Eröffnung des neuen Museums der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten im ehemaligen Direktorenhaus der Jusizvollzugsanstaltung Brandenburg Görden, 29. April 2019

Eröffnung des neuen Museums der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten im ehemaligen Direktorenhaus der Justizvollzugsanstalt Brandenburg-Görden mit dem Titel:

„Auf dem Görden. Die Strafanstalt Brandenburg im Nationalsozialismus und in der DDR“

  1. April 2018

Begrüssung

Prof. Dr. Günter Morsch

 

Sehr geehrte Überlebende und Angehörige von Gefangenen der Strafanstalt Brandenburg,

Sehr geehrter Herr von Schlieben-Droschke,

sehr geehrter Herr Drenger,

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Gutheil,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Scheller,

sehr geehrte Frau Deres,

Lieber Herr Holzschuher (MdL)]

Sehr geehrte Vertreter ausländischer Staaten,

liebe  Frau Dr. de Pasquale

 

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten darf ich Sie zunächst alle ganz herzlich zur Eröffnung unseres neuen Museums im ehemaligen Direktorenhaus der Strafanstalt Brandenburg-Görden begrüßen.

„Seid wachsam und wehret den Anfängen!“ Mit dieser Mahnung schloss Walter Hammer 1955 die Einleitung zu seinem in hoher Auflage weit verbreiteten Buch „Hohes Haus in Henkers Hand“ ab. Der ehemalige Gefangene  des Zuchthauses Brandenburg Görden, der zuvor mehrere Konzentrationslager, darunter auch Sachsenhausen, durchlitten hatte, hatte noch während seiner Gefängnishaft  damit begonnen, Dokumente und Akten zu sammeln, um sie nach der Befreiung vom Nationalsozialismus für den Aufbau eines Archivs und einer Gedenkstätte zu nutzen. Seinen Plan, in der ehemaligen Strafanstalt eine Gedenkstätte und ein Museum einzurichten, konnte er nicht mehr verwirklichen. Um seiner Verhaftung zu entgehen, musste der Publizist, Schriftsteller und Verleger 1950 aus der DDR fliehen. Etwa zur gleichen Zeit füllten sich die Zellen der Strafvollzugsanstalt Brandenburg erneut mit Gefangenen,  die, wie z. B. Angehörige der Zeugen Jehovas, als Gegner des kommunistischen Staates inhaftiert wurden.

Erst Mitte der siebziger Jahre richtete die DDR in den ehemaligen Hinrichtungsräumen des Zuchthauses eine kleine Gedenkstätte zur Erinnerung an, wie es hieß,  den „Widerstandskampf der antifaschistischen Häftlinge“ ein. Seitdem fanden an dem inmitten der Strafanstalt nur schwer zugänglichen historischen Ort regelmäßige Gedenkveranstaltungen statt. Dabei wurde vor allem der etwa 2.000 Opfer gedacht, die als politische Häftlinge zwischen 1940 und 1945 von der nationalsozialistischen Justiz verurteilt und durch Guillotine oder Strick grausam hingerichtet worden waren. 1970, zum 25. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des Zuchthauses Brandenburg, kam es zu einem kleinen, aber trotzdem bemerkenswerten Zwischenfall: Rudi Wunderlich, der für die Organisation der Gedenkveranstaltung verantwortliche wissenschaftliche Mitarbeiter des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer, hatte den bekannten DDR-Dissidenten Robert Havemann zur Gedenkfeier eingeladen. Wunderlich, selbst ein Überlebender des KZ Sachsenhausen, würdigte mit seiner Einladung weniger den bekanntesten DDR-Oppositionellen als den Gründer und Kämpfer der sozialistischen Widerstandsgruppe „Europäische Union“. Denn während seine Freunde und Kameraden, wie der Arzt Georg Großkurth, im Mai 1944 in der in Sichtweite Havemanns eingerichteten Garage hingerichtet wurden, hatte es der Chemiker verstanden, unter Vorwänden die Vollstreckung seines Todesurteils hinauszuzögern.  All das zählte aber nicht: Wunderlich wurde entlassen. Er starb 1988, ohne seine Rehabilitation erreicht zu haben.

Nach der friedlichen Revolution 1989/90, in deren Verlauf es auch zu einem Aufstand der Gefangenen in der DDR-Strafanstalt Görden kam, war der damaligen Landesregierung vor allem daran gelegen, in einer Art politischer Gegenreaktion die hochfliegenden Pläne Honeckers zum Bau einer neuen und riesigen Mahn- und Gedenkstätte Brandenburg auf dem Marienberg auf ein möglichst geringes Niveau zurückzuschneiden. Selbst die äußerst bescheidenen Vorschläge der von der Landesregierung eingesetzten Expertenkommission 1991 wurden noch unterschritten. Von einer Darstellung der Rolle der Strafanstalt bei der Verfolgung der politischen Opposition in der DDR war zur damaligen Zeit überhaupt keine Rede. Die 1993 gegründete Stiftung Brandenburgische Gedenkstätte hat diese hauptsächlich politisch begründeten Restriktionen für den zur Dokumentationsstelle herabgestuften historischen Ort  von Anfang an für falsch und überzogen erachtet. Sie suchte deshalb immer wieder nach geeigneten Räumen und Möglichkeiten in der Stadt Brandenburg, um außerhalb des Sicherheitsbereichs der Justizvollzugsanstalt die Geschichte dieses in beiden deutschen Diktaturen wichtigen und zentralen historischen Orts darstellen zu können.  Doch nur selten fanden wir die dafür notwendige Unterstützung von Regierung und Politik.  Umso mehr haben wir uns darüber gefreut, dass wir in der Stadt Brandenburg, u. a. durch Oberbürgermeisterin Sieglinde Tieman sowie  Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg sowie den Landtagsabgeordneten Ralf Holzschuher auf Verständnis und Hilfe stießen. Leider aber verhallten auch die eindrucksvollen Appelle der überlebenden Gefangenen, an ihrer Spitze der unermüdlich bis zu seinem Tod 2007 für ein neues Museum und eine neue Ausstellung werbende und  kämpfende jüdische Überlebende, Günter Nobel,  sowie der nicht weniger engagierte ehemalige tschechische Widerstandskämpfer Jaroslav Vrabec, beide Mitglieder des internationalen Beirats der Stiftung, nur allzu oft. Auch die verschiedenen Regierungen der Bundesrepublik Deutschland überhörten die Empfehlung der Bundestags-Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur“ sowie vieler Gutachter der Gedenkstättenkonzeption des Bundes die Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg-Görden  formell in die Liste der institutionell geförderten Einrichtungen aufzunehmen.

Ein Wendepunkt in der bis dahin eher deprimierenden Entwicklung unserer  in der „Wiege der Mark“ ansässigen Gedenkstätte  wurde 2002 mit der internationalen wissenschaftlichen Tagung unter dem Titel „Perspektiven für die Dokumentationsstelle Brandenburg“  in der hiesigen Justizschule erreicht. Zahlreiche Forscherinnen und Forscher arbeiteten in vergleichender Perspektive und mit wissenschaftlicher Akribie den besonderen, überregionalen und internationalen Rang und die Bedeutung der Stadt Brandenburg als Standort der ersten Gaskammer zum Massenmord an Tausenden von Kranken im sogenannten alten Zuchthaus einerseits sowie als Ort der politischen Repression in der ursprünglich als Reformanstalt gebauten Anlage auf dem Görden andererseits eindrucksvoll heraus. Von großer Bedeutung dafür war auch, dass mit den wissenschaftlichen Forschungen von Leonore Ansorg und Sylvia de Pasquale wichtige historische Grundlagen für eine Ausstellungskonzeption gelegt wurden. Dabei konnte über die bisherige Einschränkung auf die Bedeutung der Strafanstalt für die politische Verfolgung hinaus auch die herausgehobene Rolle des Zuchthauses bei den Verfolgungsmaßnahmen im Rahmen der kriminalbiologisch und rassenhygienisch begründeten nationalsozialistischen Vernichtungspolitik erforscht werden.

Den entscheidenden politischen Durchbruch allerdings brachte eine ministerielle Vereinbarung,  die unter der seit 2009 amtierenden neuen Landesregierung geschlossen wurde. Gerne nenne ich hier die Namen der drei entscheidenden Minister der Landesregierung,  zumal der damals heftig angefeindeten rot-roten Koalition – und natürlich auch mir persönlich als Direktor der Stiftung –  bis heute von Seiten einzelner Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft nicht selten, aber trotzdem  fälschlicherweise ein Vertuschen der DDR-Geschichte in der Strafanstalt Brandenburg-Görden  unterstellt wird. Es waren die Kulturministerin Prof. Sabine Kunst, der stellvertretende Ministerpräsident und Finanzminister Dr. Helmuth Markow sowie Justizminister Volkmar  Schöneburg, die der Stiftung das ehemalige, weitgehend original erhaltene  Direktorenhaus als künftiges Museum für die Geschichte der Strafanstalt Brandenburg-Görden im Nationalsozialismus ebenso wie in der DDR sowie die Finanzierung sowohl der nicht unaufwendigen Gebäudesanierung als auch der Ausstellung  in Aussicht stellten. Dem Versprechen der Landesregierung, zu dem diese auch in der darauf folgenden, neuen Legislaturperiode  allen personellen Veränderungen zum Trotz unverändert stand, schloss sich schließlich auch die Bundesregierung an. Ich möchte mich daher an erster Stelle bei der Landes- sowie der Bundesregierung dafür bedanken, dass die Stiftung dieses in den 25 Jahren seit ihrer Gründung lange Zeit vergeblich angestrebte Museums- und Gedenkstättenprojekt endlich realisieren konnte. Eine große Hilfe dabei war auch die Bereitschaft der Leiterin der Justizvollzugsanstalt Petra Wellnitz und ihrer Vollzugsbeamten, der Stiftung immer wieder helfend zur Seite zu springen und uns schließlich für die heutige Veranstaltung ihre Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.

Dabei erwies sich der Umbau des ehemaligen Wohnhauses des Anstaltsdirektors, anders als zunächst vermutet, als ein schwieriges Bauvorhaben. Ich danke dem Architektenbüro Uli Krieg sowie dem Brandenburgischen Landesbetrieb für Liegenschaften und Bauten für die gelungene Sanierung des denkmalgeschützten Gebäudes sowie die Errichtung eines kleinen Anbaus. Der Firma „Tatwerk“, die auf die häufig nicht einfach umzusetzenden Ideen und Vorstellungen von uns Historikern stets bereitwillig eingegangen ist,  danke ich für die sehr gelungene Gestaltung der Ausstellung. Den ehemaligen Gefangenen der Strafanstalt sowie ihren Angehörigen danke ich ganz herzlich für die Bereitstellung von Exponaten und anderen Materialien sowie ihre keineswegs selbstverständliche Mitarbeit im Rahmen von Zeitzeugeninterviews. Eine kleine Arbeitsgruppe, die wir aus dem internationalen Beirat sowie der Fachkommission der Gedenkstättenstiftung gebildet haben, hat dankenswerterweise die Erarbeitung der inhaltlichen Konzeption der Ausstellung durch Rat und Tat begleitet. Michael Viebig und Professor Dr. Nikolaus Wachsmann haben darüber hinaus an der endgültigen Abfassung der Ausstellungstexte mitgearbeitet.

Mein besonderer Dank aber gilt der Gedenkstättenleiterin Dr. Sylvia de Pasquale und ihrem relativ kleinen Team. Spätestens seit der erwähnten Konferenz im Jahre 2002 hat Frau de Pasquale – nicht zuletzt durch ihre (bei mir) geschriebene Dissertation zur Geschichte des Strafvollzugs in Brandenburg an der Havel 1920-1945 – unser gemeinsames Ziel, am authentischen Ort eine neue Gedenkstätte zu eröffnen, nie aus dem Auge verloren und beharrlich verfolgt. Obwohl sie seit ihrer Eröffnung 2012 auch unsere „Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde“  leitet, hat sie zur gleichen Zeit ganz maßgeblich an der Konzeption und Ausarbeitung der Ausstellung  auf dem Görden gearbeitet und auch die immer wieder von Rückschlägen betroffenen Baumaßnahmen  begleitet. Sylvia de Pasquale und ihrem Team gilt daher mein ganz besonderer Dank.

 

„Seid wachsam und wehret den Anfängen!“, wie oft ist uns dieser Satz von Walter Hammer schon über die Lippen gekommen. Er ist heute aktueller denn je. Mit einer Partei im deutschen Bundestag, in deren Anfragen an die Bundesregierung die eugenischen und rassehygenischen Vorbehalte gegen Behinderte und Ausländer, wenn auch in kruder, versteckter Form wieder postuliert werden, kann und darf es keine Kompromisse, geschweige denn Koalitionssondierungen geben.  Aber auch den erneut anwachsenden Vorurteilen gegenüber den demokratischen Prinzipien der Resozialisierung im Strafvollzug gilt es energisch zu widersprechen. Populäre Forderungen, wie z. B.  die Straftäter einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen, oder gar die Todesstrafe wieder einzuführen, haben mit den Prinzipien eines Rechtsstaates nichts zu tun. Dagegen will unsere Ausstellung zeigen, dass zum Herzstück der Demokratie die konsequente Bewahrung des Rechtsstaates gehört. Autoritäre und diktatorische Regime beginnen, wie gegenwärtige Beispiele in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern erneut beweisen, immer zuerst damit, rechtsstaatliche Prinzipien aufzuweichen, zu relativieren und sie schließlich  Stück für Stück sowie nach und nach abzuschaffen.  Unser neue Ausstellung, die die unvergleichlichen Verbrechen der NS-Justiz ebenso ausführlich behandelt wie das Unrecht des DDR-Strafvollzuges  soll, das wünschen wir uns, als ein beständiges und eindringliches Plädoyer für den Rechtsstaat als Herzstück jeglicher demokratischer Ordnung verstanden werden und nachhaltig in diesem Sinne  gerade auch auf junge Menschen wirken.

 

 

Neujahrsansprache 2. Februar 2018

NEUJAHRSEMPFANG DES ARBEITSKREISES DER BERLIN-BRANDENBURGISCHEN NS-GEDENKSTÄTTEN
AM 2. Februar 2018
GRUSSWORT
Prof. Dr. Günter Morsch

Sehr geehrte Frau Dr. Kaminsky,
Exzellenz,
sehr geehrter Herr Staatssekretär,
lieber Herr Eppelmann,
sehr geehrter Herr Sello,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, des Berliner Abgeordnetenhausen und des Brandenburgischen Landtages,
verehrte Mitglieder des diplomatischen Corps,
sehr geehrte Vertreter der Opferverbände und der religiösen Gemeinschaften,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Namen der Mitglieder des Arbeitskreises I der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg möchte ich mich zunächst ganz herzlich bei denjenigen bedanken, die nun zum dritten Mal diesen Neujahrsempfang ermöglicht und organisiert haben. Ich danke vor allem der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ganz herzlich dafür, dass wir nach unserem turnusmäßigen Ausflug zur „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Ihren Räumen wieder zu Gast sein dürfen. Ich freue mich, dass so viele Kolleginnen und Kollegen zusammen mit unseren Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kultur die Chance nutzen wollen, um im zwanglosen Rahmen miteinander hoffentlich nicht nur über die Geschichte beider Diktaturen und ihre Darstellung ins Gespräch zu kommen.

In den ersten Wochen des neuen Jahres haben die Gedenk- und Dokumentationsstätten zur Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen eine besondere und unerwartete Aufmerksamkeit in Politik und Medien erfahren. Anlass dafür gaben Äußerungen der Berliner „Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales“ Sawsan Chebli. Auf dem Hintergrund skandalöser Vorkommnisse in der Mitte Berlins, als im Rahmen einer Protestaktion gegen die Beschlüsse der amerikanischen Regierung zur Verlegung ihrer Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem israelische Fahnen verbrannt wurden, forderte sie, dass jeder, der in diesem Land lebt, verpflichtet wird, mindestens einmal in seinem Leben eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Obwohl die in Berlin geborene Tochter palästinensischer Flüchtlinge, die für ihren Kampf gegen Antisemitismus bekannt ist, ihre Anregung auf alle Teile der in Deutschland lebenden Bevölkerung ausgedehnte hatte, rückten schnell Migranten und Geflüchtete in den Fokus der Diskussion.

Grundsätzlich müssen wir Frau Chebli dafür dankbar sein, dass sie den Anstoß zu einer danach schon sehr bald intensiv geführten Debatte gab, die auf dem Hintergrund der Veranstaltungen zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus bis in bekannte Talk-shows-Formate des Deutschen Fernsehens hinein reichte. Einige von uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind in diesem Zusammenhang von Journalisten und Politikern nach unserer Meinung zu den Forderungen der Berliner Staatssekretärin befragt worden. Auch mich hat das große Medieninteresse gerade auch ausländischer Journalisten überrascht. Glaubten wir doch in den vergangenen Jahren uns schon des Öfteren mit der immer wieder von unterschiedlicher Seite aktualisierten Forderung nach verpflichtenden Gedenkstättenbesuchen auseinandergesetzt und dabei mehrheitlich eine sorgfältig erwogene und diskutierte, kritische Haltung dazu formuliert zu haben.

Nun ist nicht zu leugnen, dass es zahlreiche Anlässe gibt, um diese aufgeworfenen Fragen erneut zu diskutieren. Denn es scheinen, wie nicht nur vielfach Beobachtungen und Stimmungen, sondern auch repräsentative Umfragen bestätigen, antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen erneut zu wachsen. Die erschreckend hohe Anzahl von zumeist rechtsextremistisch motivierten Anschlägen auf Leben und Gesundheit von Geflüchteten und Asylbewerbern, fremdenfeindliche Demonstrationen wie Pegida und vor allem auch die Ergebnisse der letzten Bundestagswahlen geben, wie auch ich meine, allen Grund zur Besorgnis. Dass nun sogar im Deutschen Bundestag eine Partei fast einhundert Sitze einnimmt, aus deren Reihen offen und unverblümt die mühselig in vielen Jahrzehnten vorwiegend bürgerschaftlichen Kampfes errungene Erinnerungskultur in Deutschland in ihren Grundüberzeugungen in Zweifel gezogen und nationalistische, revisionistische sowie negationistische Forderungen nach einer Neubewertung der Geschichte des Nationalsozialismus erhoben werden, habe ich mir, wie ich zugeben muss, nicht mehr vorstellen können.

Auch wir müssen daher, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, manche scheinbare Gewissheiten der vergangenen Jahre erneut auf den Prüfstand stellen. Wir müssen die Rolle und Bedeutung der Gedenk- und Dokumentationsstätten im Kontext historisch-politischer Bildung auf dem Hintergrund gewandelter Einstellungen und politischer Bedingungen kritisch hinterfragen. Sicher können wir auch in der Zukunft nur ein Mosaikstein im Gesamtbild der Erziehung zu einem demokratischen Geschichtsbewusstsein sein. Trotzdem sollten wir uns selbstkritisch fragen, inwieweit in den genannten gesellschaftlichen und politischen Abirrungen auch ein partielles Scheitern unserer Bildungsarbeit zum Ausdruck kommt? Haben wir uns rechtzeitig auf neue Herausforderungen eingestellt? Erreichen wir mit unseren Veranstaltungen, Ausstellungen und pädagogischen Konzepten noch unser Zielpublikum? Auch wenn der enorme Zuwachs an Besucherinnen und Besuchern von NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten, der seit Jahren anhält, eine andere Sprache zu sprechen scheint, so wissen wir, wie auch die meisten anderen Bildungseinrichtungen, im Grunde wenig über die pädagogischen Effekte und die Nachhaltigkeit unserer Arbeit.

Immer wieder begegnen uns besorgte Fragen und Behauptungen, wonach es vor allem das Ende der Zeitzeugenschaft sei, das die Bedeutung der NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten in der gesellschaftlichen Debatte verändert. Das ist zweifellos nicht falsch, denn wir können die emphatischen und emotionalen Begegnungen mit den Überlebenden des NS-Terrors nicht ersetzen. Gerade deshalb aber haben die Gedenkstätten seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen grundsätzlichen Wandel von Orten in erster Linie des Gedenkens und Trauerns sowie emotionaler Betroffenheit und Erschütterung einerseits hin zu zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben andererseits in Gang gesetzt. Historisches Lernen, das sich unter Zuhilfenahme überkommener Relikte, Artefakte und Zeugnisse selbständig eine konkrete Vorstellung von Geschichte und ihrer Bedeutung für die Gegenwart erarbeitet, scheint uns nachhaltiger zu wirken als eine Didaktik, die die Lernenden zur Replikation eines vorab festgeschriebenen Lehrstoffs verpflichtet. Doch dafür brauchen unsere Pädagogen nicht nur Zeit und Freiräume, wir brauchen vor allem auch mehr Personal. Insoweit irritiert es mich schon, wenn bei der breit geführten Debatte über die Verbesserung historisch-politischer Bildung in den Gedenk- und Dokumentationsstätten die personellen und logistischen Voraussetzungen, die für eine nachhaltige Bildungsarbeit unverzichtbar sind, kaum mit reflektiert, sondern vielfach sogar schlicht ausgeblendet werden.

Das Forum für zeitgeschichtliche Bildung, das die beiden Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten im vergangenen Jahr zum vierzehnten Mal durchführten, ist zweifellos eine wichtige und unbedingt beizubehaltende Veranstaltung, auf der ein Teil der genannten selbstkritischen Fragen reflektiert werden kann. In der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen, die im vergangenen Jahr Gastgeber des Forums sein durfte, haben wir in kontinuierlicher Aufnahme der Kontroversen und Debatten über die richtigen Wege zur Vertiefung und Verbesserung historisch-politischer Bildung und in Zusammenarbeit mit Schulen und Schulverwaltungen versucht, verschiedene Methoden zu diskutieren, um die Brücke zwischen der Vergangenheit und der Lebenswelt der Jugendlichen immer wieder neu zu befestigen. Ich meine, dass wir diese Diskussionsplattformen, auf denen NS- und SED-Gedenkstätten zusammen mit Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sowie mit der Wissenschaft und den Einrichtungen der Kultur- und Bildungseinrichtungen exemplarische Projekte vorstellen und diskutieren, angesichts der genannten neuen Herausforderungen eher noch vertiefen, intensivieren und verstetigen sollten. Gerade in unserer dezentralen Gedenkstättenlandschaft kommt es darauf an, den kontinuierlichen Dialog zwischen allen Beteiligten zu organisieren.

Dabei sollten sich die NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten auch noch stärker als bisher bewusst und aktiv in die Debatten um die zukünftige Erinnerungspolitik einbringen. Wir dürfen den Parteien, den Medien und gesellschaftlichen Organisationen nicht den sich verschärfenden Diskurs um die Bedeutung historischer Bildung über den Nationalsozialismus überlassen. Viele Äußerungen aus diesen Bereichen belegen, wie wenig manchen Protagonisten der Erinnerungspolitik unsere tägliche Arbeit bekannt ist. Wenn wir nicht von vermeintlichen Sachzwängen oder Vorurteilen, bewussten Verfälschungen oder politischen Zielsetzungen und Instrumentalisierungen bestimmt werden wollen, dann müssen wir den Mut haben, uns auch öffentlich zu äußern, selbst wenn wir dadurch möglicherweise in schwierige Konflikte mit Mittelgebern und Entscheidungsträgern geraten. Denn anders als die meisten Museen befinden sich die Gedenkstätten an einer sensiblen Nahtstelle zwischen Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit einerseits sowie Aufgabenerfüllung und Alltag andererseits. Dieser eminente Bedeutungszuwachs ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels, wie er z. B. von Pierre Nora oder Hermann Lübbe schon in den achtziger Jahren beschrieben wurde. Er erreichte die NS-Gedenkstätten zwar erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, er hält seitdem aber an. Die NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten sind daher selbst politische Akteure, die sich bei gesellschaftlichen Debatten nicht verstecken dürfen.

Das Jahr 2018 und erst recht das darauf folgende Jahr 2019 ermöglichen uns, im Rückblick auf entscheidende historische Wegmarken der Jahre 1938 und 1939, als der Terror gegen politische, soziale und sogenannte rassische Feinde des NS-Regimes erheblich ausgeweitet und erste militärische Interventionen und Gewaltakte der geplanten Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch das „Dritte Reich“ den Weg bereiteten, das historische Bewusstsein für gegenwärtige innen- und außenpolitische Bedrohungen und Probleme zu schärfen. Zugleich können wir auf das weit verbreitete Versagen einer Weltgemeinschaft hinweisen, die die meisten vom Terror Betroffenen im Stich ließ und keine Hilfe leistete. Das Bewusstsein für den notwendigen und aus der Erfahrung der historischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges erwachsenen Zusammenhalt vor allem auch in Europa zu stärken, das ist nicht nur eine Aufgabe, sondern eine Chance für die NS-Gedenkstätten. Es gilt das in der Geschichte ihrer Orte eingeschlossene Potential zu entfalten, denn wir sind nicht allein deutsche Einrichtungen, sondern von europäischer und internationaler Bedeutung. Denn nicht nur die Geschichte Europas zwischen 1933 und 1945, sondern gerade auch die europäische Nachkriegsgeschichte ist an unseren historischen Orten eingeschrieben.

In seinem vor kurzem mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Roman „Die Hauptstadt“ schildert der österreichische Schriftsteller Robert Menasse das Scheitern eines auf die Gründungsgeschichte der Europäischen Union rekurrierenden Projekts. Um die allmählich sich auflösende Europa-Begeisterung zu stärken, plant die europäische Kommission anlässlich ihres fünfzigsten Gründungstages einen Festakt in Auschwitz. Dabei soll ein KZ-Überlebender noch einmal an das Vermächtnis und den Schwur der Häftlinge erinnern, den Frieden durch die europäische Einigung herzustellen und auf Dauer zu sichern. Das Vorhaben scheitert schließlich, weil den unterschiedlichen Repräsentanten der EU-Staaten die Verteilung der Quoten für Schweinefleisch wichtiger und präsenter ist als die Befestigung europäischer Einheit auf dem Hintergrund historischer Erfahrung. Dieser deprimierende Schluss des Romans, der m. E. weniger fiktional als realistisch ist, sollte uns Ansporn sein, um unseren kleinen, aber, wie ich meine, nicht unmaßgeblichen Teil dazu beizutragen, dass aus der Geschichte die richtigen Schlüsse gezogen werden.

Die Neujahrsempfänge der beiden Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten sind auch eine gute Gelegenheit, um allen unseren Mitstreiterinnen und Mitstreitern, um unseren Verbündeten in Politik und Verwaltung, in den Medien ebenso wie in den verschiedenen Bildungseinrichtungen, in den Opfer- und Interessenverbänden ebenso wie in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen den herzlichen Dank von allen Gedenkstätten und Dokumentationsorten auszusprechen. Wir wissen um ihre steten Anstrengungen und sind ihnen dankbar dafür. Wir ahnen oder kennen die Herausforderungen und Probleme, denen sie begegnen müssen, um unsere Interessen und Bedürfnisse zu vertreten. Umso dankbarer sind wir nicht nur für Ihre Unterstützung und Hilfe, sondern auch für Ihre Empathie und Sympathie, aus denen nicht selten Freundschaften entstanden sind. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns ein gutes und erfolgreiches Jahr 2018.