Rede: Die Ermordung der jüdischen Geiseln im Mai 1942 im KZ Sachsenhausen, 27. Januar 2012

GEDENKTAG FÜR DIE OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS
27. JANUAR 2012
PROF. DR. GÜNTER MORSCH

Sehr geehrte Überlebende der Lager und Opfer des Nationalsozialismus,
lieber Herr Dr. König,
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Fritsch,
Frau Landtagsvizepräsidentin Grosse,
Sehr geehrter Herr Präsident des Verfassungsgerichts Postier,
lieber Stephan Kramer,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Der Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz ist vor nun mehr sechzehn Jahren vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog auf Initiative des damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, zum Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt worden. Inzwischen wird dieser Tag nach entsprechenden Beschlüssen des EU-Parlaments sowie der Vollversammlung der Vereinten Nationen in der ganzen Welt begangen. In Brandenburg richtet die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in Kooperation mit dem Landtag Brandenburg diesen Tag gemeinsam am authentischen Ort aus, in der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen. Dafür möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sowie allen Fraktionen des Landtages in Brandenburg ganz herzlich danken.

Es ist mir dabei eine große Freude auch in diesem Jahr wieder die anwesenden Abgeordneten des Brandenburgischen Landtages sowie des Berliner Abgeordnetenhauses begrüßen zu dürfen. Ich begrüße ferner die Vertreter der Brandenburgischen Landesregierung und des Berliner Senats, den stellvertretenden Landrat des Kreises Oberhavel, die stellvertretende Bürgermeister der Stadt Oranienburg sowie die Mitglieder des Kreistages und der Stadtverordnetenversammlung. Ganz besonders dankbar sind wir, dass erneut zahlreiche Angehörige und Repräsentanten ausländischer Botschaften und Mitglieder des diplomatischen Corps aus Belgien, Großbritannien, den Niederlanden, Polen, Rumänien, Russland, Slowenien, der Ukraine sowie den Vereinigten Staaten von Amerika an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ich danke außerdem den zahlreich anwesenden Vertretern der Parteien und Gewerkschaften, der Kirchen sowie jüdischen Gemeinden, den Vertretern von Hochschulen und Schulen sowie von Verbänden und Vereinen und auch den Mitgliedern der Opferverbände und der Gremien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für ihre stete Beteiligung an unserer Gedenkveranstaltung, zu der viele von ihnen Kränze nieder legen werden. Es ist mir immer eine besondere Freude auch in diesem Jahr zahlreiche Jugendliche, unter ihnen die Auszubildenden des Georg-Mendheim Oberstufenzentrums, willkommen heißen zu dürfen. Sie und alle Anwesenden möchte ich ganz herzlich im Namen der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen zu unserer Veranstaltung begrüßen.

In der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen haben wir diesen Gedenktag bisher immer einer speziellen Gruppe unter den verschiedenen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet, wie z. B. in den Jahren zuvor den Sinti und Roma, den Homosexuellen, den Opfern medizinischer Versuche, den Gewerkschaftern, den so genannten Asozialen, den Zeugen Jehovas, den verfolgten Christen, den Häftlingsfrauen, den Opfern der Wehrmachtsjustiz, des ersten Kriegswinters oder, wie im vergangen Jahr, den Opfern der Krankenmordaktion 14f13. Dabei geht es uns an diesem Tag zum einen darum, die große Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Gegner und Opfer des NS-Regimes deutlich werden zu lassen. Zum anderen wollen wir den Anlass nutzen, um den Blick von Öffentlichkeit und Gesellschaft auf Opfergruppen zu lenken, an die wir uns aus einem ganz besonderen Anlass erinnern wollen. In diesem Jahr, in dem sich zum siebzigsten Mal die so genannte Wannsee-Konferenz jährt, möchte die Gedenkstätte Sachsenhausen an die jüdischen Opfer einer von den Nationalsozialisten befohlenen Mordaktion erinnern, die am 28. und 29. Mai 1942 mit der Erschießung und Erhängung von 250 jüdischen Geiseln im KZ Sachsenhausen begann und sich bis zur Deportation aller jüdischen Häftlinge nach Auschwitz am 22. Oktober des gleichen Jahres hinzog.

Die Massenmordaktion im KZ Sachsenhausen wurde und wird heute noch vielfach mit dem am 27. Mai verübten Attentat auf den Reichsprotektor von Böhmen und Mähren und Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, in Verbindung gebracht. Sowohl die meisten KZ-Häftlinge, die kurz nach der Erschießungskation über den Lagerlautsprecher von dem Anschlag erfuhren, als auch ausländische Zeitungen, unter ihnen die New York Times, die schon wenige Tage danach solche Meldungen über Geiselerschießungen in Berlin veröffentlichten, glaubten an diesen Zusammenhang. Doch eine erhaltene Kalendernotiz des Reichsführers SS Heinrich Himmler vom 26. Mai über sein letztes Telefongespräch mit Heydrich lässt keinen Zweifel daran, dass der in Sachsenhausen verübte Massenmord ein Racheakt für den Brandanschlag zweier kommunistischer Widerstandsgruppen auf die Ausstellung „Das Sowjetparadies“ war.

Eine Woche zuvor nämlich, am 18. Mai, setzten zwei kommunistische Widerstandsgruppen die in einem Pavillon vor dem Berliner Dom gezeigte nationalsozialistische Propagandaausstellung in Brand. Dort wurden u. a. Fotos der kurz nach den Aufnahmen in Sachsenhausen ermordeten, von den Strapazen ihrer Haft sichtlich gezeichneten sowjetischen Kriegsgefangenen in der Absicht gezeigt, deren angebliche rassische Minderwertigkeit dem Publikum zu demonstrieren. Da der Großteil der um Herbert Baum herum gebildeten, schon wenige Tage nach dem Anschlag verhafteten Widerstandsgruppe, die den Brandanschlag verübt hatte, aus jungen Berliner Juden bestand, rasten die Antisemiten vor Wut und sannen auf Rache. Dass die Nazis keine Skrupel kannten, völlig unbeteiligte und unschuldige Juden als Geiseln zu nehmen, das hatten sie schon während des sogenannten Aprilboykotts 1933 oder im Zuge des Novemberpogroms 1938 unter Beweis gestellt. Inzwischen aber waren allenthalben aus Geiselnahmen ohne Bedenken Geiselmorde geworden. Vor allem in Serbien und in Weißrussland, wo der Partisanenkampf besonders tobte, hatten es sich Sicherheitspolizei und Wehrmacht bereits zur Gewohnheit gemacht, als Vergeltung für Widerstandsaktionen Tausende von Geiseln zu erschießen, wobei Juden und so genannte Zigeuner dabei als besonders „entbehrlich“ angesehen wurden. Massenhafte Erschießungen von Juden in der Reichshauptstadt dagegen hatte es bis dahin noch nicht gegeben. Sachsenhausen, das große Muster-KZ vor den Toren Berlins, bot sich als ein Ort an, wo man den primitivsten Rachegelüsten schnell nachgeben konnte, ohne über den durchaus intendierten Kreis der Berliner Juden hinaus allzu viel Aufsehen zu erregen. Eine völlige Geheimhaltung gegenüber dem Ausland gelang jedoch, wie bereits erwähnt, nicht.

Aufgrund der erwähnten Telefonnotiz werden häufig Himmler und Heydrich für die Initiatoren des Geiselmordes gehalten. Doch die Tagebuchaufzeichnungen des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels legen nahe, dass der Berliner Gauleiter sowie Adolf Hitler persönlich sowohl den Plan als auch den Entschluss zum Massenmord fassten. Denn bereits am 23. Mai, also drei Tage vor dem Telefongespräch der beiden SS-Führer, legte Goebbels Hitler einen Bericht über den Brandanschlag im Lustgarten vor, wobei er besonders hervorhob, dass sich unter den bis dahin verhafteten Widerstandskämpfern fünf Juden befanden. Hitler äußerte sich, wie Goebbels schreibt, „aufs äußerte empört“ und erlaubte ihm die sofortige Verhaftung von 500 jüdischen Geiseln. Die Berliner Polizeibehörden sollten unverzüglich eine Liste zusammenstellen. Auch in den folgenden Tagen sprach Goebbels immer wieder mit Hitler über den Brandanschlag und war bestrebt, dessen Wut weiter anzustacheln. Sie redeten sich dabei offensichtlich gegenseitig in Rage, erinnerten sich der Dolchstoßlegende über die angeblich von Juden angezettelte Novemberevolution 1918 und beschworen mit Bezug auf den Brandanschlag, der nur geringfügigen Schaden angerichtet hatte, die Warnungen vor erneuten, in erster Linie durch Juden initiierten Aufständen. Nur durch die möglichst schnelle Deportation der Juden und ihre Vernichtung war dieser Gefahr, so lautete ihre gemeinsame Schlussfolgerung, zu begegnen. Für den Gauleiter von Berlin war der Brandanschlag vor allem ein willkommener Anlass, um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen, Berlin als erste Großstadt des Deutschen Reiches „judenfrei“ zu machen.

Himmler und Heydrich dagegen, sie betätigten sich als die verantwortlichen Henker des „Dritten Reiches“, wie Thomas Mann in einer Rundfunkansprache den am 4. Juni 1942 an den Folgen des Handgranatenanschlags gestorbenen Heydrich zu Recht nannte. Angehörige des KZ-Kommandanturstabes von Sachsenhausen führten den Massenmord aus. Dabei trat vor allem der damalige Lagerführer von Sachsenhausen und spätere Kommandant des KZ Ravensbrück, Fritz Suhren, hervor. Seine Aufgabe war es, gemeinsam mit dem 1. Rapportführer Gustav Sorge die Männer des Exekutionskommandos aus den SS-Blockführern auszuwählen und zu befehligen. Da keiner der Täter der Mordaktion nach dem Krieg deshalb verurteilt wurde – es wurden im Gegenteil mehrere Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt -, kennen wir außer den Hauptverantwortlichen bis heute die Namen der Mörder nicht. Als geeigneten Ort für den Massenmord wählten sie die gerade fertig gestellte „Station Z“ aus. In diesem als Einheit von Krematorium und Vernichtungsort geplanten Gebäude befand sich eine Erschießungsanlage, deren Funktionsfähigkeit die SS an den jüdischen Opfern, wie der im Krematorium arbeitende KZ-Häftling Paul Sakowski berichtet, erstmals testete.

Innerhalb weniger Stunden müssen die Berliner Polizeibehörden die Liste der 500 Geiseln zusammengestellt haben. Die Berliner Juden, unter ihnen viele ältere Männer, wurden durch die Gestapo verhaftet und in zwei Transporten am 28. und am 29. Mai nach Sachsenhausen verschleppt; es handelte sich insgesamt um 404 Personen. Inzwischen war entschieden worden, auch aus dem Kreis der bereits in Sachsenhausen inhaftierten KZ-Häftlinge 96 Juden zu selektieren und gemeinsam mit den verschleppten jüdischen Geiseln des ersten Transports zu ermorden. Vermutlich am Abend des 28. Mai tötete die Lager-SS in der „Station Z“ die zuvor selektierten jüdischen KZ-Häftlinge. Unter ihnen war auch der 51-jährige Kantor der jüdisch orthodoxen Gemeinde Adass Jsroel. Als aus Polen stammender Jude war er bereits kurz nach Kriegsbeginn im September 1939 unter pogromartigen Begleitumständen nach Sachsenhausen verschleppt worden. Am Morgen des 29. Mai schließlich setzten die Täter ihre Mordaktion fort. 154 Berliner Juden wurden in der „Station Z“ einzeln mit Genickschüssen getötet. Zu dieser Opfergruppe gehörte auch der jüdische Anarcho-Syndikalist Leo Fichtmann. Seine Töchter, Minna und Gerda, waren Mitglieder der kommunistisch-jüdischen Widerstandsgruppe um Herbert Baum.

Doch mit den 250 Ermordeten war das von Goebbels vorgeschlagene Geiselkontingent noch nicht erschöpft. Am Abend des gleichen Tages kam der zweite Transport mit weiteren 250 Berliner Juden im KZ bei der Reichshauptstadt an. Wer warum entschieden hatte, diese zweite Gruppe nicht sofort zu ermorden, sondern sie in die Baracken des Lagers einzuweisen, wissen wir nicht. Gestapochef Heinrich Müller teilte jedenfalls noch am gleichen Abend den zu ihm bestellten Vertretern der Reichsvereinigung deutscher Juden, unter ihnen Leo Baeck, und der jüdischen Kultusgemeinden in Wien und Prag mit, man habe von 500 verhafteten jüdischen Geiseln 250 wegen des Brandanschlages erschießen und weitere 250 in ein Lager transportieren lassen. Diese Vergeltungsaktion sollten sie, so lautete der Auftrag des Gestapochefs an die jüdischen Vertreter, allen Juden bekannt machen. Wie wenig Scheu die Nationalsozialisten hatten, sich zu diesem Massenmord zu bekennen, belegt auch die Praxis des Standesamtes in Oranienburg. Dort trugen die städtischen Beamten in die Totenscheine als Todesursache ungeschminkt ein: „Auf Befehl erschossen“.

Mit Hilfe unseres aus den lückenhaft überlieferten Dokumenten der KZ- Kommandantur erstellten Totenbuches können wir inzwischen aber nachweisen, dass in den folgenden fünf Monaten bis zur Deportation aller noch lebenden jüdischen Häftlinge am 22. Oktober 1942 nach Auschwitz weitere mindestens 126 Berliner Juden aus dem zweiten Geiseltransport gleichfalls starben. Wie und unter welchen Umständen ist nach wie vor ungeklärt. Emil Büge, einer der wichtigsten Zeitzeugen, dem es gelang, Kassiber aus der mit der Totenkartei befassten Abteilung der Kommandantur herauszuschmuggeln, berichtet, dass sogar 133 der jüdischen Geiseln nach und nach „ zu Tode geschunden“ wurden, wie er formuliert. Tag für Tag verzeichnete die Lager-SS in dieser Zeit etwa 20-40 Tote, darunter in stupender Regelmäßigkeit 2-4 Berliner Juden aus dem zweiten Transport. Auch unter den Opfern der Krankenmordaktion 14f13 Anfang Oktober 1942 mit dem von der SS zynisch bezeichneten Namen „Aktion Kräutergarten“ befanden sich 15 Berliner Geiseln. Sie wurden in der Gaskammer der Euthanasie-Anstalt Bernburg erstickt. Das weitere Schicksal der nach Auschwitz verschleppten wahrscheinlich 124 jüdischen Geiseln ist dagegen ungewiss. Wir müssen jedoch befürchten, dass kaum jemand von ihnen seine Befreiung erlebte. Im KZ Sachsenhausen jedenfalls waren der Rache der Nationalsozialisten für den Brandanschlag auf die antibolschewistische Propagandaausstellung damit mindesten 376 Juden zum Opfer gefallen.

Als der Geiselmord in Sachsenhausen stattfand, waren die Vernichtungslager Belzec und Chelmno bereits in Betrieb und die beiden Vernichtungslager der nach dem getöteten Reichsprotektor genannten Mordaktion „Reinhardt“, Sobibor und Treblinka, in Planung bzw. im Bau. In Auschwitz- Birkenau richtete die SS etwa zur gleichen Zeit in einem alten Bauernhaus eine neue große Gaskammer ein. Historiker haben errechnet, dass bis zum Zeitpunkt des Heydrich-Attentats etwa drei Viertel der sechs Millionen Juden, die im Rahmen des Genozids ermordet wurden, noch am Leben waren, neun Monate später aber war die Anzahl der Ermordeten bereits auf 4,5 Millionen angewachsen. Der berühmte israelische Holocaust-Forscher Saul Friedländer vertritt daher die These, dass neben dem gelungenen Attentat auf Heydrich auch dem Brandanschlag in Berlin und dem darauf folgenden Geiselmord in Sachsenhausen in der Geschichte der Shoah eine besondere Bedeutung zukommt. Beide Aktionen führten nämlich dazu, dass Hitler, Goebbels und Himmler die Shoah auf allen Ebenen enorm zu beschleunigen versuchten, um, wie sie erklärten, bis zum Ende des Jahres 1942 die Pläne zur Vernichtung aller europäischen Juden zu realisieren.