„SACHSENHAUSEN MAHNT!“
DIE ERÖFFNUNG DER NATIONALEN MAHN- UND GEDENKSTÄTTE SACHSENHAUSEN VOR 50 JAHREN IM SCHATTEN DES KALTEN KRIEGES
- APRIL 2011
BEGRÜSSUNG
PROF. DR. GÜNTER MORSCH
Sehr geehrte Überlebende des Konzentrationslagers Sachsenhausen,
Chère Madame Gouffault,
sehr geehrter Herr Dr. Stolpe,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen heiße ich Sie alle ganz herzlich willkommen. Vor fast genau fünfzig Jahren, am 23. April 1961, weihte die damalige DDR-Staatsführung im Rahmen großer Festveranstaltungen die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen ein. Aus diesem Anlass hat die Gedenkstätte eine Sonderausstellung erarbeitet, die wir heute, am 66. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des KZ Sachsenhausen, gemeinsam mit Ihnen eröffnen wollen. Dazu begrüße ich insbesondere die Überlebenden des Lagers, die die Strapazen langer Flug-, Bahn- oder Busreisen auf sich genommen haben, um heute an diesem für sie wichtigen Tag bei uns sein zu können. Wir sind Ihnen dafür von ganzem Herzen dankbar. Begleitet werden viele der Überlebenden von ihren Angehörigen und Freunden, die sie nicht nur umsorgen und betreuen, sondern von denen die meisten die Erinnerung an das Leid und Kampf der Häftlinge auch in der Zukunft im Sinne der Überlebenden weiter tragen wollen.
Mit Sachsenhausen eröffnete die DDR-Staatsführung nach Buchenwald und Ravensbrück bereits die dritte große KZ-Gedenkstätte. Dies war in einem nicht einmal zwölf Jahre alten, von einem Großteil der Weltgemeinschaft nicht anerkannten Staat, der sich überdies in einer tiefen ökonomischen, sozialen und politischen Krise befand, nicht einfach. Denn der Bevölkerung der DDR, die zu hunderttausenden aus der Diktatur in die zunehmend auch wirtschaftlich prosperierende Bundesrepublik flüchtete, war sicherlich angesichts der immer noch überall sichtbaren, gravierenden Kriegsschäden sowie der unzureichenden Versorgung mit Konsumgütern der Aufbau kostspieliger riesiger Denkmalsanlagen nicht einfach zu vermitteln. Trotzdem spendeten viele Menschen Millionen, wieweit freiwillig oder gezwungen lässt sich wahrscheinlich nicht mehr ermitteln.
Mit großem Aufwand entstanden in einem über vier Jahre sich hin ziehenden Planungs- und Aufbauprozess im Bereich des ehemaligen Häftlingslagers sowie der SS-Kommandantur mehrere große Museen und Denkmalsanlagen, beeindruckende skulpturale und bildnerische Kunstwerke sowie aufwändige Rekonstruktionen und Restaurationen baulichrer Relikte von zweifellos hohem internationalem Rang. Vielen Überlebenden des KZ-Terrors von Sachsenhausen, die über Jahre gegen die geschichtsvergessene Verwüstung des authentischen Ortes durch Soldaten der NVA und Einwohner Oranienburgs protestiert hatten und die nun zu Tausenden feierlich und staunend in die neue Mahn- und Gedenkstätte einzogen, musste diese Anlage zweifellos als eine großartige Leistung der DDR erscheinen. Um einen solchen Erfolg sicherzustellen, bedurfte es nicht einmal der allgegenwärtigen und ständig auf die Gäste und Teilnehmer einhämmernden SED-Propaganda. Denn in dem anderen deutschen Staat, mit dem man sich gegenseitig ständig maß und messen musste, der Bundesrepublik Deutschland, waren die Gelände der ehemaligen Konzentrationslager Bergen Belsen oder Dachau sowie Flossenbürg oder Neuengamme, zu dieser Zeit größtenteils immer noch verwildert und verwahrlost, überbaut oder zweckentfremdet.
Heute betrachten wir die vom so genannten Buchenwald-Kollektiv konzipierte und realisierte Mahnmalsanlage nicht nur mit den Augen der Zeitgenossen. Seine Monumentalität empfinden nicht wenige als erdrückend, die gegen die ursprüngliche architektonische idealtypische Anlage einer Geometrie des totalen Terrors gerichtete antithetische Überformung des authentischen Ortes als unverständlich, die Beseitigung vieler originaler Baurelikte, um, wie es hieß, „den Sieg des Antifaschismus über den Faschismus“ zu demonstrieren, als zumindest bedauerlich. Warum es so gekommen ist, was die Absichten der Planer und der politisch Verantwortlichen dabei waren und wie Museen und Gedenkanlagen gestaltet wurden, das alles ist Gegenstand einer schon 1996 eröffneten Dauerausstellung, der ersten ihrer Art in den Gedenkstätten der Bundesrepublik überhaupt.
In unserer Sonderausstellung mit dem Titel „’Sachsenhausen mahnt!’. Die Eröffnung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen vor 50 Jahren im Schatten des Kalten Krieges“ versuchen wir daher, den zeithistorischen Kontext wieder aufleben zu lassen, in dem die Einweihung stattfand. Es war, das wird dabei deutlich, eine Zeit ungeheuerer Anspannung, eine Zeit, in der für Nachdenklichkeit und Zweifel kein Platz war, eine Zeit, in der Rechthaberei und gegenseitige Anklage dominierten, eine Zeit des Niederschreiens und nicht des Zuhörens. Eichmann-Prozess, Mauerbau und Kuba-Krise sind nur einige Stichworte, die aber die politische Brisanz einer Zeit beschreiben, in der die Eröffnung der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen als ein vom Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht persönlich verantwortete politische Machtdemonstration für den eigenen deutschen Staat und gegen den anderen, die Bonner Republik, geführt wurde. Hatte das 1960 eingesetzte Vorbereitungskomitee ursprünglich noch eine gewisse Überparteilichkeit zumindest bei der Einladungspolitik proklamiert, so bemächtigte sich der SED-Apparat zunehmend jeglicher Initiative, zwang alle in das Prokrustesbett der eigenen Propaganda und überließ nichts dem Zufall oder der Spontanität. So wurden z. B. den ausländischen Gästen auf einem so genannten internationalen Forum in Berlin Fragen vorformuliert, die von den Delegationen ausgesuchte Redner den DDR-Verantwortlichen stellen sollten. Ein vom Turm A aufgenommenes Foto, das den Einmarsch der Teilnehmer durch ein ausgerechnet auf dem ehemaligen Appellplatz gebildetes Spalier Stahlhelmbewehrter NVA-Soldaten zeigt, scheint mir symtomatisch dafür zu sein, dass die DDR-Staatsführung keine Abweichungen duldete und alle Teilnehmer hinter sich zu zwingen suchte. Die undifferenzierte Verurteilung des so genannten „Adenauer-Staats“ als Heimstatt für Neonazisten sowie die Beschönigung der DDR-Diktatur als Erbe des antifaschistischen Widerstandes in den Konzentrationslagern – dieses Bekenntnis verlangte die den Festakt ausrichtende Staatsführung als Minimalkonsens von allen, die sich öffentlich äußern oder gar nur beteiligen wollten.
In welche unzumutbare schwierige Gewissens- und Entscheidungslagen die DDR-Verantwortlichen damit erneut ehemaligen Häftlinge von Sachsenhausen brachten, wie z. B. die aus nationalkonservativen Kirchenkreisen stammenden und wegen ihres Widerstandes gegen die Nazis inhaftierten Pfarrer Heinrich Grüber und Martin Niemöller, interessierte sie nicht. Beide krichlichen Repräsentanten entschieden sich letztlich dafür, bei ihren Kameraden sein zu wollen, um mit ihnen gemeinsam der Toten zu gedenken. Der katholische Weihbischof Alfred Bengsch dagegen war einiger der wenigen, der einen anderen Weg fand, um die Opfer des Konzentrationslagers bei der Reichshauptstadt zu würdigen, ohne sich von der DDR-Staatsführung als Komparse eines Staatsaktes missbrachen zu lassen: Bengsch hielt am 23. April, dem Eröffnungstag der Mahn- und Gedenkstätte, ein Pontifikalamt in der Herz-Jesu-Kirche in Oranienburg ab. In seiner Predigt verneigte er sich zu allererst vor den jüdischen und polnischen Opfern, unter ihnen mehr als 700 Geistliche. Auch deutliche Worte zur Achtung der Menschenrechte über alle ideologischen Grenzen hinweg fehlten nicht. Doch dem Staatsakt blieb er fern.
Walter Ulbrichts Rede sowie der danach vom Autor des Moorsoldatenliedes Wolfgang Langhoff verlesene „Appell von Sachsenhausen“ verdeutlichen am besten die bedenkenlose Instrumentalisierung der Geschichte des NS-Terrors und des Gedenkens an zehntausende KZ-Opfer in Sachsenhausen, für die tagespolitischen Zwecke der Gegenwart. Während Ulbricht den weitaus größten Teil seiner ihm reichlich bemessene Redezeit dazu nutzte Verteidigungsminister Strauß oder Bundeskanzler Adenauer zu beschimpfen und die angeblich „militaristische und faschistische Verseuchung in Westdeutschland“ der „Bastion des Friedens und der Völkerverständigung“ in der DDR entgegen zu stellen, beschwor der dem Buchenswald-Schwur nachempfundene, nachträglich von der DDR formulierte Sachsenhausen-Appell in fünffacher Wiederholung „unseren Kampf“, „unseren Kampf“, unseren Kampf“, „unseren Kampf“ und noch einmal „unseren Kampf“. Sachsenhausen, der Ort, wo mehr als zweihunderttausend Häftlinge aus mehr als 40 Ländern von deutschen Herrenmenschen gequält und ermordet worden waren, wurde im Zeichen des Kalten Krieges von einem deutschen Staat, der sich als Erbe des antifaschistischen Widerstandskampfes rühmte, bedenkenlos als politischer Schau- und Kampfplatz der Systeme missbraucht und das Publikum als Komparsen des Staatsschauspiels vereinnahmt.
Die politische Instrumentalisierung der Geschichte durch eine Diktatur, die im Begriff war, eine durch Stacheldraht und Schießbefehl tödliche Mauer zu errichten, ist vielleicht für viele nicht überraschend, wären da nicht die vielen vor allem kommunistischen KZ-Häftlinge, die sich ihren Kameraden nach wie vor auch menschlich tief verbunden fühlten. In gewisser Hinsicht empfinde ich aber die Reaktionen auf die Eröffnung der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen in der Bundesrepublik, einer freien und demokratischen Gesellschaft, im Nachhinein noch als beschämender. Das vernehmliche Schweigen und die Ignoranz, mit der der Großteil der bundesdeutschen Öffentlichkeit die auch außerhalb der DDR kaum zu übersehende und überhörende Tatsache überging, daß, nur acht Kilometer von den Grenzen West-Berlins entfernt, Tausende von Überlebenden des Konzentrationslagers bei der Reichshauptstadt aus vielen Ländern der Welt zusammengekamen, um eine große Mahn- und Gedenkstätte einzuweihen, ist ein beschämendes Anzeichen der zu dieser Zeit nach wie vor allseits herrschenden und bedrückenden Verdrängung des nationalsozialistischen Verbrechen. Auch wenn sich erste Risse und Sprünge in der Mauer des Verschweigens der NS-Vergangenheit zeigten, so öffnete sich die Kluft zwischen den Generationen doch erst in der Nachfolge des Eichmann- und Auschwitz-Prozesses.
Völlig fassungslos liest man in der Ausstellung auch die Reaktionen der deutschen Sozialdemokratie, der Partei, die neben den Kommunisten wohl die meisten Opfer unter den deutschen politischen Häftlingen zu beklagen hatte. Ihr waren Namen wie die von Julius Leber, Ernst Heilmann, Rudolf Breitscheid, Hermann Lüdemann, oder Carl Volmerhaus, sozialdemokratische Widerstandskampfer, die in Sachsenhausen inhaftiert und teilweise ermordet worden waren, keine einzige Erwähnung wert. Anstatt dessen beschwor der SPD-Pressedienst die Erinnerung an das sowjetische Speziallager, das, wie es hieß, „KZ der Kommunisten“, das in Sachsenhausen nach 1945 unter ungefähr gleichen Bedingungen wie zuvor weiter geführt worden sei. Und in einem unter der Losung der Eröffnungsveranstaltung „Sachsenhausen mahnt!“ veröffentlichten Flugblatt verbreitete das Ostbüro der SPD unter der Überschrift „Die Wahrheit über Sachsenhausen“ wissentlich falsche, übertriebene Zahlen über die Anzahl der Toten und den Anteil von Sozialdemokraten unter den Speziallager-Häftlingen. Die Toten des Speziallagers wurden aufgerechnet, ohne die Toten des Konzentrationslagers überhaupt zu erwähnen.
Da beide Seiten in Deutschland, Ost wie West, offenbar im Kampfmilieu des Kalten Krieges gefangen waren und wieder einmal hauptsächlich auf beiden Seiten im Angesicht von Tausenden ausländischer Gäste deutsche Nabelschau betrieben, stellt sich die Frage, wie die meisten KZ-Überlebenden, vor allem diejenigen, die aus dem Ausland anreisten, die Eröffnung der Mahn- und Gedenkstätte empfanden. Die Ausstellung versucht diese Frage mit der Präsentation möglichst vieler privater Fotoalben zu beantworten. Dabei wird deutlich, der der große Aufwand, den die DDR zweifellos trieb, die vielen Veranstaltungen, die weitgehend reibungslose Organisation und die an den geschmückten Straßen freundlich winkenden Menschen bei einem Großteil von ihnen ihre Wirkung wohl nicht verfehlten. Offizielle Redner und Repräsentanten von Opferorganisationen ließen sich sogar ohne erkennbare Probleme in die Front des Kalten Krieges auf Seiten der DDR einreihen. Doch viel bezeichnender und repräsentativer scheint mir ein Bericht zu sein, den die mit 250 Teilnehmern größte ausländische Delegation, die französische Amicale d’Oranienburg et ses kommandos, nach ihrer Rückkehr in ihrer Zeitschrift publizierte. Von den politischen Reden, Parolen und Protestationen findet sich darin kein einziges Wort. Ausführlich hingegen wird die Stimmung dieser heißen Frühsommertage im April beschrieben, das glückliche Wiedersehen und die großzügige Gastfreundschaft. In den besten Hotels in einem belebten Viertel Ost-Berlins, so heißt es dort, habe man gewohnt. Eines der größten Weinrestaurants sei für die französische Delegation reserviert worden und selbst der Angewohnheit der Franzosen, viel Weißbrot zu essen, hätten die aufmerksamen Gastgeber nach anfänglichem Zögern entsprochen. Madame Gouffault, die unseren unvergessenen verstorbenen Präsidenten des Internationalen Sachsenhausenkomitees, Pierre Gouffault, auf dieser Reise begleitete, wird uns wohl gleich sehr viel anschaulicher noch ihre Empfindungen beschreiben können; darauf freue ich mich sehr.
Weil der übliche Raum für Sonderausstellungen im Neuen Museum aufgrund von Bauarbeiten derzeit nicht zur Verfügung steht, haben wir uns entschlossen, die Sonderausstellung mitten in die Dauerausstellung „Von der Erinnerung zum Monument. Die Geschichte der nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen“ zu platzieren. Ich danke dem Ausstellungsgestalter Herrn Stefan Hasselbeck dafür, dass er mit kreativen Ideen und trotz relativ geringem Budget einen Weg fand, beides zu vereinen, Dauer- und Sonderausstellung. Bodo Baumunk sei dafür gedankt, dass er unsere Ausstellungsidee als maßgeblicher Kurator und einziger wissenschaftlicher Mitarbeiter konzipierte, recherchierte und realisierte. Unserer Mitarbeiterin, Frau Agnes Ohm, danke ich dafür, dass sie neben ihrer anderen vielfältigen Tätigkeit, die u. a. darin bestand, die Veranstaltungen des Jahrestages der Befreiung zu organisieren und eine Wanderausstellung zu verwirklichen, irgendwoher die Zeit fand, an den Recherchen und der Ausstellungsorganisation mitzuarbeiten. Unserem Handwerkerteam sei vor allem für die schnelle, effektive und kostensparende Produktion der Ausstellung gedankt.
Sie haben von mir, meine sehr geehrten Damen und Herren, viele Worte der Kritik und der Scham über die Eröffnung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen vor 50 Jahren gehört. Das war aber nur eine Seite, die mich als Angehöriger der ersten nachwachsenden Generation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach wie vor persönlich sehr bedrückt. Ich hoffe sehr, dass die beiden nachfolgenden Reden unseres ehemaligen verehrten Ministerpräsidenten und unserer allseits geliebten Lulu Gouffault meinem Bild nun mehr helle und warme Farbtöne beimischen werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit