Neujahrsempfang des Arbeitskreises der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten 2016

NEUJAHRSEMPFANG DES ARBEITSKREISES DER BERLIN-BRANDENBURGISCHEN GEDENKSTÄTTEN
AM 22. Januar 2016
GRUSSWORT
Prof. Dr. Günter Morsch

Sehr geehrte Frau Dr. Kaminsky,
lieber Herr Gutzeit,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Berliner Abgeordnetenhausen,
verehrte Mitglieder des diplomatischen Corps,
sehr geehrte Vertreter der Opferverbände und der Kirchen,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Namen der Mitglieder des Arbeitskreises I der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg möchte ich mich zunächst ganz herzlich bei denjenigen bedanken, die nun zum dritten Mal diesen Neujahrsempfang ermöglicht und organisiert haben. Ich danke vor allem auch der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, namentlich Frau Dr. Kuder, ganz herzlich dafür, dass wir in Ihren Räumen zu Gast sein dürfen. Ich freue mich, dass so viele Kolleginnen und Kollegen zusammen mit unseren Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kultur die Chance nutzen wollen, um im zwanglosen Rahmen miteinander hoffentlich nicht nur über die Geschichte beider Diktaturen und ihre Darstellung ins Gespräch zu kommen.
Für uns Gedenkstätten und Dokumentationsstätten, die sich mit der Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur und ihren unvergleichlichen Verbrechen beschäftigen, stand natürlich der 70. Jahrestag der Befreiung im Zentrum vieler Veranstaltungen des vergangenen Jahres. Viele Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors kehrten erneut an die historischen Orte zurück. Sie suchten und fanden überwiegend den Kontakt zu jungen Menschen des In- und Auslandes. Denn die Weitervermittlung ihrer Erfahrungen und Erinnerungen an nachwachsende Generationen war schon immer eines der den Großteil ihres Lebens nach der Befreiung prägenden Hauptmotive der Überlebenden. Vor allem deshalb nahmen sie schwerste physische und psychische Belastungen auf sich, um aus Israel und Russland, aus Polen und Tschechien, aus der Ukraine und Frankreich , aus Norwegen, Weißrussland, den Niederlanden, Belgien oder Italien und sogar aus den USA oder Südafrika an die historischen Orte zurückzukehren. Die Gedenk- und Dokumentationsstätten des nationalsozialistischen Terrors, sie gehören, das wird dabei immer wieder deutlich, nicht Deutschland allein, sondern sind ein, wenn auch schweres Erbe einer internationalen Erinnerungsgemeinschaft. Das Denkmal für die ermordeten europäischen Juden oder die Gedenkstätte im Haus der Wannseekonferenz, das Anne-Frank-Zentrum oder das deutsch-russische Museum in Karlshorst, die KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen oder die Gedenkstätte Seelower Höhen, aber auch das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ und die Gedenkstätten für die Opfer der NS-Justiz in Plötzensee und in Brandenburg-Görden – sie alle, auch die, die ich in meiner Aufzählung jetzt nicht genannt habe, sind uns Deutschen quasi treuhänderisch von den aus der ganzen Welt, insbesondere aus Europa stammenden Opfern des nationalsozialistischen Terrors zur dauerhaften Bewahrung übergeben worden. Wir alle, die an den unterschiedlichen von Politik und Medien beachteten Veranstaltungen zum 70. Jahrestag der Befreiung teilgenommen haben, spürten nur allzu deutlich den Schmerz und die Trauer, mit denen sich viele der letzten Zeitzeugen von uns verabschiedeten.
Bei unseren Gesprächen mit den Überlebenden können wir immer wieder zwei sich widersprechende Empfindungen feststellen: zum einen die Freude darüber, dass Deutschland nach vielen Jahrzehnten eines wenig sensiblen Umgangs mit den historischen Orten seit der deutschen Einheit eine neue Erinnerungskultur herausgebildet hat, die vom ernsthaften Willen zeugt, die nationalsozialistischen Verbrechen ohne ideologische oder politische Instrumentalisierungen ungeschminkt zu zeigen und das Andenken an die Opfer wach zu halten. Zum anderen aber ist in ihnen angesichts der Wiederkehr von Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus in Europa die Sorge gewachsen, dass die moralische und politische Botschaft, die die überlebenden KZ-Häftlinge in ihrem sogenannten Vermächtnis 2009 dem damaligen Bundespräsidenten sowie vielen anderen hohen Repräsentanten europäischer Staaten übergaben, in Vergessenheit gerät. Niemand von uns kann, wenn er ehrlich ist, den um die Bewahrung ihrer Botschaft besorgten NS-Opfern die ernsten und viele gerade in der letzten Lebensphase bedrückenden Befürchtungen nehmen.
Immer wieder werden wir Gedenkstättenmitarbeiter von Politik und Medien danach gefragt, wie unsere Arbeit nach dem Abschied von den Zeitzeugen weitergeht. Doch diese Fragen richten sich an die falsche Adresse. Denn die allermeisten Gedenkstätten haben sich seit Jahren auf die dafür notwendigen Veränderungen eingestellt, da sie ihnen viel früher persönlich vor Augen standen, als dies für eine breite Öffentlichkeit offenbar gilt. Mit der Übernahme des modernen Konzepts der Gedenkstätten als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben, in denen Sammlung, Forschung, Ausstellung und Vermittlung zusammengefasst sind, bereiteten sie den Wandel vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis den Weg. Die Frage nach der Zukunft der NS-Erinnerung nach dem Abschied von den Zeitzeugen richtet sich daher weniger an die Gedenkstätten als an die gesamte deutsche Gesellschaft, gerade auch an Politik und Öffentlichkeit. Denn der in der alten Bundesrepublik erst in den Jahren nach der deutschen Einheit errungene Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur kam nicht von selbst. Ohne den politischen Druck aus dem Ausland, gerade auch der ausländischen Opferverbände, wären NS-Gedenkstätten in Deutschland möglicherweise mit wenigen Ausnahmen immer noch die marginaliserten, finanziell und personell völlig unterversorgten Einrichtungen, die sie bis dahin in der Bundesrepublik gewesen waren. Daher richten sich die besorgten Fragen der letzten Zeitzeugen an die gesamte deutsche Gesellschaft: Werden die NS-Gedenkstätten und die Erinnerung an die NS-Verbrechen auch dann noch als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden, wenn die Stimmen der ausländischen Opfer verstummt sind? Wird die Bedeutung der historischen Orte in Deutschland als internationale Friedhöfe und materielle Zeugnisse europäischer Geschichte im Bewusstsein bleiben oder werden sie einer vorwiegend aus deutscher Sicht formulierten Narration unterworfen? Kommt schließlich mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand zur NS-Diktatur die Vermischung, Relativierung oder gar Nivellierung der NS-Verbrechen unter dem Schlagwort des „Zeitalters der Extreme“? Gerade letztere, keinesfalls unbegründete Befürchtung, die durch von europäischen Institutionen beschlossene Resolutionen und Plattformen genährt wird, führte bei nicht wenigen Überlebenden von Völkermord und NS-Terror zu großer Empörung. Viele von ihnen haben den, wie ich meine, nicht unberechtigten Eindruck, dass ihre Proteste und Einwände vielfach nicht mehr zur Kenntnis genommen werden. Die wirkliche Bewährungsprobe für die Bedeutung, Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit der neuen deutschen Erinnerungskultur, sie kommt daher erst jetzt, jetzt da die Zeitzeugen ihre Stimmen nicht mehr erheben können.
In diesem Jahr wollen viele der im Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg zusammengeschlossenen Einrichtungen vor allem an den 75. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion erinnern. Es ist dem Bundespräsidenten Joachim Gauck dafür zu danken, dass er im vorigen Jahr am 8. Mai in der Gedenkstätte Stukenbrock an die Millionen Opfer dieses rassistischen Vernichtungs- und Eroberungskrieges mit eindrücklichen Worten erinnert hat. Insbesondere das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen sei in Deutschland, so Gauck, nie angemessen ins Bewusstsein gekommen. Tatsächlich bedürfen nicht nur die nur wenige Kilometer von hier im KZ Sachsenhausen zu Tausenden grausam ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen, sondern die meisten Opfer der NS-Lebensraumpolitik im Osten einer stärkeren Beachtung als bisher. Die ersten Vorplanungen zum antisemitisch und rassistisch begründeten Ausrottungs- und Eroberungskrieg lassen sich mindestens bis 1933 zurückverfolgen, als Hitler wenige Wochen nach seiner Machtübernahme vor den Spitzen von Staat, Wehrmacht und Wirtschaft seine weitreichenden Pläne zur Eroberung neuen Lebensraumes im Osten darlegte.
Die Erinnerung und das Gedenken an die Opfer der NS-Lebensraumpolitik im Osten ist heute durch politische Probleme und Konflikte belastet, die zum Teil schon im vergangenen Jahr die Veranstaltungen zum Jahrestag der Befreiung beeinflusst haben. Wir dürfen uns davon aber nicht abhalten lassen, Ursachen und Opfer des deutschen Vernichtungsfeldzuges gegen die Sowjetunion zu benennen. Gerade in einer Zeit zunehmender Renationalisierungen und ernsthafter Konflikte zwischen europäischen Staaten müssen die Gedenkstätten ein wachsames Auge darauf haben, dass sie nicht von der einen oder anderen Seite instrumentalisiert werden. Geschichte birgt, wie wir wissen, immer auch ein nicht ungefährliches Potential für politische Emotionalisierung. Es würde aber dem Auftrag der Gedenkstätten geradezu diametral widersprechen, würden sie dafür Anschauungsmaterial liefern. In der vom International Committee of Memorial Sites beschlossenen Ethik-Charta heißt es deshalb: Bei der Vermittlung der historischen Ereignisse in Ausstellungen, Publikationen und pädagogischen Projekten sollte Empathie mit den Opfern geweckt werden. Das Gedenken und die Erinnerung sollten jede Form von Rache, Hass und Ressentiment zwischen den verschiedenen Opfergruppen vermeiden.
Umso wichtiger sind eine fundierte, diskursive und die unterschiedlichen Sichtweisen berücksichtigende, also multiperspektivische Darstellungen. Die im sogenannten „Beutelsbacher Konsens“ beschlossenen pädagogischen Prinzipien, vor allem das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot, wurden von den im Arbeitskreis der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten zusammengeschlossenen Einrichtungen nach eingehenden Diskussionen als gemeinsame Grundlage aller Gedenkstättenarbeit erneut bestätigt. Sie gelten gerade auch in solchen Zeiten, in denen die Deutung der Geschichte vermehrt wieder zum Gegenstand aktueller zwischenstaatlicher Kontroversen wird. Die Gedenkstätten wollen und müssen offene Foren sein und bleiben, auf denen Meinungs- und Deutungsunterschiede versachlicht werden und trotzdem kontrovers und offen diskutiert werden können.

Die wichtigste gemeinsame Veranstaltung beider Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten ist das jährliche Forum für zeithistorische Bildung, das sie gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport sowie dem Landesinstitut für Schule und Medien in Berlin-Brandenburg ausrichten. Schon im vergangenen Jahr, in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, fand es auf dem Hintergrund einer lebhaften Diskussion über veränderte Lehrpläne statt, durch die die Fächer Geschichte, Geographie und Sozialkunde zusammengefasst werden. Die engagiert diskutierten Vorschläge fanden auch bei den Gedenkstätten keine ungeteilte Zustimmung. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Forums fragten sich u. a., wie sich die Bedeutung außerschulischer historischer Lernorte im Zuge der Umsetzung dieser neuen Rahmenrichtlinien verändern wird. Inwieweit, so wurde außerdem gefragt, beeinträchtigt das auf aktuelle Gegenwartsbezüge orientierte historische Lernen, wie es in den neuen Konzeption gefordert wird, das Verständnis von historischen Ursachen und Kontexten? Diese interessanten und grundlegenden Diskussion wollen wir im diesjährigen Forum fortsetzen und vertiefen. Eine stärkere Nachhaltigkeit historischen Lernens tritt, so die Erwartung, vor allem dann ein, wenn es, bezogen auf Schüler genauso wie auf Lehrkräfte, subjektorientiert ist, anknüpft also an die Lebenswelt von Jugendlichen. Doch wie kann das geschehen, ohne die historische Narration zu verbiegen, Akzente zu verschieben, Kontexte zu zerreißen, Wie, so wollen wir fragen, kann es den Gedenkstätten gelingen, an die Interessen und Vorkenntnisse der Schülerinnen und Schüler anzuknüpfen? Welche Formen pädagogischer Gedenkstättenarbeit sind dafür besonders geeignet? Schon jetzt laden wir alle Lehrkräfte und Gedenkstättenmitarbeiter ganz herzlich dazu ein, diese wichtige Diskussion über die Weiterentwicklung historischen Lernens an den außerschulischen Lernorten zusammen mit uns zu diskutieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit