GEDENKFEIER AN DER „SÄULE DER GEFANGENEN“ IN ERINNERUNG AN DIE BEFREIUNG DER HÄFTLINGE DES KZ-AUSSENLAGERS LICHTERFELDE
8. Mai 2018
Prof. Dr. Günter Morsch
Sehr geehrte Frau, sehr geehrter Herr Pilecki,
Frau Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau,
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Richter-Kotowski,
sehr geehrte Frau Dr. Finckh-Krämer,
sehr geehrte Vertreter ausländischer Staaten,
liebe Petra Rosenberg
sehr geehrte, lieber Schülerinnen und Schüler der Lousie-Schroeder-Schule und des Beethoven-Gymnasiums,
lieber Herr Schleissing-Niggemann,
liebes Ehepaar Leutner,
liebe Mitglieder der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde,
sehr geehrte Gäste,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ganz herzlich möchte ich mich zunächst bei der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde für die Einladung zur heutigen Gedenkveranstaltung bedanken. Sie, die Mitglieder ihrer Bürgerinitiative, geben seit vielen Jahren allen ein leuchtendes Beispiel in Berlin dafür, dass es möglich ist, gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen des Bezirkes sowie Schülerinnen und Schülern der örtlichen Schulen die Erinnerung an die Verbrechen wach zu halten, auch wenn die Zeitläufe darüber hinweg zu gehen scheinen.
73 Jahre sind inzwischen vergangen, seitdem am 8. Mai 1945 die deutsche Wehrmacht in Reims die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches unterschrieb, eine etwas kuriose Zeremonie, die einen Tag später in Berlin-Karlshorst wiederholt wurde. Kurios nenne ich diese Inszenierungen deshalb, weil die zur Unterzeichnung angetreten deutschen Generäle immer noch versuchten, der Welt das Theater von einer ganz normalen militärischen Niederlage nach einem verlorenen Krieg vorspielen zu müssen. An diesem Mythos hat die Bundesrepublik Deutschland lange unbeirrt und unbelehrbar festgehalten. Die mit militärischem Zeremoniell vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge organisierten Gedenkveranstaltungen zum Volkstrauertag mit anschließenden Kranzniederlegungen, teilweise an den Heldendenkmälern für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges inszeniert, galten, wie es hieß, allen Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft.
Auch wenn schon in den siebziger und achtziger Jahren gegen eine solche Missinterpretation und Verfälschung der Geschichte, die Täter und Opfer gleichermaßen in das Gedenken einschließt, gerade auch von einer wachsenden Bürgerbewegung aus Geschichtswerkstätten und Opferorganisationen, aus gewerkschaftlichen oder kirchennahen Gruppen entschiedener Widerspruch und Protest erhoben wurde, so hat erst die Rede von Bundespräsident Richard von Weizäcker am 8. Mai 1985 dieser Stahlhelm-bewehrten Tradition die politische Grundlage und Legitimation entzogen. Seitdem sprechen wir vom Tag der Befreiung. Damit verbinden wir nicht nur die Befreiung der Häftlinge der Konzentrationslager, der Zwangsarbeiter in den Fremdarbeiterlagern, der politischen Gefangenen aus den Gefängnissen und Zuchthäusern, die Befreiung der untergetauchten Juden und Widerstandskämpfer aus Kellern, Kleingartenlauben und Katakomben, sondern auch die Befreiung der vielen Millionen Deutschen von ihrer nicht selten selbst gewählten Verstrickung, Beteiligung und fanatischen Identifikation mit dem verbrecherischsten System, das die Welt erlebt hat.
Wie nahe diese verschiedenen Motivlagen, vom Widerstand über das gleichgültige Wegsehen bis zur Tatbeteiligung, einander waren, das ist besonders eindrücklich dann nachzuvollziehen, wenn man den Blick auf das lokale Geschehen im „Dritten Reich“ lenkt. Das Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen, das am 23. Juni 1942 hier mitten im bürgerlich-kleinbürgerlichen Stadtbezirk Steglitz zwischen Teltowkanal und Wismarer Straße errichtet wurde, war nur eins von insgesamt 100 Satelliten des Konzentrationslagers bei der Reichshauptstadt. Etwa 30 davon befanden sich mitten in Berlin, zumeist bei großen Industrie- und Rüstungsbetrieben, wie Siemens, Krupp oder Mercedes, aber auch bei zahlreichen Dienststellen der verschiedenen Verwaltungen des NS-Systems, wie z. B. dem Reichssicherheitshauptamt an der Prinz.-Albrecht-Straße, dem Reichsfinanzministerium an der Wilhelmstraße, dem SS-Rasse- und Siedlungshauptamt in Kreuzberg und vor allem dem SS-Wirtschaft- und Verwaltungshauptamt in Steglitz an der Straße „Unter den Eichen“. Viele der bei den verschiedenen Behörden eingesetzten KZ-Häftlinge waren im Außenlager Lichterfelde untergebracht. Von dort wurde ihr Einsatz gemeinsam mit dem SS-Arbeitseinsatzführer im Oranienburger Hauptlager koordiniert und geplant.
Wie kann man sich, so werden gerade junge Menschen fragen, das Nebeneinander von Konzentrationslager und Berliner Alltag, von Elend und Verbrechen an den KZ-Häftlingen einerseits, Arbeitsalltag, Wohnen und Freizeit der Berlinerinnen und Berliner andererseits vorstellen? Es ist sicherlich nicht zufällig, dass die verschiedenen Außenlager und –kommandos des Konzentrationslagers Sachsenhausen erst ab der Kriegsmitte, also ab 1942/43, die meisten sogar erst ab 1944, sich in der Reichshauptstadt auszubreiten begannen. Sachsenhausen war, obwohl von der Wehrmacht als ein großes Lager für potentiell Aufständische aus den stets unruhigen Vierteln der „roten Hauptstadt“ geplant, nicht innerhalb der Stadtgrenzen, sondern acht Kilometer davor, allerdings noch innerhalb des S-Bahn-Ringes, erbaut worden. Mauern umschlossen nun die Baracken. Zusätzliche Bretterzäune sollten den direkten Einblick in die verschiedenen Vernichtungsstätten verhindern, wo sich mehrere Galgen und Erschießungsanlagen befanden, eine Gaskammer installiert war und die vier Öfen des Krematoriums tagsüber im Dauerbetrieb brannten. Trotz aller halbherzigen Vertuschungsversuche konnten die Massenmorde auch den Einwohnern von Oranienburg, die nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt von SS-Männern begangen wurden, mit denen sie teilweise Tür an Tür wohnten, nicht unbekannt bleiben. Dafür gab es zu viele Indizien, wie der dicke schwarze, nach verbranntem Menschenfleisch übel riechende Rauch über den Krematorien, der dazu führte, dass an besonders schlimmen Tagen die zum Trocknen in den Gärten aufgehängte Wäsche sich schwarz färbte. Auch die täglichen Opfer von Mordlust und Misshandlungen, die von den KZ-Häftlingen am Ende ihrer in das Lager einrückenden Marschkolonnen auf einem Leiterwagen, nur mühselig von einer Plane bedeckt, an den wartenden Passanten bei der Rückkehr von den Arbeitskommandos vorbeigezogen wurden, waren kaum zu übersehen. Für einen Teil der Menschen reichte es bereits, wenn die Wachen ihre Gewehre auf allzu Neugierige richteten und barsch befahlen, sich umzudrehen und wegzusehen. Die Diktatur lieferte immer genügend Anlässe für ständige Ausreden, nicht-wissen zu wollen. So begannen die Menschen ihr Gesichtsfeld immer mehr einzuengen, sie schränkten die ganze Aufmerksamkeit auf ihren eigenen Alltag ein, der ihnen schwer genug zu sein schien. Sie wurden zu Monaden, die die Welt um sich herum auszublenden versuchten. Nicht wissen zu wollen, nicht sehen zu wollen, nicht hören zu wollen, wurde zu ihrer Überlebensmaxime. So wollten nicht wenige entgegen ihren eigenen Wahrnehmungen lieber den ständig wiederholten Behauptungen der SS-Mörder glauben, in den Konzentrationslagern wären gefährliche Verbrecher interniert, vor denen man die anständigen Deutschen schützen müsse. Fast noch wichtiger aber war die schnelle Gewöhnung an die Gewalt und den Terror gegen Menschen, die seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten immer mehr um sich griff. Außenlager und Außenkommandos hatte es bereits in der ersten Phase des KZ-Terrors zwischen 1933 und 1935 gegeben, als die Opfer noch mitten in der Stadt, in leeren Fabrikhallen, in Hinterzimmern von Gasthäusern oder Kellern gefoltert und getötet wurden. Insoweit konnte der SS-Staat an eine Vorgeschichte anknüpfen, als Folterkeller und kleine Konzentrationslager selbst von der Berliner Bevölkerung hingenommen worden waren.
Mit dem Krieg lösten sich zunehmend alle zivilisatorischen Maßstäbe menschlicher Gesellschaft auf und der Gesichtskreis der Menschen engte sich immer mehr ein. Zunächst hatte das Regime noch davor zurückgeschreckt, die großstädtische Bevölkerung unverhohlen mit der Realität der großen Konzentrationslager zu konfrontieren. Die reinen Vernichtungslager gar, wie z. B. Treblinka oder Sobibor, waren nach den Protesten gegen die in reichsdeutschen Heilanstalten vollzogenen massenhaften Krankenmorde im Rahmen der sogenannten Euthanasie weit in den Osten verlegt worden. Das änderte sich jetzt unter dem Druck des totalen Krieges. Die zunehmende Abstumpfung der Menschen gegenüber Gewalt und Terror machte es möglich. Ganz sicher war sich das Regime trotzdem noch nicht. Vor allem deshalb transportierte die SS diejenigen Häftlinge des KZ-Außenlagers Lichterfelde, die zu erschöpft und zu krank zum Arbeiten waren oder die bestraft werden sollten, zumeist zurück nach Oranienburg, wo sie durch die SS-Ärzte nach oberflächlicher Diagnose leichter getötet oder in den verschiedenen Einrichtungen des Lagers ungesehen gefoltert werden konnten. Die bisher bekannt gewordenen Hinrichtungen von Wilhelm Nowak sowie zweier weiterer KZ-Häftlinge, die in Lichterfelde vor den Augen ihrer Mithäftlinge erhängt wurden, scheinen eher die Ausnahme gewesen zu sein.
Diese furchtbare aber sorgsam überlegte Arbeitsteilung des Terrors zwischen den KZ-Außenlagern in Berlin und dem sogenannten Stammlager in Oranienburg darf nicht dazu führen, dass die Satelliten des Lagers, in denen, quantitativ betrachtet, sogar eine Mehrheit aller 200.000 Häftlinge von Sachsenhausen zur Zwangsarbeit interniert war, als eigenständige Orte der Erinnerung aus dem Gesamtkomplex des KZ-Kosmos herausgelöst werden. Sicher waren die Bedingungen in den jeweiligen Außenlagern sehr unterschiedlich: So konnten selbst in den jüdischen Außenlagern von Sachsenhausen, wie etwa bei Siemens in Haselhorst oder bei Argus in Reinickendorf, nicht die gleichen lebensvernichtenden Arbeitsbedingungen und brutalen Massaker organisiert werden, wie sie z. B. in dem in der Nähe eines kleinen brandenburgischen Dorfs angesiedelten Außenlagers Lieberose stattfanden. Doch der Kommandant in Sachsenhausen und die zentrale Verwaltung aller Konzentrationslager in Oranienburg in dem bis heute original erhaltenen sogenannten T-Gebäude koordinierten und passten die Lebens- und Arbeitsbedingungen der KZ-Häftlinge den jeweiligen lokalen Erfordernissen und Umständen an.
Sachsenhausen ist daher, auch wenn das Hauptlager in Oranienburg acht Kilometer vor den Toren der Hauptstadt lag, ein leider in der Stadtgesellschaft immer noch viel zu wenig anerkannter, genuiner Erinnerungsort Berliner Geschichte. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl haben viele Berlinerinnen und Berliner über lange Jahre daran gehindert, ihn als solchen anzunehmen. Auch 28 Jahre nach der deutschen Einheit wirkt diese gewaltsame Trennung nach, zumal die 1961 nur wenige Monate vor dem Mauerbau von der DDR errichtete Mahn- und Gedenkstätte von beiden Hälften der Stadt zum Streitgegenstand zwischen den sich konfrontativ gegenüber stehenden politischen Systemen gemacht wurde.
Ich bin daher der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde sowie allen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, allen Schülerinnen und Schülern sehr dankbar dafür, dass sie jährlich am Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus an die Opfer des Konzentrationslagers Sachsenhausen erinnern. Möge ihr Beispiel ausstrahlen auf andere Stadtbezirke, in denen die Präsenz von Außenlagern des Konzentrationslagers Sachsenhausen in der unmittelbaren Nachbarschaft kaum thematisiert wird und fast vergessen zu sein scheint. Und möge vor allem ihr Engagement und ihre Kraft nicht nachlassen, auch wenn sich die Stimmen mehren, die inzwischen selbst im Deutschen Bundestag die gegen erhebliche Widerstände in Jahrzehnten erkämpfte Erinnerungskultur in Deutschland wieder weit hinter die Entwicklung zurückwerfen wollen, die 1985 mit der Rede des Bundespräsidenten und ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Richard von Weizäcker, zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, begonnen hatte.
Denn die wirkliche Probe auf die Stärke und Nachhaltigkeit der Erinnerungskultur, sie kommt erst jetzt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit