Rede: Die Opfer der „Euthanasie-Aktion 14f13“ im KZ Sachsenhausen, 27. Januar 2011

GEDENKTAG FÜR DIE OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS
27. JANUAR 2011
PROF. DR. GÜNTER MORSCH

Sehr geehrte Überlebende der Lager und Opfer des Nationalsozialismus
Sehr geehrter Herr Präsident des Landtages von Brandenburg,
Herr Stellvertretender Ministerpräsident,
Herr Präsident des brandenburgischen Verfassungsgerichts,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen begrüße ich Sie alle ganz herzlich zu unserer heutigen Gedenkveranstaltung. 1996 hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog auf Anregung des unvergessenen Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, den Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz zum Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt. In dieser Proklamation heißt es: „1995 jährte sich zum 50. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In diesem Jahr haben wir uns in besonderer Weise der Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns und des Völkermordes erinnert und der Millionen Menschen gedacht, die durch das nationalsozialistische Regime verfolgt, gequält und ermordet wurden….Die Erinnerung darf nicht enden“, so heißt es dort weiter; „sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“

Inzwischen wird dieser Tag nach einem Beschluss der Vollversammlung der Vereinten Nationen in der ganzen Welt begangen. Bis zum 27 Januar 2008 hatten 34 der 55 OSZE-Mitgliedsstaaten den Gedenktag eingeführt, darunter allein 21 Länder in Europa. Jedes dieser Länder hat einen eigenen ganz besonderen Weg gefunden, um die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus mit der jeweiligen nationalen Geschichte zu verknüpfen. In Brandenburg richten die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und der Landtag diesen Tag gemeinsam am authentischen Ort der Verbrechen aus, dort wo sich u. a. die Zentrale Verwaltung aller Konzentrationslager zwischen 1938 und 1945 befand, in der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen. Dafür sind wir Ihnen, sehr geehrter Herr Landtagspräsident, dem Präsidium sowie allen Fraktionen des Brandenburgischen Landtages, die diesen Beschluss einvernehmlich mittragen, sehr dankbar.

Es ist mir dabei eine große Freude, auch in diesem Jahr wieder die anwesenden Abgeordneten des Bundestages, des Brandenburgischen Landtages sowie des Berliner Abgeordnetenhauses begrüßen zu dürfen. Ich begrüße ferner die Mitglieder der Brandenburgischen Landesregierung und die Vertreter des Berliner Senats. Ich begrüße den Landrat des Kreises Oberhavel, den Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die Mitglieder des Kreistages sowie der Stadtverordnetenversammlung. Ganz besonders dankbar sind wir, dass erneut Angehörige und Repräsentanten ausländischer Botschaften und Mitglieder des diplomatischen Corps an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ich danke außerdem allen Vertretern der Parteien und Gewerkschaften, der Kirchen sowie jüdischen Gemeinden, den Vertretern von Hochschulen und Schulen sowie von Verbänden und Vereinen, und auch den Mitgliedern der Gremien der Stiftung für ihre stete Beteiligung an unserer Gedenkveranstaltungen, zu der viele von ihnen Kränze nieder legen werden. Außerdem möchte ich ausdrücklich auch alle Schülerinnen und Schüler begrüßen, über deren Anwesenheit wir uns immer ganz besonders freuen. Die Schülerinnen und Schüler der Potsdamer Schule für Gesundheitsberufe haben für unsere Veranstaltung mit der Hilfe der bewährten Theaterpädagogin Gela Eichhorn eine szenische Lesung einstudiert, die sie im Rahmen unserer Veranstaltung vorführen werden. Dafür möchte ich schon jetzt allen Beteiligten sowie den Musikern der Musikhochschule Hans Eisler ganz herzlich danken.

In der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen haben wir diese gelegentlich fälschlicherweise als Holocaust-Tag bezeichnete Gedenkveranstaltung bisher immer einer speziellen Gruppe unter den verschiedenen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet. Dabei ging und geht es uns zum einen darum, die große Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Gegner und Opfer des NS-Regimes deutlich werden zu lassen. Wir entsprechen damit nicht zuletzt dem Wunsch der Überlebenden, wie er immer wieder mit großem Nachdruck geäußert wurde. Zum anderen wollen wir den Anlass nutzen, um die besondere Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Gesellschaft auf Opfergruppen und historische Ereignisse zu lenken, die im Laufe der Jahre zumindest zeitweise aus dem Blick geraten sind oder sogar vergessen und verdrängt wurden.

In diesem Jahr legen wir einen besonderen Akzent auf die Opfer der von den NS-Tätern nach dem Aktenzeichen der KZ-Inspektion in Oranienburg für Gastod, 14f13, benannten Krankenmordaktion in den Konzentrationslagern. Dieser alle damaligen Konzentrationslager umfassende Massenmord begann im April 1941, also vor 70 Jahren, im KZ Sachsenhausen. Doch es ist nicht nur der runde Jahrestag allein, warum wir der etwa 15.-20.000 Opfer dieser ersten großen Gasmordaktion in den Konzentrationslagern gedenken. Wir wollen damit auch inhaltlich an den Gedenktag im vorigen Jahr anknüpfen, als wir an die mehr als 3.000 KZ-Häftlinge erinnerten, die von der SS absichtlich durch Kälte, Unterernährung, Krankheiten und Misshandlungen bereits im ersten Kriegswinter 1939/40 getötet wurden. Denn sowohl unter den Opfern der Massenmordaktion 14f13 als auch unter denen des ersten Kriegswinters waren in erster Linie kranke und so genannte körperschwache oder aus anderen Gründen arbeitsunfähige Häftlinge, Menschen also, die von den Nationalsozialisten als wertlos und als unnütze Esser betrachtet und deshalb getötet wurden.

Diese lebens- und menschenfeindliche Einstellung war nicht nur auf den engeren Kreis derjenigen begrenzt, die sich auch politisch zum Nationalsozialismus bekannten. Schon lange vor der Machtergreifung Hitlers 1933 war die Überzeugung weit verbreitet, dass die Gesellschaft ein Recht dazu habe, so genannte Ballastexistenzen, wie die Fachleute bestimmte Bevölkerungsgruppen abqualifizierten, in irgendeiner Form auszuscheiden. Es waren vor allem auch Akademiker, Mediziner, Anthropologen, Rassentheoretiker, Sozialwissenschaftler, Bevölkerungswissenschaftler und viele andere Berufe mehr, die mit großer Gefühlskälte und Überheblichkeit den sozialen Unterhaltsaufwand, den sich die Gesellschaft leistete, dem ökonomischen Nutzen der Menschen in Geldwert gegen rechneten, um dann, wie z. B. die beiden Psychiater Binding und Hoche schon 1920, die Vernichtung so genannten lebensunwerten Lebens zu verlangen. Unter dem maßgeblichen Einfluss von Eugenik und Rassenhygiene setzte sich die Vorstellung durch, dass die Gesellschaft einem Garten gleiche, der immer wieder von unnützen Pflanzen, von Schädlingen und Parasiten gesäubert werden müsse, um das Wachstum der Nutzpflanzen zu verbessern und zu steigern. Wer zu den zu schützenden und zu hegenden und wer zu den auszurottenden Pflanzen gehörte, das konnte wechseln und leicht gerieten die Menschen von der einen in die andere Gruppe. Dabei hatten Bio- und Bevölkerungspolitik sowohl eine eher glänzende, positive und fördernde als auch eine dunkle, sanktionierende, strafende, verletzende und vernichtende Seite.

Wie sehr aber beide Seiten untrennbar zusammengehörten und mit einander verbunden waren, offenbarte sich rasch, als die Nationalsozialisten sukzessive die bisherigen rechtlichen Schranken lockerten. Und als dann der Kriegsbeginn 1939 die letzten Hemmungen beseitigte, begann geradezu ein Wettlauf verschiedener Dienststellen und Sozialeinrichtungen darum, Methoden zu finden um die so genannten Ballastexistenzen los zu werden. Das ist der Grund, weshalb die Nationalsozialisten bei ihren Mordaktionen immer wieder gerade unter den Berufsgruppen, denen die Gesellschaft die Pflege kranker Menschen anvertraut hatte, zahlreiche willige Helfer und Mörder fanden. So war es auch bei der Giftgasmordaktion 14f13.

Wir dürfen es daher nicht zulassen, dass die Erinnerung an den untrennbaren Zusammenhang beider Seiten von Bio- und Bevölkerungspolitik, von Eugenik und Sozialhygiene verloren geht oder gar absichtlich verschwiegen wird. Die oft zitierten Mütter und Väter des Grundgesetzes haben nachweislich gerade aus diesem Grunde in voller Absicht als ersten Satz im Artikel I formuliert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ „Die Erinnerung darf nicht enden“, heißt es in der bereits zitierten Proklamation des Bundespräsidenten zur Einführung des Tages der Opfer des Nationalsozialismus. Sie darf natürlich auch nicht auf den 27. Januar beschränkt bleiben, so möchte man ergänzen, und wie ein lästiger Mantel in den wichtigen gesellschaftlichen Debatten der Gegenwart einfach abgeworfen werden.