Fachgespräch „Aufarbeitung der NS-Diktatur: Stärkung der NS-Gedenkstättenarbeit und Würdigung aller NS-Opfergruppen“
Bundestagsausschuss für Kultur und Medien, 31. Mai 2017
Prof. Dr. Günter Morsch, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und Leiter von Gedenkstäte und Museum Sachsenhausen
Ad Frage 1.-3.:
Die Entwicklung der NS-Gedenkstätten hat nach der deutschen Einheit eine nicht unbedingt vorhersehbare, sehr positive Entwicklung genommen. Damit hat sie in einem kaum zu überschätzenden Maße dazu beigetragen, dass der Prozess der Vereinigung trotz vieler, hauptsächlich historisch begründeter Bedenken allmählich auch im Ausland breite Zustimmung gefunden hat. Dies ist umso erstaunlicher, da die NS-Gedenkstätten in der Bonner Republik ganz überwiegend ein randständiges Dasein führten. Sie waren hauptsächlich zivilgesellschaftlich gegen enorme Widerstände erkämpft worden und mussten daher aufgrund weitgehend fehlender staatlicher Unterstützung ihre wichtige Arbeit zumeist ehrenamtlich organisieren. In der DDR dagegen waren die nationalen Mahn- und Gedenkstätten Instrumente des durch die SED einseitig definierten staatlichen Antifaschismus. Allerdings verfügten sie über wesentlich größere Potentiale als vergleichbare westdeutsche NS-Gedenkstätten. Die organisatorischen Strukturen der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR orientierten sich prinzipiell an den klassischen Aufgabenfeldern von Museen, auch wenn selbst diese den politischen Restriktionen der SED-Diktatur und der allgemeinen Mangelwirtschaft unterworfen waren.
Es ist in den neunziger Jahren weitgehend gelungen, die Vorteile beider Modelle miteinander zu verschmelzen. Die 1999 beschlossene und seitdem nur wenig veränderte Gedenkstättenkonzeption des Bundes sollte deshalb in ihren Grundprinzipien beibehalten und eher gestärkt werden. Folgende Grundsätze möchte ich daher herausstellen. Dabei verweise ich auch auf die Ethikcharta, die sich das International Comittee of Memorial Museums 2013 gegeben hat und die auch von der Task Force for international Cooperation on Holocaust Education übernommen wurde:
a)Staatliche Finanzierung einerseits und inhaltliche Autonomie der Gedenkstätten stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Das ist im Breich der Kultur nicht ungewöhnlich. Aber gerade wegen der großen außen- und innenpolitischen Bedeutung der Erinnerungskultur sind Politik und Verwaltung versucht, die inhaltliche Ausgestaltung der Gedenkstätten nicht nur dem freien Diskurs von Gedenkstättenpersonal, Wissenschaft und Gesellschaft zu überlassen, sondern stärker in eine präsentistisch orientierte Zweckbestimmung einzubinden. Dem ist auf Dauer nur durch klare, strukturelle und organisatorische Regelungen zu begegnen, die die inhaltliche Autonomie der Gedenkstätten gegenüber staatlichen Eingriffen sichern.
b) Die dezentrale Struktur der NS-Gedenkstättenlandschaft ist Spiegel ihrer zivilgesellschaftlichen Fundierung und daher prinzipiell positiv zu bewerten. Doch es kann nicht übersehen werden, dass mit dem Generationenwechsel und dem Ende der Zeitzeugenschaft diese Basis nicht mehr überall aufrecht erhalten werden kann. Gleichzeitig nehmen die Herausforderungen an die Qualität der Gedenkstättenarbeit im internationalen Maßstab immer mehr zu. Wenn wir aber die dezentrale Gedenkstättenlandschaft grundsätzlich beibehalten wollen, dann kommen wir angesichts der weiter wachsenden Anforderungen nicht darum herum, bestimmte Gedenkstätten in bestimmten Aufgabenfeldern als Leiteinrichtungen zu stärken.
c) Institutionelle und projektbezogene Finanzierung der Gedenkstätten haben sich als Instrumente grundsätzlich bewährt. Allerdings sollte angesichts der historisch begründeten, stark ungleichen Verteilung von Gedenkstätten beider Diktaturen in den Bundesländern dringend ein finanzieller Ausgleich gefunden werden. Ich verweise dabei auf meine Ausführungen bei der letztmaligen Anhörung am 27. Januar d. J.
d) Das durch die beiden Enquete-Kommissionen sowie das Gedenkstättenkonzept festgeschriebene Konzept von Gedenkstätten als moderne zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben muss als Leitbild konsequent weiterentwickelt werden. Nach wie vor sind dafür die den Gedenkstätten zur Verfügung gestellten materiellen und personellen Ressourcen nicht ausreichend. Obwohl die Gedenkstätten jährlich Millionen von Besucherinnen und Besuchern verzeichnen, hinken sie den Standards großer vergleichbarer Museen immer noch hinterher. Die trotz aller anerkennungswerter Fortschritte prinzipiell defizitäre Ausstattung betrifft sowohl die sogenannte Hardware als auch die Software, also z. B. sowohl die Mittel zur Erhaltung der historischen Baurelikte als auch für ausreichende pädagogische Kapazitäten. Insbesondere gilt es die Durchdringung von Gedenkstättenarbeit und wissenschaftlicher Forschung auszubauen und auf Dauer zu sichern, wozu die Einrichtung einer der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vergleichbaren Förderinstitution wohl das beste Instrument wäre, da universitäre Forschung diese Anwendungs-bezogenen Forschungslücken nicht ausfüllt.
Zum zweiten Fragenkomplex verweise ich auf die ausführliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Dagmar Lieske, die die Ursachen und Gründe für die Leerstellen in der deutschen Erinnerungskultur hinsichtlich der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher ausführlich begründet und hergeleitet hat. In Ergänzung dazu rege ich an, künftig nur noch von Opfern sozialbiologischer und kriminalbiologischer Generalprävention des NS-Regimes zu sprechen. Da die historischen Begriffe selbst heute noch allzu sehr belastet sind, stigmatisieren sie in unzulässiger Weise diese Zehntausende von Menschen, die gleichwohl als Opfer des nationalsozialistischen Terrorsystems angesehen werden müssen.
Auch wenn die Grundzüge der nationalsozialistischen Politik gegenüber den Opfern sozialbiologischer und kriminalbiologischer Generalprävention inzwischen zum großen Teil bekannt sind, so besteht doch nach wie vor ein großer Forschungsbedarf hinsichtlich der genauen Zusammensetzung dieser beiden sehr heterogenen Gruppen, ihres konkreten Schicksals in den verschiedenen Haftstätten des NS-Terrorsystems und vor allem auch in Bezug auf die Nachkriegsgeschichte, in der die Diskriminierung nur allzu häufig fortbestand. Darunter leiden viele Familien der Opfer bis heute. Gerade die Gedenkstätten können mit Ausstellungen, Publikationen und pädagogischen Projekten viel tun, um die gesellschaftlichen Vorurteile und Tabus zu korrigieren und abzubauen. Ein kollektives, allgemeines, Gruppenbezogenes ehrendes Gedenken halte ich allerdings für die Opfer kriminalbiologischer Generalprävention derzeit nicht für möglich, wohl aber kann und sollte ihr Verfolgungsschicksal und das dadurch verursachte Leiden in der Darstellung von einzelnen Biographien herausgestellt und gewürdigt werden.
Obwohl in den vergangenen Jahren viele lange Zeit diskriminierte Opfergruppen gesellschaftliche Anerkennung gefunden haben, gibt es nach wie vor große Verfolgtengruppen, deren Schicksal, wie Bundespräsident Gauck formuliert hat, immer noch im Erinnerungsschatten liegt. Die weitaus größte und wichtigste vergessene bzw. verdrängte Gruppe von NS-Verfolgten sind m. E. die Opfer der Lebensvernichtung im Osten. Ich bin allen Fraktionen des deutschen Bundestages dankbar dafür, dass sie den vordringlichen Bedarf für die Errichtung eines Erinnerungszeichens an diese mehrere Millionen Menschen in Gesprächen mit den Initiatoren anerkannt haben und würde mir wünschen, dass noch dieser Bundestag die Weichen für die Realisierung stellt.