Rede: Ungarische Juden im KZ Sachsenhausen, 27. Janaur 2014

TAG DER OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS AM 27. JANUAR 2014
BEGRÜSSUNG
PROF. DR. GÜNTER MORSCH

Sehr geehrte überlebende Opfer des nationalsozialistischen Terrors,
Herr Landtagspräsident, Exzellenz,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Komm mit zum Judenerschießen!“ sagte ein SS-Mann zum anderen, „es gibt auch Alkohol.“ Hastig und wild übereinander geworfen, in einer kleinen Grube einfach verscharrt, so fanden wir mehr als 60 Jahre nach dem Massaker an 1.342 ungarischen und polnischen Juden im KZ-Außenlager Lieberose, leere Wein- und Schnapsflaschen dicht neben dem Tatort. In der näheren Umgebung der Grube lagen noch Patronenhülsen und Magazine. Die SS-Männer hatten einfach durch das dünne Holz der sogenannten Schonungsbaracken hindurch auf die dort zusammen gepferchten bereits zu Muselmännern herabgewürdigten Opfer geschossen. Wem es gelang durch Türen und Fenster herauszuklettern, den ließen die Mörder auf dem Boden zu sich herankriechen, um sie mit Kopfschüssen zu töten. Die sterblichen Überreste von mehr als 700 Opfern dieses von Oranienburg aus angeordneten Massenmordes dagegen, sie fanden wir nicht. Ihre durch Garben aus Maschinenpistolen zerfetzten Körper waren wohl wie die der anderen ca. 800 Opfer, die man zufällig in den siebziger Jahren in einer alten Kiesgrube entdeckte, auf Lastwagen in die umgebenden Wälder fortgeschafft worden.
So sah er aus, der letzte Akt der Shoah. Obwohl der Kanonendonner der anrückenden Roten Armee bereits zu hören war, steigerte sich die mörderische Besessenheit der Nationalsozialisten immer mehr. Nein, nicht obwohl, sondern gerade deshalb. Denn sie wollten nicht nur möglichst viele Menschen noch mit in ihren eigenen Untergang hineinreißen, nein, sie wollten noch mehr, nämlich der Welt beweisen, dass das „Dritte Reich“ die systematische Vernichtung von Millionen Menschen weniger als sekundäre Folge ihres Eroberungskrieges, sondern primär aus ideologischen Motiven planvoll betrieb. Massenmord war kein funktionaler Kollateralschaden, sondern er war das eigentliche Programm der Nationalsozialisten.
Diese Tatsache ist offenbar schwer zu ertragen und zu begreifen. Die DDR verstand sie nicht, als sie Lieberose zu einen Ort der Vernichtung von Antifaschisten verfälschte. Verstehen wir sie heute besser, wenn wir Lieberose als Menetekel des Totalitarismus verharmlosen? Die Opfer, sie können sich gegen politische Instrumentalisierungen nicht mehr wehren, wir sind aufgefordert, dies zu tun.
Vor etwa 70 Jahren, im März 1944 begann das letzte Kapitel der Shoah, der Mord an den ungarischen Juden. Mit Hilfe und Unterstützung der ungarischen Regierung unter Reichsverweser Miklos Horthy deportierte Adolf Eichmann bis Mitte Juli 1944 430.000 ungarische Juden sowie einige Tausend Roma nach Auschwitz. Die allermeisten Menschen, vor allem Alte und Kinder, wurden unter Aufsicht des extra aus Oranienburg zurück beorderten KZ-Kommandanten Rudolf Höß gleich nach der Selektion in den Gaskammern erstickt. Etwa 108.000 Deportierte, zumeist Männer und Frauen im besten arbeitsfähigen Alter, sonderte die SS aus und schickte sie in die Konzentrationslager des Altreiches. Das Ziel lautete „Vernichtung durch Arbeit“.
Im KZ Sachsenhausen traf der erste Transport aus Auschwitz am 6. Juni 1944 ein. Unter den 2.400 Deportierten, die nach tagelangem Transport in völlig überfüllten Güterwagen, ohne Wasser und Brot, auf dem Bahnhof von Jamlitz bei Lieberose aus den Waggons herauskrochen oder -fielen, kam die große Mehrzahl aus Ungarn und Polen. In den folgenden Tagen und Wochen rollte Transport nach Transport aus dem Vernichtungslager in die verschiedenen Arbeitslager von Sachsenhausen. Viele von ihnen wurden von Oranienburg aus in die von den privaten Rüstungsfirmen, wie z. B. von Heinkel, Siemens, Krupp, oder IG Farben, betriebenen KZ-Außenlager nach Berlin, Fürstenberg an der Oder, Schwarzheide, Königs Wusterhausen oder Germendorf weiter transportiert. Die meisten aber der vielen Tausend ungarischen Juden deportierte die Reichsbahn direkt von Auschwitz in das größte jüdische Außenlager von Sachsenhausen, nach Lieberose. Die dortige SS-Lagerverwaltung funktionierte dafür den unmittelbar an das Häftlingslager angrenzenden Bahnhof Jamlitz zu einer Art Umschlagsplatz von Juden um. Tausende kamen dort an und wurden brutal aus den Zügen herausgetrieben, Tausende durch schwerste von ständigen Quälereien, Hunger und Krankheiten erschöpfte Muselmänner warf man, nachdem die SS ihre letzten Arbeitskräfte aus ihnen herausgepresst hatte, in die Waggons der Reichsbahn, um sie in die Gaskammern von Birkenau zurückzubringen.
Als die Deportation der Juden nach dem von den Deutschen unterstützten Putsch der ungarischen Pfeilkreuzler wieder aufgenommen wurde, kamen die Züge direkt aus Budapest. In einem von ihnen befand sich auch Edgar Frischmann, der heute unter uns ist, und den ich ganz besonders herzlich begrüße. Er kletterte Anfang Dezember 1944 am Bahnhof von Oranienburg aus seinem Waggon und wurde anschließend unter den Augen der Bevölkerung zunächst in das Hauptlager getrieben. Von dort überstellte ihn die SS zur Zwangsarbeit in das Außenlager Heinkel. Auch in den Frauenlagern, die Sachsenhausen in immer größerer Zahl unterstanden, so bei Mercedes Benz in Genshagen, den Flugzeugmotorenwerken Argus in Reinickendorf, der Gasmaskenfabrik Auer in Oranienburg oder bei Siemens in Haselhorst, mussten Tausende ungarischer Jüdinnen unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten.
Da die Konzentrationslager-SS den Großteil ihrer Akten verbrannte, können wir nicht mehr genau sagen, wie viele ungarische Jüdinnen und Juden die Nationalsozialisten nach Sachsenhausen verschleppten und wie viele das Lager nicht überlebten. Es waren gewiss, so schätzen wir, über 10.000 Männer, Frauen und sogar Kinder. Die Namen von knapp 800 ungarischen Opfern sind in unserem Totenbuch verzeichnet. Eine viel größere Zahl wird immer ohne Namen und Identität bleiben. Ihnen allen, den bekannten und unbekannten Opfern aus der Gruppe der ungarischen Juden, wollen wir heute, am Tag der Opfer des Nationalsozialismus, besonders gedenken.
Ich danke vor allem Ihnen, sehr geehrter Herr Landtagspräsident, lieber Herr Fritsch, dafür, daß wir erneut gemeinsam mit allen Fraktionen des Brandenburgischen Landtages den Tag der Befreiung von Auschwitz hier in der Gedenkstätte Sachsenhausen begehen können. Ich begrüße zugleich alle Mitglieder des Landtages sowie des Deutschen Bundestages ebenso ganz herzlich wie die Mitglieder des Kreistages sowie der Stadtverordnetenversammlung. Ganz herzlich danke ich schon jetzt allen folgenden Rednern, Ihnen sehr geehrter Herr Botschafter ebenso wie dem Vertreter des Zentralrats der Juden im Stiftungsrat der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Stephan Kramer. Ich danke den Schülerinnen und Schülern des Oranienburger Runge-Gymnasiums für ihre Mitwirkung ebenso wie Herrn Glücksmann für die musikalische Begleitung und Herrn Kantor Scheffer. Mit großer Freude darf ich den ehemaligen Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin, den Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden György Konrad ganz besonders herzlich willkommen heißen. Sie, lieber Herr Konrad, haben für Sachsenhausen immer ein offenes Ohr und ein mitfühlendes Herz gehabt. Dass Sie trotz der Mühen des Winters und des Alters diese weite Reise von Budapest nach Oranienburg auf sich genommen haben, um zu uns zu sprechen, erfüllt uns mit großer Dankbarkeit Ihnen gegenüber.

Ich bitte nun seine Exzellenz Herrn Dr. Jósef Czukor um seine Ansprache.