IN ERINNERUNG AN DIE BEFREIUNG DER HÄFTLINGE DES KZ-AUSSENLAGERS LICHTERFELDE

 8.    Mai 2018

 

Prof. Dr. Günter Morsch

 

Sehr geehrte Frau, sehr geehrter Herr Pilecki,

Frau Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau,

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Richter-Kotowski,

sehr geehrte Frau Dr. Finckh-Krämer,

sehr geehrte Vertreter ausländischer Staaten,

liebe Petra Rosenberg

sehr geehrte, lieber Schülerinnen und Schüler der Lousie-Schroeder-Schule und des Beethoven-Gymnasiums,

lieber Herr Schleissing-Niggemann,

liebes Ehepaar Leutner,

liebe Mitglieder der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde,

sehr geehrte Gäste,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

ganz herzlich möchte ich mich zunächst bei der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde für die Einladung zur heutigen Gedenkveranstaltung bedanken. Sie, die Mitglieder ihrer Bürgerinitiative, geben seit vielen Jahren allen ein leuchtendes Beispiel in Berlin dafür, dass es möglich ist, gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen des Bezirkes sowie Schülerinnen und Schülern der örtlichen Schulen die Erinnerung an die Verbrechen wach zu halten, auch wenn die Zeitläufe darüber hinweg zu gehen scheinen.

73 Jahre sind inzwischen vergangen, seitdem am 8. Mai 1945 die deutsche Wehrmacht in Reims die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches unterschrieb, eine etwas kuriose Zeremonie, die einen Tag später in Berlin-Karlshorst wiederholt wurde. Kurios nenne ich diese Inszenierungen deshalb, weil die zur Unterzeichnung angetreten deutschen Generäle immer noch versuchten, der Welt das Theater von einer ganz normalen militärischen Niederlage nach einem verlorenen Krieg vorspielen zu müssen. An diesem Mythos hat die Bundesrepublik Deutschland lange unbeirrt und unbelehrbar festgehalten. Die mit militärischem Zeremoniell vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge organisierten Gedenkveranstaltungen zum Volkstrauertag mit anschließenden Kranzniederlegungen, teilweise an den Heldendenkmälern für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges inszeniert, galten, wie es hieß, allen Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft.

Auch wenn schon in den siebziger und achtziger Jahren gegen eine solche Missinterpretation und Verfälschung der Geschichte, die Täter und Opfer gleichermaßen in das Gedenken einschließt, gerade auch von einer wachsenden Bürgerbewegung aus Geschichtswerkstätten und Opferorganisationen, aus gewerkschaftlichen oder kirchennahen Gruppen entschiedener Widerspruch und Protest erhoben wurde, so hat erst die Rede von Bundespräsident Richard von Weizäcker am 8. Mai 1985 dieser Stahlhelm-bewehrten Tradition die politische Grundlage und Legitimation entzogen. Seitdem sprechen wir vom Tag der Befreiung. Damit verbinden wir nicht nur die Befreiung der Häftlinge der Konzentrationslager, der Zwangsarbeiter in den Fremdarbeiterlagern, der  politischen Gefangenen aus den Gefängnissen und Zuchthäusern, die Befreiung der untergetauchten Juden und Widerstandskämpfer aus Kellern, Kleingartenlauben und Katakomben, sondern auch die Befreiung der vielen Millionen Deutschen von ihrer nicht selten selbst gewählten Verstrickung, Beteiligung und fanatischen Identifikation mit dem verbrecherischsten System, das die Welt erlebt hat.

Wie nahe diese verschiedenen Motivlagen, vom Widerstand über das gleichgültige Wegsehen bis zur Tatbeteiligung, einander waren, das ist besonders eindrücklich dann nachzuvollziehen, wenn man den Blick auf das lokale Geschehen im „Dritten Reich“ lenkt. Das Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen, das am 23. Juni 1942 hier mitten im bürgerlich-kleinbürgerlichen Stadtbezirk Steglitz zwischen Teltowkanal und Wismarer Straße errichtet wurde, war nur eins von insgesamt 100 Satelliten des Konzentrationslagers bei der Reichshauptstadt. Etwa 30 davon befanden sich mitten in Berlin, zumeist bei großen Industrie- und Rüstungsbetrieben, wie Siemens, Krupp oder Mercedes,  aber auch bei zahlreichen Dienststellen der verschiedenen Verwaltungen des NS-Systems, wie z. B. dem Reichssicherheitshauptamt an der Prinz.-Albrecht-Straße, dem Reichsfinanzministerium an der Wilhelmstraße, dem SS-Rasse- und Siedlungshauptamt in Kreuzberg und vor allem dem SS-Wirtschaft- und Verwaltungshauptamt in Steglitz an der Straße „Unter den Eichen“. Viele der bei den verschiedenen Behörden eingesetzten KZ-Häftlinge waren im Außenlager Lichterfelde untergebracht. Von dort wurde ihr Einsatz gemeinsam mit dem SS-Arbeitseinsatzführer im Oranienburger Hauptlager koordiniert und geplant.

Wie kann man sich, so werden gerade junge Menschen fragen, das Nebeneinander von Konzentrationslager und Berliner Alltag, von Elend und Verbrechen an den KZ-Häftlingen einerseits, Arbeitsalltag, Wohnen und Freizeit der Berlinerinnen und Berliner andererseits vorstellen? Es ist sicherlich nicht zufällig, dass die verschiedenen Außenlager und –kommandos des Konzentrationslagers Sachsenhausen erst ab der Kriegsmitte, also ab 1942/43, die meisten sogar erst ab 1944, sich in der Reichshauptstadt auszubreiten begannen. Sachsenhausen war, obwohl von der Wehrmacht als ein großes Lager für potentiell Aufständische aus den stets unruhigen Vierteln der „roten Hauptstadt“ geplant, nicht innerhalb der Stadtgrenzen, sondern acht Kilometer davor, allerdings noch innerhalb des S-Bahn-Ringes, erbaut worden. Mauern umschlossen nun die Baracken. Zusätzliche Bretterzäune sollten den direkten Einblick in die verschiedenen Vernichtungsstätten verhindern, wo sich mehrere Galgen und Erschießungsanlagen befanden, eine Gaskammer installiert war und die vier Öfen des Krematoriums tagsüber im Dauerbetrieb brannten. Trotz aller halbherzigen Vertuschungsversuche konnten die Massenmorde auch den Einwohnern von Oranienburg, die nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt von SS-Männern begangen wurden, mit denen sie teilweise Tür an Tür wohnten, nicht unbekannt bleiben. Dafür gab es zu viele Indizien, wie der dicke schwarze, nach verbranntem Menschenfleisch übel riechende Rauch über den Krematorien, der dazu führte, dass an besonders schlimmen Tagen die zum Trocknen in den Gärten aufgehängte Wäsche sich schwarz färbte. Auch die täglichen Opfer von Mordlust und Misshandlungen, die von den KZ-Häftlingen am Ende ihrer in das Lager einrückenden Marschkolonnen auf einem Leiterwagen, nur mühselig von einer Plane bedeckt, an den wartenden Passanten bei der Rückkehr von den Arbeitskommandos vorbeigezogen wurden, waren kaum zu übersehen. Für einen Teil der Menschen reichte es bereits, wenn die Wachen ihre Gewehre auf allzu Neugierige richteten und barsch befahlen, sich umzudrehen und wegzusehen. Die Diktatur lieferte immer genügend Anlässe für ständige Ausreden, nicht-wissen zu wollen. So begannen die Menschen ihr Gesichtsfeld immer mehr einzuengen, sie schränkten die ganze Aufmerksamkeit auf ihren eigenen Alltag ein, der ihnen schwer genug zu sein schien. Sie wurden zu Monaden, die die Welt um sich herum auszublenden versuchten. Nicht wissen zu wollen, nicht sehen zu wollen, nicht hören zu wollen, wurde zu ihrer Überlebensmaxime.  So wollten nicht wenige entgegen ihren eigenen Wahrnehmungen lieber den ständig wiederholten Behauptungen der SS-Mörder glauben, in den Konzentrationslagern wären gefährliche Verbrecher interniert, vor denen man die anständigen Deutschen schützen müsse. Fast noch wichtiger aber war die schnelle Gewöhnung an die Gewalt und den Terror gegen Menschen, die seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten immer mehr um sich griff. Außenlager und Außenkommandos hatte es bereits in der ersten Phase des KZ-Terrors zwischen 1933 und 1935 gegeben, als die Opfer noch mitten in der Stadt, in leeren Fabrikhallen, in Hinterzimmern von Gasthäusern oder Kellern gefoltert und getötet wurden. Insoweit konnte der SS-Staat an eine Vorgeschichte anknüpfen, als Folterkeller und kleine Konzentrationslager selbst von der Berliner Bevölkerung hingenommen worden waren.

Mit dem Krieg lösten sich zunehmend alle zivilisatorischen Maßstäbe menschlicher Gesellschaft auf und der Gesichtskreis der Menschen engte sich immer mehr ein. Zunächst hatte das Regime noch davor zurückgeschreckt, die großstädtische Bevölkerung unverhohlen mit der Realität der großen Konzentrationslager zu konfrontieren. Die reinen Vernichtungslager gar, wie z. B. Treblinka oder Sobibor, waren nach den Protesten gegen die in reichsdeutschen Heilanstalten vollzogenen massenhaften Krankenmorde im Rahmen der sogenannten Euthanasie weit in den Osten verlegt worden. Das änderte sich jetzt unter dem Druck des totalen Krieges. Die zunehmende Abstumpfung der Menschen gegenüber Gewalt und Terror machte es möglich. Ganz sicher war sich das Regime trotzdem noch nicht. Vor allem deshalb transportierte die SS diejenigen Häftlinge des KZ-Außenlagers Lichterfelde,  die zu erschöpft und zu krank zum Arbeiten waren oder die bestraft werden sollten, zumeist zurück nach Oranienburg, wo sie durch die SS-Ärzte nach oberflächlicher Diagnose leichter getötet oder in den verschiedenen Einrichtungen des Lagers ungesehen gefoltert werden konnten. Die bisher bekannt gewordenen Hinrichtungen von Wilhelm Nowak sowie zweier weiterer KZ-Häftlinge, die in Lichterfelde vor den Augen ihrer Mithäftlinge erhängt wurden, scheinen eher die Ausnahme gewesen zu sein.

Diese furchtbare aber sorgsam überlegte Arbeitsteilung des Terrors zwischen den KZ-Außenlagern in Berlin und dem sogenannten Stammlager in Oranienburg darf nicht dazu führen, dass die Satelliten des Lagers, in denen, quantitativ betrachtet, sogar eine Mehrheit aller 200.000 Häftlinge von Sachsenhausen zur Zwangsarbeit interniert war, als eigenständige Orte der Erinnerung aus dem Gesamtkomplex des KZ-Kosmos herausgelöst werden. Sicher waren die Bedingungen in den jeweiligen Außenlagern sehr unterschiedlich: So konnten selbst in den jüdischen Außenlagern von Sachsenhausen, wie etwa bei Siemens in Haselhorst oder bei Argus in Reinickendorf,  nicht die gleichen lebensvernichtenden Arbeitsbedingungen und brutalen Massaker organisiert werden, wie sie z. B. in dem in der Nähe eines kleinen brandenburgischen Dorfs angesiedelten Außenlagers Lieberose stattfanden. Doch der Kommandant in Sachsenhausen und die zentrale Verwaltung aller Konzentrationslager in Oranienburg in dem bis heute original erhaltenen sogenannten T-Gebäude koordinierten und passten die Lebens- und Arbeitsbedingungen der KZ-Häftlinge den jeweiligen lokalen Erfordernissen und Umständen an.

Sachsenhausen ist daher, auch wenn das Hauptlager in Oranienburg acht Kilometer vor den Toren der Hauptstadt lag, ein leider in der Stadtgesellschaft immer noch viel zu wenig anerkannter, genuiner Erinnerungsort Berliner Geschichte. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl haben viele Berlinerinnen und Berliner über lange Jahre daran gehindert, ihn als solchen anzunehmen. Auch 28 Jahre nach der deutschen Einheit wirkt diese gewaltsame Trennung nach, zumal die 1961 nur wenige Monate vor dem Mauerbau von der DDR errichtete Mahn- und Gedenkstätte von beiden Hälften der Stadt zum Streitgegenstand zwischen den sich konfrontativ gegenüber stehenden politischen Systemen gemacht wurde.

Ich bin daher der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde sowie allen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, allen Schülerinnen und Schülern sehr dankbar dafür, dass sie jährlich am Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus an die Opfer des Konzentrationslagers Sachsenhausen erinnern. Möge ihr Beispiel ausstrahlen auf andere Stadtbezirke, in denen die Präsenz von Außenlagern des Konzentrationslagers Sachsenhausen in der unmittelbaren Nachbarschaft kaum thematisiert wird und fast vergessen zu sein scheint. Und möge vor allem ihr Engagement und ihre Kraft nicht nachlassen, auch wenn sich die Stimmen mehren, die inzwischen selbst im Deutschen Bundestag die gegen erhebliche Widerstände in Jahrzehnten erkämpfte Erinnerungskultur in Deutschland wieder weit hinter die Entwicklung zurückwerfen wollen, die 1985 mit der Rede des Bundespräsidenten und ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Richard von Weizäcker, zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, begonnen hatte.

Denn die wirkliche Probe auf die Stärke und Nachhaltigkeit der Erinnerungskultur, sie kommt erst jetzt.

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit