Neujahrsansprache 2. Februar 2018

NEUJAHRSEMPFANG DES ARBEITSKREISES DER BERLIN-BRANDENBURGISCHEN NS-GEDENKSTÄTTEN
AM 2. Februar 2018
GRUSSWORT
Prof. Dr. Günter Morsch

Sehr geehrte Frau Dr. Kaminsky,
Exzellenz,
sehr geehrter Herr Staatssekretär,
lieber Herr Eppelmann,
sehr geehrter Herr Sello,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, des Berliner Abgeordnetenhausen und des Brandenburgischen Landtages,
verehrte Mitglieder des diplomatischen Corps,
sehr geehrte Vertreter der Opferverbände und der religiösen Gemeinschaften,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Namen der Mitglieder des Arbeitskreises I der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg möchte ich mich zunächst ganz herzlich bei denjenigen bedanken, die nun zum dritten Mal diesen Neujahrsempfang ermöglicht und organisiert haben. Ich danke vor allem der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ganz herzlich dafür, dass wir nach unserem turnusmäßigen Ausflug zur „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Ihren Räumen wieder zu Gast sein dürfen. Ich freue mich, dass so viele Kolleginnen und Kollegen zusammen mit unseren Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kultur die Chance nutzen wollen, um im zwanglosen Rahmen miteinander hoffentlich nicht nur über die Geschichte beider Diktaturen und ihre Darstellung ins Gespräch zu kommen.

In den ersten Wochen des neuen Jahres haben die Gedenk- und Dokumentationsstätten zur Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen eine besondere und unerwartete Aufmerksamkeit in Politik und Medien erfahren. Anlass dafür gaben Äußerungen der Berliner „Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales“ Sawsan Chebli. Auf dem Hintergrund skandalöser Vorkommnisse in der Mitte Berlins, als im Rahmen einer Protestaktion gegen die Beschlüsse der amerikanischen Regierung zur Verlegung ihrer Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem israelische Fahnen verbrannt wurden, forderte sie, dass jeder, der in diesem Land lebt, verpflichtet wird, mindestens einmal in seinem Leben eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Obwohl die in Berlin geborene Tochter palästinensischer Flüchtlinge, die für ihren Kampf gegen Antisemitismus bekannt ist, ihre Anregung auf alle Teile der in Deutschland lebenden Bevölkerung ausgedehnte hatte, rückten schnell Migranten und Geflüchtete in den Fokus der Diskussion.

Grundsätzlich müssen wir Frau Chebli dafür dankbar sein, dass sie den Anstoß zu einer danach schon sehr bald intensiv geführten Debatte gab, die auf dem Hintergrund der Veranstaltungen zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus bis in bekannte Talk-shows-Formate des Deutschen Fernsehens hinein reichte. Einige von uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind in diesem Zusammenhang von Journalisten und Politikern nach unserer Meinung zu den Forderungen der Berliner Staatssekretärin befragt worden. Auch mich hat das große Medieninteresse gerade auch ausländischer Journalisten überrascht. Glaubten wir doch in den vergangenen Jahren uns schon des Öfteren mit der immer wieder von unterschiedlicher Seite aktualisierten Forderung nach verpflichtenden Gedenkstättenbesuchen auseinandergesetzt und dabei mehrheitlich eine sorgfältig erwogene und diskutierte, kritische Haltung dazu formuliert zu haben.

Nun ist nicht zu leugnen, dass es zahlreiche Anlässe gibt, um diese aufgeworfenen Fragen erneut zu diskutieren. Denn es scheinen, wie nicht nur vielfach Beobachtungen und Stimmungen, sondern auch repräsentative Umfragen bestätigen, antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen erneut zu wachsen. Die erschreckend hohe Anzahl von zumeist rechtsextremistisch motivierten Anschlägen auf Leben und Gesundheit von Geflüchteten und Asylbewerbern, fremdenfeindliche Demonstrationen wie Pegida und vor allem auch die Ergebnisse der letzten Bundestagswahlen geben, wie auch ich meine, allen Grund zur Besorgnis. Dass nun sogar im Deutschen Bundestag eine Partei fast einhundert Sitze einnimmt, aus deren Reihen offen und unverblümt die mühselig in vielen Jahrzehnten vorwiegend bürgerschaftlichen Kampfes errungene Erinnerungskultur in Deutschland in ihren Grundüberzeugungen in Zweifel gezogen und nationalistische, revisionistische sowie negationistische Forderungen nach einer Neubewertung der Geschichte des Nationalsozialismus erhoben werden, habe ich mir, wie ich zugeben muss, nicht mehr vorstellen können.

Auch wir müssen daher, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, manche scheinbare Gewissheiten der vergangenen Jahre erneut auf den Prüfstand stellen. Wir müssen die Rolle und Bedeutung der Gedenk- und Dokumentationsstätten im Kontext historisch-politischer Bildung auf dem Hintergrund gewandelter Einstellungen und politischer Bedingungen kritisch hinterfragen. Sicher können wir auch in der Zukunft nur ein Mosaikstein im Gesamtbild der Erziehung zu einem demokratischen Geschichtsbewusstsein sein. Trotzdem sollten wir uns selbstkritisch fragen, inwieweit in den genannten gesellschaftlichen und politischen Abirrungen auch ein partielles Scheitern unserer Bildungsarbeit zum Ausdruck kommt? Haben wir uns rechtzeitig auf neue Herausforderungen eingestellt? Erreichen wir mit unseren Veranstaltungen, Ausstellungen und pädagogischen Konzepten noch unser Zielpublikum? Auch wenn der enorme Zuwachs an Besucherinnen und Besuchern von NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten, der seit Jahren anhält, eine andere Sprache zu sprechen scheint, so wissen wir, wie auch die meisten anderen Bildungseinrichtungen, im Grunde wenig über die pädagogischen Effekte und die Nachhaltigkeit unserer Arbeit.

Immer wieder begegnen uns besorgte Fragen und Behauptungen, wonach es vor allem das Ende der Zeitzeugenschaft sei, das die Bedeutung der NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten in der gesellschaftlichen Debatte verändert. Das ist zweifellos nicht falsch, denn wir können die emphatischen und emotionalen Begegnungen mit den Überlebenden des NS-Terrors nicht ersetzen. Gerade deshalb aber haben die Gedenkstätten seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen grundsätzlichen Wandel von Orten in erster Linie des Gedenkens und Trauerns sowie emotionaler Betroffenheit und Erschütterung einerseits hin zu zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben andererseits in Gang gesetzt. Historisches Lernen, das sich unter Zuhilfenahme überkommener Relikte, Artefakte und Zeugnisse selbständig eine konkrete Vorstellung von Geschichte und ihrer Bedeutung für die Gegenwart erarbeitet, scheint uns nachhaltiger zu wirken als eine Didaktik, die die Lernenden zur Replikation eines vorab festgeschriebenen Lehrstoffs verpflichtet. Doch dafür brauchen unsere Pädagogen nicht nur Zeit und Freiräume, wir brauchen vor allem auch mehr Personal. Insoweit irritiert es mich schon, wenn bei der breit geführten Debatte über die Verbesserung historisch-politischer Bildung in den Gedenk- und Dokumentationsstätten die personellen und logistischen Voraussetzungen, die für eine nachhaltige Bildungsarbeit unverzichtbar sind, kaum mit reflektiert, sondern vielfach sogar schlicht ausgeblendet werden.

Das Forum für zeitgeschichtliche Bildung, das die beiden Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten im vergangenen Jahr zum vierzehnten Mal durchführten, ist zweifellos eine wichtige und unbedingt beizubehaltende Veranstaltung, auf der ein Teil der genannten selbstkritischen Fragen reflektiert werden kann. In der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen, die im vergangenen Jahr Gastgeber des Forums sein durfte, haben wir in kontinuierlicher Aufnahme der Kontroversen und Debatten über die richtigen Wege zur Vertiefung und Verbesserung historisch-politischer Bildung und in Zusammenarbeit mit Schulen und Schulverwaltungen versucht, verschiedene Methoden zu diskutieren, um die Brücke zwischen der Vergangenheit und der Lebenswelt der Jugendlichen immer wieder neu zu befestigen. Ich meine, dass wir diese Diskussionsplattformen, auf denen NS- und SED-Gedenkstätten zusammen mit Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sowie mit der Wissenschaft und den Einrichtungen der Kultur- und Bildungseinrichtungen exemplarische Projekte vorstellen und diskutieren, angesichts der genannten neuen Herausforderungen eher noch vertiefen, intensivieren und verstetigen sollten. Gerade in unserer dezentralen Gedenkstättenlandschaft kommt es darauf an, den kontinuierlichen Dialog zwischen allen Beteiligten zu organisieren.

Dabei sollten sich die NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten auch noch stärker als bisher bewusst und aktiv in die Debatten um die zukünftige Erinnerungspolitik einbringen. Wir dürfen den Parteien, den Medien und gesellschaftlichen Organisationen nicht den sich verschärfenden Diskurs um die Bedeutung historischer Bildung über den Nationalsozialismus überlassen. Viele Äußerungen aus diesen Bereichen belegen, wie wenig manchen Protagonisten der Erinnerungspolitik unsere tägliche Arbeit bekannt ist. Wenn wir nicht von vermeintlichen Sachzwängen oder Vorurteilen, bewussten Verfälschungen oder politischen Zielsetzungen und Instrumentalisierungen bestimmt werden wollen, dann müssen wir den Mut haben, uns auch öffentlich zu äußern, selbst wenn wir dadurch möglicherweise in schwierige Konflikte mit Mittelgebern und Entscheidungsträgern geraten. Denn anders als die meisten Museen befinden sich die Gedenkstätten an einer sensiblen Nahtstelle zwischen Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit einerseits sowie Aufgabenerfüllung und Alltag andererseits. Dieser eminente Bedeutungszuwachs ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels, wie er z. B. von Pierre Nora oder Hermann Lübbe schon in den achtziger Jahren beschrieben wurde. Er erreichte die NS-Gedenkstätten zwar erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, er hält seitdem aber an. Die NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten sind daher selbst politische Akteure, die sich bei gesellschaftlichen Debatten nicht verstecken dürfen.

Das Jahr 2018 und erst recht das darauf folgende Jahr 2019 ermöglichen uns, im Rückblick auf entscheidende historische Wegmarken der Jahre 1938 und 1939, als der Terror gegen politische, soziale und sogenannte rassische Feinde des NS-Regimes erheblich ausgeweitet und erste militärische Interventionen und Gewaltakte der geplanten Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch das „Dritte Reich“ den Weg bereiteten, das historische Bewusstsein für gegenwärtige innen- und außenpolitische Bedrohungen und Probleme zu schärfen. Zugleich können wir auf das weit verbreitete Versagen einer Weltgemeinschaft hinweisen, die die meisten vom Terror Betroffenen im Stich ließ und keine Hilfe leistete. Das Bewusstsein für den notwendigen und aus der Erfahrung der historischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges erwachsenen Zusammenhalt vor allem auch in Europa zu stärken, das ist nicht nur eine Aufgabe, sondern eine Chance für die NS-Gedenkstätten. Es gilt das in der Geschichte ihrer Orte eingeschlossene Potential zu entfalten, denn wir sind nicht allein deutsche Einrichtungen, sondern von europäischer und internationaler Bedeutung. Denn nicht nur die Geschichte Europas zwischen 1933 und 1945, sondern gerade auch die europäische Nachkriegsgeschichte ist an unseren historischen Orten eingeschrieben.

In seinem vor kurzem mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Roman „Die Hauptstadt“ schildert der österreichische Schriftsteller Robert Menasse das Scheitern eines auf die Gründungsgeschichte der Europäischen Union rekurrierenden Projekts. Um die allmählich sich auflösende Europa-Begeisterung zu stärken, plant die europäische Kommission anlässlich ihres fünfzigsten Gründungstages einen Festakt in Auschwitz. Dabei soll ein KZ-Überlebender noch einmal an das Vermächtnis und den Schwur der Häftlinge erinnern, den Frieden durch die europäische Einigung herzustellen und auf Dauer zu sichern. Das Vorhaben scheitert schließlich, weil den unterschiedlichen Repräsentanten der EU-Staaten die Verteilung der Quoten für Schweinefleisch wichtiger und präsenter ist als die Befestigung europäischer Einheit auf dem Hintergrund historischer Erfahrung. Dieser deprimierende Schluss des Romans, der m. E. weniger fiktional als realistisch ist, sollte uns Ansporn sein, um unseren kleinen, aber, wie ich meine, nicht unmaßgeblichen Teil dazu beizutragen, dass aus der Geschichte die richtigen Schlüsse gezogen werden.

Die Neujahrsempfänge der beiden Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten sind auch eine gute Gelegenheit, um allen unseren Mitstreiterinnen und Mitstreitern, um unseren Verbündeten in Politik und Verwaltung, in den Medien ebenso wie in den verschiedenen Bildungseinrichtungen, in den Opfer- und Interessenverbänden ebenso wie in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen den herzlichen Dank von allen Gedenkstätten und Dokumentationsorten auszusprechen. Wir wissen um ihre steten Anstrengungen und sind ihnen dankbar dafür. Wir ahnen oder kennen die Herausforderungen und Probleme, denen sie begegnen müssen, um unsere Interessen und Bedürfnisse zu vertreten. Umso dankbarer sind wir nicht nur für Ihre Unterstützung und Hilfe, sondern auch für Ihre Empathie und Sympathie, aus denen nicht selten Freundschaften entstanden sind. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns ein gutes und erfolgreiches Jahr 2018.

Laudatio Reinhard Strecker 28. September 2017 im Auswärtigen Amt

Veranstaltung aus Anlass des 75. Jahrestages des „Generalplans Ost“ im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland am 28. September 2017
Laudatio zu Ehren von Herrn Reinhard Strecker
Günter Morsch
Sehr geehrter Herr Staatsminister Roth,
sehr geehrter, lieber Herr Strecker,
sehr geehrte Frau Strecker,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen und vor allem auch liebe Angehörige, Freundinnen und Freunde von Reinhard Strecker,
[Dank an AA]
Die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen sowie die Stiftung Topographie des Terrors haben gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland die heutige Veranstaltung aus Anlass des 75. Jahrestages des „Generalplan Ost“ organisiert und ausgerichtet. Ich danke zunächst Dr. Peter Jahn ganz herzlich für seinen wissenschaftlichen Vortrag, in dem er die Entstehung und Bedeutung dieses wichtigen und in der breiten Öffentlichkeit leider noch immer viel zu wenig bekannten „Drehbuchs des Vernichtungskrieges“ herausgearbeitet hat. Mit der heutigen Veranstaltung wollen wir aber auch Reinhard Strecker für seine zahlreichen Verdienste um die Erinnerungskultur in Deutschland und in Europa ehren. Die Idee, beide Anlässe miteinander zu verbinden, verdanken wir Matthias Burchard. Der an der Berliner Humboldtuniversität ausgebildete Diplomlandwirt hat mit seinem von ihm gegründeten „Verein zur Völkerverständigung mit Mittel-, Süd- und Osteuropa“ viel dazu beigetragen hat, dass dieser gigantische, von namhaften Wissenschaftlern ausgedachte und ausgearbeitete Genozid nicht in Vergessenheit gerät. Leider kann Herr Burchard aufgrund einer schweren Erkrankung heute nicht bei uns sein.
Wer jedoch das vielfältige Lebenswerk von Reinhard Stecker kennt, dem wird die Verbindung beider Anlässe sofort einleuchten. Denn im Wissen um die zahllosen Verbrechen des NS-Regimes an den aus rassistischen Gründen für minderwertig erachteten Slawen baute Strecker schon spätestens seit dem Ende der fünfziger Jahren zahlreiche Brücken der Verständigung und der menschlichen Beziehungen vor allem in Polen und in der Tschecheslowakei auf. So war es ihm auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gelungen, als Westdeutscher und West-Berliner über die Militärmission der Volksrepublik Polen in Deutschland Kontakt zu Professor Jerzy Sawicki aufzunehmen. Der damalige Generalstaatsanwalt und Chefankläger für alle polnischen NS-Verfahren leitete zugleich die Hauptkommission zur Ermittlung von NS-Verbrechen. Diese sammelte zehntausende von Dokumenten und anderen Unterlagen, die den seit dem 1. September 1939 geführten Vernichtungskrieg Deutschlands gegen das östliche Nachbarland dokumentieren. Hier und auch in anderen mittel- und osteuropäischen Archiven fand der hartnäckige und akribische Forscher viele der Beweise und Belege für die Verbrechen des NS-Regimes, die ihm die bundesdeutschen Archive und Institutionen über lange Jahre beharrlich verweigerten.
Weitere Verdienste um die Beziehungen zu den Staaten hinter dem Eisernen Vorhang erwarb sich Strecker als Mitinitiator der bis heute tätigen deutsch-polnischen Schulbuchkommission. Aus Vorträgen, die Strecker an der Evangelischen Akademie hielt, entstand ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Polen – ein Schauermärchen oder Gehirnwäsche für Generationen“. Darin wiesen die Autoren nach, dass in deutschen Schulbüchern nach wie vor das durch die rechtsradikale Propaganda von Vertriebenenverbänden bestimmte, verzerrte Polen-Bild des „Dritten Reiches“ weiter unter den Kindern und Jugendlichen verbreitet wurde. Zahlreiche Kontakte unterhalb der Regierungsebene zu polnischen Kollegen und Freunden ergaben sich daraus. Auch ein Einreiseverbot nach Polen, das in der Stimmung der damaligen Jahre gegen den vermeintlichen „zionistischen Agenten“ erlassen worden war, hielt den Mitbegründer der im Sozialistischen Studentenbund (SDS) 1959 an der Freien Universität Berlin entstandenen Deutsch-israelischen Studiengruppe nicht davon ab, dieser Kommission über viele Jahr treu zu bleiben und seine Arbeit der Völkerverständigung fortzusetzen.
In der Absicht, das für manche von Ihnen nicht sich selbst erklärende Konzept unserer Veranstaltung zu begründen, bin ich natürlich sowohl in der Biographie von Reinhard Strecker als auch, was die Entwicklung seiner vielfältigen Initiativen und Aktionen anbetrifft, zumindest chronologisch etwas vorausgeeilt. Doch obwohl es im Rahmen meiner Laudatio weder möglich noch sinnvoll ist, einen auch nur annäherungsweise vollständigen Überblick zu geben, will ich einige Stationen seines Lebensweges skizzieren: Der 1930 geborene Berliner stammt aus einer Juristenfamilie, was sicherlich zum Teil sein persönliches Interesse am Verhalten und der Einstellung der Richter und Staatsanwälte im „Dritten Reich“ erklärt. Darüber hinaus gehörte sein Vater zur Bekennenden Kirche und lehnte die Nationalsozialisten ab. Trotzdem trat Reinhard Strecker nicht in die Fußstapfen seines Großvaters und Vaters, sondern verließ schon bald nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und einer aufgrund der materiellen Entbehrungen schwierigen Übergangszeit Deutschland, um im Ausland, zuerst in Italien und danach in Frankreich, in Distanz zu dem nach wie vor im Schatten nationalsozialistischer Vergangenheit wieder aufgebauten Deutschland frei zu leben. „Es war eine sehr gute Zeit“, wie Reinhard Strecker in einem Interview sein Leben in Paris schilderte, „Die deutsche Angst war weg“ – die Furcht vor der nie vorhersehbaren Willkür.
Doch schon 1954 kehrte der damals 24 Jahre alte, nicht zuletzt vom französischen savoire vivre beeindruckte und überzeugte Europäer auf Wunsch seiner Eltern in ein Deutschland zurück, wo inzwischen unter Bundeskanzler Adenauer die alten Eliten immer unbefangener an die Schalthebel der Macht, in der Wirtschaft, im Staat und in der Gesellschaft, zurück gerufen wurden. Von Niedersachsen führte ihn sein Weg schon bald in seine Geburtsstadt, wo er an der gerade erst gegründeten Freien Universität das Studium der Judaistik begann. Inwieweit bei der Wahl des Studienfachs auch die Geschichte seiner Familie eine Rolle spielte, in der es auch berühmte jüdische Vorfahren gegeben hatte, darüber kann nur er selbst Auskunft geben. Jedenfalls war sich Strecker viel stärker als das bei der Mehrzahl seiner damaligen Kommilitonen der Fall war, der ungeheuren Dimensionen und der Singularität der Schoah, des Holocaust, des Völkermords an den Juden unter den zahlreichen Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten bewusst. Bis heute empfindet er deshalb mit Israel eine tiefe Verbundenheit. Das ist dann auch die Zeit, in der der junge Student begann, umfangreiches Material gegen bekannte NS-Verbrecher, die wieder in ihre alten Positionen und Stellungen eingerückt waren, zu suchen, auf eigene Kosten zu kopieren und zusammen zu tragen. Das führte zu einer hohen Verschuldung von Strecker, die er über Jahrzehnte zurückzahlen musste.
Im Jahr 1959 bündeln sich schließlich unterschiedliche von ihm initiierte, organisierte oder mit getragene Initiativen, die alle die Skandalisierung dieser unheilvollen personellen und strukturellen Kontinuitäten in der Bundesrepublik zum Ziel hatten. In zwei auf Initiative u. a. von Reinhard Strecker vom Konvent der FU Berlin beantragten Petitionen an den deutschen Bundestag verlangten mehr als 10.000 Studentinnen und Studenten die Überprüfung von NS-belasteten Juristen und Medizinern. In Frankfurt veranstaltete der SDS im Mai des Jahres einen Kongress „Für Demokratie – gegen Militarismus und Restauration“. Erstmals konnte er dort einen Teil seines von ihm und weiteren ca. 30 Studenten gesammelten Aktenmaterials ausbreiten. Schließlich gelang es ihm, die in jahrelanger intensiver und kostspieliger Vorarbeit zusammengetragenen und aufbereiteten in über 100 Heftern akribisch verzeichneten Personendokumente , die die Justizverbrechen zahlreicher ehemaliger NS-Richter, – Staatsanwälte und Justizbeamten zweifelsfrei bewiesen, in einer im November des Jahres eröffneten Ausstellung zu präsentieren. Die Stadt, in der die später an vielen in- und ausländischen Standorten gezeigte und bis heute bekannte Ausstellung mit dem Titel „ungesühnte Nazijustiz und NS-Medizin“ erstmals präsentiert wurde, war gezielt ausgewählt worden. In Karlsruhe befanden sich die beiden höchsten bundesdeutschen Gerichte, das Bundesverfassungsgericht sowie der Bundesgerichtshof. Allerdings musste die Ausstellung schon bald auf den Protest von Bonner Politikern hin von der Stadthalle in ein kleines Lokal mit dem Namen „Krokodil“, einem Treffpunkt Karlsruher Journalisten, verlegt werden, wo sie nur zeitweise gezeigt werden konnte. Zum großen Erfolg der Ausstellung trug sicherlich auch bei, dass nach der Eröffnung in der Stadthalle eine große, mehrere Stunden dauernde Pressekonferenz stattfand, an der auch Journalisten überregionaler Medien in großer Zahl teilnahmen. Mehrere, überwiegend positive Rezensionen der Ausstellung erschienen daraufhin bundesweit. Positiv sieht Strecker heute noch die Rolle, die seinerzeit Generalbundesanwalt Max Güde dabei einnahm. Güde, der 1933 gegen die Verhaftung und Ermordung eines sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten intern protestiert hatte, empfing den SDS-Aktivisten in seinen Karlsruher Amtsräumen und äußerte sich kritisch über die Durchsetzung der bundesdeutschen Justiz mit belasteten NS-Verbrechern.
Dass die von Strecker, dem SDS und anderen bewusst inszenierten Skandale zündeten und zu heftigen Gegenreaktionen bis hin zu persönlichen Angriffen führten, kann man nur verstehen auf dem Hintergrund der sich Ende der fünfziger Jahre immer deutlicher zeigenden Risse im Verschweigekartell des Adenauer-Staates. Denn im Rahmen des immer heftiger und schärfer tobenden Kalten Krieges entfachte die DDR eine Kampagne gegen die aus ihrer Sicht faschistoide Bundesrepublik, um die eigene Bevölkerung von der Massenflucht aus der kommunistischen Diktatur abzuhalten. Unter dem Druck der größtenteils unwiderlegbaren Dokumente über die Verstrickungen bundesdeutscher Eliten in die Verbrechen des „Dritten Reiches“, die auch von den westlichen Bündnispartnern in der NATO aufgegriffen wurden, begann die bundesdeutsche Justiz langsam wieder damit, Strafverfahren gegen NS-Täter vorzubereiten.
Der erste größere Prozess gegen SS-Mörder aus dem KZ Sachsenhausen fand 1958 in Bonn statt und erregte vergleichsweise große Aufmerksamkeit in den Medien und der Öffentlichkeit. Der etwa zur gleichen Zeit durchgeführte Ulmer Einsatzgruppenprozess gab schließlich den Anstoß zur Bildung der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Während einflussreiche Regierungspolitiker und Juristen eiligst an neuen Gesetzen zur Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen in den Hinterzimmern der Parlamente und Behörden arbeiteten, protestierten Neonazis auf ihre Weise gegen die ganz langsam sich entwickelnde „Wiederentdeckung“ der nazistischen Vergangenheit. Es kam zu hunderten von Anschlägen und Propagandadelikten, darunter auch auf die neu errichteten Synagogen in Köln, in Bonn und auch in Wien.
In dieser von heftigen politischen Debatten und Hasskampagnen geschaffenen, von Angst vor der Aufklärung und berechtigter Sorge vor einer Restauration nazistischer Gewalt geprägten, nervösen und konfrontativen Stimmung erreichte die Ausstellung „ungesühnte Nazijustiz“ eine in Medien und Öffentlichkeit bis dahin kaum zu erwartende Aufmerksamkeit. Strecker und seine Mitstreiter ließen dem unerwarteten Erfolg der Ausstellung im In- und Ausland schon bald Strafanzeigen gegen namentlich bekannte Nazijuristen folgen. In einer weiteren Publikation legte er Dokumente über den zur Symbolfigur personeller Kontinuität zwischen NS-Diktatur und Bundesrepublik stilisierten Chef des Kanzleramtes und Verfasser des maßgeblichen Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 Hans Globke vor. Die heftigen Gegenreaktionen aus Politik und Gesellschaft waren allerdings so stark, dass Strecker seine Kinder in das benachbarte Ausland bringen musste, um sie vor angedrohten Angriffen zu schützen.
Mit dem im bundesdeutschen Fernsehen teilweise übertragenen Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und dem von Fritz Bauer initiierten Auschwitz-Prozess begann sich die auf Abwehr, Unschuld und Verschweigen orientierte dominante Stimmung und Einstellung in einem kleinen Teil der Bevölkerung, vornehmlich in der jüngeren Generation, zu ändern. Zugleich wehrte sich nach wie vor die große Mehrheit des, wie es damals hieß, „Establishments“ gegen jegliche Formen der Aufarbeitung und Darstellung der nationalsozialistischen Verbrechen. In dieser gesellschaftlichen und kulturellen Krise der Vergangenheitspolitik der sechziger Jahre war es die sogenannte Studentenrevolte von 1968 die die Waagschale allmählich zugunsten der kritischen Aufarbeitung hinsinken ließ.
Reinhard Strecker hat jedoch die in dieser Zeit sich im akademischen Milieu ausbreitende vorwiegend marxistische Gesellschaftskritik, die, einem Diktum von Max Horkheimer folgend, über den Faschismus nur im Zusammenhang mit der Analyse kapitalistischer Strukturen reden wollte, zurecht nicht als Fortsetzung seiner eigenen Aufklärungsarbeit verstanden. „Mir ist allerdings zunächst wichtig zu betonen“, so führte er in einem Interview aus, „dass ich mit ‚1968‘ nichts zu tun habe, sondern mich eher als ‚58er‘ bezeichnen möchte. Vor allem habe ich den 68ern immer diese Banalisierung der NS-Vergangenheit übel genommen, die Gleichsetzung der Zustände vor ‚45 und nach ‚45.“ Tatsächlich standen im Vordergrund der Thematisierung des deutschen Faschismus durch die studentische und akademische Linke, wie der Nationalsozialismus damals bezeichnenderweise hieß, weniger die Opfer der Massenverbrechen als die vermeintlich entdeckten strukturellen Kontinuitäten. Die Verharmlosung des NS-Regimes erreichte ihren stärksten Ausdruck mit der Gleichsetzung des Vietnam-Krieges und der nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzüge. Trotzdem animierten die heute kaum noch verständlichen, reichlich abgehobenen akademischen Debatten z. B. über das Primat der Politik oder das Primat der Ökonomie im „Dritten Reich“ zweifellos auch eine wachsende Minderheit von jungen Menschen nicht nur in den Universitäten, sondern auch in Schulen und in Betrieben sowie vor allem auch in den Familien dazu, nach den nationalsozialistischen Wurzeln in ihrem Lebensalltag zu graben und zu forschen.
Gerade in dieser von Strecker selbst scharf formulierten Abgrenzung zwischen den 58igern und den 68igern werden Hauptmotive seiner auch in den darauf folgenden Jahrzehnten unermüdlichen Aufklärungsarbeit deutlich: ihm geht es vor allem um die Opfer des NS-Regimes, die über lange Jahre keine Gerechtigkeit erfahren haben, wohingegen die Täter fast ausnahmslos weder Reue empfanden noch für ihre Taten bestraft wurden. Tief gehende Empathie mit den Opfern und andauernde Empörung über den Skandal des Verschweigens und des Verharmlosens das – so scheint es mir – sind bis heute wichtige Motive seines Handelns und seiner Überzeugungen. Dafür ist es bezeichnend, dass er über viele Jahre als Referent des Goethe-Instituts die ausländischen Journalisten und Multiplikatoren immer wieder an die historischen Orte der NS-Verbrechen, so auch in die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen, führte. Er hat sich in dieser Zeit andauernder und intensiver Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen ein enzyklopädisches Wissen angeeignet, das immer wieder Staunen auslöst. Referenten, die wie ich häufig auf Veranstaltungen vortragen, kennen ihn als engagierten Diskussionsteilnehmer, dessen fundierte Beiträge – Fragen sind es weniger – immer auch die Sorge aufkommen lassen, bei Wissenslücken ertappt zu werden. Schließlich ist er auch ein unersetzbarer Zeitzeuge, der die Geschichtsschreibung über die Entwicklung der Vergangenheitspolitik und der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik und in der DDR mit seinem großen, m. E. nach wie vor unausgeschöpften Erfahrungsschatz nicht nur bereichert, sondern auf hohem Niveau reflektiert und kommentiert.

Die meisten von Ihnen, sehr geehrte Gäste, kennen inzwischen die etwas peinliche Situation, wenn Ausländer die heutige Erinnerungskultur in Deutschland loben und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätten ihre große Anerkennung aussprechen. Gelegentlich kann man inzwischen bereits von einer Art Aufarbeitungsstolz sprechen, der sich in bestimmten Kreisen vor allem der Regierungspolitik äußert. Dabei wird häufig vergessen, wie hart, mühselig, frustrierend, aufreibend und langwierig, der von vielen Skandalen und Rückschlägen geprägte Kampf um die Erinnerung über mehr als fünf Jahrzehnte in der Bundesrepublik war. Nicht wenige Engagierte sind wahrscheinlich daran zerbrochen oder haben große private Opfer gebracht. Letzteres gilt gerade auch für Reinhard Strecker. Besondere Bitternis bereiten daher dann neuere wissenschaftliche Studien, in denen behauptet wird, die wenigen Pioniere der Aufarbeitung der NS-Verbrechen hätten sich nicht ernsthaft mit den Tätern auseinandergesetzt, sondern lediglich die bequeme Identifikation mit den Opfern angestrebt. Dieser lange und harte Kampf um die Erinnerung droht über dem Lob vergessen zu werden. Man vergegenwärtige sich nur, dass die von Strecker schon Ende der fünfziger Jahre erhobene Forderung nach einer Überprüfung der personellen Kontinuitäten zwischen NS-Regime und Bundesrepublik erst mehr als fünfzig Jahre später erfolgt. Die inzwischen von nahezu allen Ministerien und staatlichen Einrichtungen in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Forschungen zur Frühgeschichte ihrer Einrichtungen in der Bundesrepublik, wohl erstmals auf Anregung des damaligen Außenministers Fischer für das Auswärtige Amt entstanden, kommen bezeichnenderweise zu einer Zeit, in der kaum noch Täter leben konnten.
In der Geschichtswissenschaft und in der Publizistik macht sich darüber hinaus eine Wiederbelebung der alten „Volksgemeinschaftsthese“ breit, deren Grundzüge nach 1945 die Hauptargumente für die Restauration der alten Eliten lieferten. Man habe, so argumentierten in den fünfziger und sechziger Jahren viele bundesdeutschen Politiker fast aller Parteien, keine andere Wahl, als die alten Nazis wieder einzustellen und ihre Karrieren weiter zu fördern. Da mehr oder weniger alle ehemalige Volksgenossen zur Mitarbeit in der NS-Diktatur gezwungen waren oder sich dazu bereit erklärte hatten, gäbe es, so wurde argumentiert, keine Alternativen, wolle man nicht die Funktionstüchtigkeit von Verwaltung, Wirtschaft und Justiz gefährden. Die aggressive Bedrohung der Bundesrepublik durch die kommunistischen Diktaturen jenseits des Eisernen Vorhangs ließ, so wurde auch gesagt, darüber hinaus keine andere Wahl zu. Als 1983 Herrmann Lübbe im Reichstag ausgerechnet auf einer Veranstaltung zum 50. Jahrestag der Machtübernahme, diese apologetischen Thesen der Vergangenheitspolitik in der Bundesrepublik erstmals wieder belebte, war der Protest unter den anwesenden Historikern noch sehr groß. Inzwischen jedoch scheint sich diese Behauptung, die den Umgang der Bundesrepublik mit den NS-Verbrechern als alternativlos hinstellt, zu einem von vielen Publizisten und Verfassern dickleibiger Werke über die Geschichte Deutschlands nach 1945 als einheitliche kanonische Sichtweise heraus gebildet zu haben. Aber trifft das wirklich zu? Musste z. B. das Bundeskriminalamt mit ehemaligen Gestapoleuten und Kommandeuren von SD-Einsatzgruppen aufgebaut werden? Mussten tatsächlich verantwortliche Massenmörder in den Bundesnachrichtendienst eingestellt werden. Gab es keine andere Möglichkeit, als die vieltausendfachen Krankenmörder der Euthanasieaktion zu Oberärzten und Leiter psychiatrischer Kliniken zu ernennen? War es unumgänglich, dass Richter und Staatsanwälte der NS-Justiz, die nahezu 30.000 Todesurteile gefällt hatten, als Land- oder Amtsgerichtsdirektoren ihre Karrieren fortsetzen konnten? Wenn tatsächlich der Aufbau der Bundesrepublik, von Demokratie und Rechtsstaat, ohne die Integration von Nationalsozialisten nicht möglich war, wird dann nicht der unter großen persönlich Opfern geführte Kampf von Reinhard Strecker und anderen um die Aufdeckung personeller Kontinuitäten zum Kampf gegen Windmühlen abgewertet? Dieser, wie mir scheint, neuen Art von akademischer Kollektivschuldthese, hinter der sich schon die Täter versteckten, gilt es m. E. nach wie vor den Satz des ehemaligen Buchenwald-Häftlings Eugen Kogon entgegen zu halten: „Wer alle unterschiedslos auf die Anklagebank setzt, setzt niemand auf die Anklagebank“. Das Maß an Verantwortung für staatliche Verbrechen leitet sich eben vor allem auch aus Funktion und Hierarchie ab. Nach diesem funktionalen Prinzip verfuhren auch die Alliierten in den Nürnberger Prozessen, wohingegen die bundesdeutsche Justiz die nur schwer feststellbare subjektive Einstellung zur Tat zum entscheidenden Kriterium der Schuldzumessung erhob.
Auf die inzwischen teilweise so hoch gelobte Erinnerungskultur in der Bundesrepublik kommt deshalb nach meiner Meinung wahrscheinlich jetzt eine entscheidende Bewährungsprobe zu. Dabei denke ich nicht nur an den Einzug von Demagogen in den Bundestag, die die soldatischen Leistungen der Wehrmacht gelobt haben wollen und den angeblichen deutschen Schuldkult bekämpfen. Ich bin mir darüber hinaus nicht sicher, welche Auswirkungen das Ende der Zeitzeugenschaft haben wird, waren es doch zu allererst die Opfer selbst die über viele Jahre allein das Gedenken an ihre ermordeten Kameradinnen und Kameraden wach hielten. Ebenso können der von Teilen des Auslandes bestärkte Aufarbeitungsstolz oder das wieder aus der Versenkung heraus geholte Rot = Braun-Theorem, mit dem Relativierung und Entkontextualisierung einher gehen, das Abgleiten der erkämpften Erinnerungskultur in einen leblosen ritualisierten Kanon von Strategien und Lehrsätzen staatlicher Politik bewirken. Bei allen Unterschieden zur rigiden Aufarbeitungsverweigerung der ersten Jahrzehnte in der Geschichte der Bundesrepublik, gibt es manche déja-vue- Erfahrungen ebenso wie völlig neue Herausforderungen Sie werden Deutschland in den nächsten Jahren auf die Probe stellen, wie ernst die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Diktatur auch in der Zukunft genommen wird.
Reinhard Strecker kann uns bei der Bewältigung dieser alten und neuen Herausforderungen in der Erinnerungspolitik ein Vorbild sein. Sie, lieber Herr Strecker, haben durch Ihre Zivilcourage, durch Ihre Beharrlichkeit, durch Ihre Empathie mit den Opfern, durch Ihren anhaltenden Zorn über die ungehinderten Karrieren der NS-Täter, durch Ihr enzyklopädisches Wissen und mit Ihren Mut gegen Mehrheitsmeinungen, gegen Schmutzkampagnen und Verleumdungen Ihren eingeschlagenen Weg beharrlich und über viele Jahre zu gehen, einen ganz wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass der viele Jahrzehnte dauernde Kampf um die Erinnerung in Deutschland schließlich in vielerlei Hinsicht erfolgreich war. Dafür sind wir alle Ihnen zu großem Dank verpflichtet.