Rede: Die Opfer des ersten Kriegswinters 1939/40, 27. Januar 2010

GEDENKTAG FÜR DIE OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS

27. JANUAR 2010

PROF. DR. GÜNTER MORSCH

Sehr geehrte Überlebende der Lager und Opfer des Nationalsozialismus
Herr Landtagspräsident Fritsch
Herr Stellvertretender Ministerpräsident Markov.
Frau Vizepräsidentin Michels,
Lieber Herr König,

Meine Damen und Herren,
Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen begrüße ich Sie alle ganz herzlich zu unserer heutigen Gedenkveranstaltung. 1996 hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog der Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz zum Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Inzwischen wird dieser Tag nach einem Beschluss der Vollversammlung der Vereinten Nationen in der ganzen Welt begangen. In Brandenburg richten die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und der Landtag diesen Tag gemeinsam am authentischen Ort aus, in der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen. Dafür sind wir Ihnen, sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sowie allen Fraktionen des Brandenburgischen Landtages, die diesen Beschluss einvernehmlich mittragen, sehr dankbar.

Es ist mir dabei eine große Freude auch in diesem Jahr wieder die anwesenden Abgeordneten des Deutschen Bundestages, des Brandenburgischen Landtages sowie des Berliner Abgeordnetenhauses begrüßen zu dürfen. Ich begrüße ferner die Mitglieder der Brandenburgischen Landesregierung; Frau Ministerin Münch sowie Herrn Minister….., und des Berliner Senats, den Landrat des Kreises Oberhavel, den Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die Mitglieder des Kreistages sowie der Stadtverordnetenversammlung. Ganz besonders dankbar sind wir, dass erneut Angehörige und Repräsentanten ausländischer Botschaften und Mitglieder des diplomatischen Corps an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Außerdem möchte ich ausdrücklich auch alle Schülerinnen und Schüler begrüßen, über deren Anwesenheit wir uns sehr freuen. Die Schülerinnen und Schülern eines Geschichtskurses des Oranienburger Runge Gymnasiums haben für unsere Veranstaltung mit der Hilfe der bewährten Theaterpädagogin Gela Eichhorn sowie ihrem Lehrer Tom Meinecke und unserem Praktikanten Steffen Bennewitz eine szenische Lesung einstudiert, die sie im Rahmen unserer Veranstaltung vorführen werden. Dafür möchte ich schon jetzt allen Beteiligten ganz herzlich danken.

In der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen haben wir diesen gelegentlich fälschlicherweise als Holocaust-Tag bezeichnete Gedenkveranstaltung bisher immer einer speziellen Gruppe unter den verschiedenen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet, wie z. B. ganz zu Anfang den Sinti und Roma, den Homosexuellen, den so genannten Asozialen oder den Zeugen Jehovas. In den letzten Jahren erinnerten wir an das Schicksal der Opfer der nationalsozialistischen Militärjustiz, an die in den Lagern inhaftierten Kinder und Jugendlichen und schließlich im letzten Jahr an die aus Spanien stammenden Häftlinge des KZ Sachsenhausen. Dabei ging und geht es uns zum einen darum, die große Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Gegner und Opfer des NS-Regimes deutlich werden zu lassen. Wir entsprechen damit nicht zuletzt dem Wunsch der Überlebenden, wie er immer wieder auch von dem vor wenigen Wochen verstorbenen Präsidenten des Internationalen Sachsenhausen Komitees, Pierre Gouffault, mit großem Nachdruck geäußert wurde. Zum anderen wollen wir den Anlass nutzen, um die besondere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und Gesellschaft auf Opfergruppen und historische Ereignisse zu lenken, die im Laufe der Jahre zumindest zeitweise aus dem Blick geraten sind oder sogar vergessen und verdrängt wurden.

In diesem Jahr legen wir einen besonderen Akzent auf die Opfer des ersten Kriegswinters 1939/40 im Konzentrationslager Sachsenhausen. Damit greifen wir ein Thema auf, das die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten aus Anlass des siebzigsten Jahrestags des Beginns des Zweiten Weltkrieges bereits im November vorigen Jahres mit der großen Sonderausstellung „Vergessene Vernichtung? Die Verfolgung der polnischen und tschechischen Intelligenz in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück“ heraus gestellt hat. Der deutsche Rassen- und Vernichtungskrieg begann, wie wir verdeutlichen wollen, nicht erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941, sondern bereits mit dem Feldzug gegen Polen im September 1939.

Mit dem Kampf gegen den äußeren Feind aber wandelte sich auch der Kampf gegen den inneren Feind. Theodor Eicke, der als Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der Totenkopfverbände das System der Konzentrationslager vom nur wenige hundert Meter entfernten so genannten T-Gebäude aus verwaltete, hielt hier in Oranienburg gleich zu Kriegsbeginn vor seinen Offizieren der Konzentrationslager SS eine wegweisende Rede. Darin bezeichnete er es als die von Hitler der SS übertragene Hauptaufgabe, jeden nur auftauchenden Gegner des Staates und jeden Saboteur am Kriege rücksichtslos zu vernichten. Am selben Abend, so berichtet der damalige Adjutant des Kommandanten von Sachsenhausen, Rudolf Höß, wurde in der Sandgrube des nahe gelegen Industriehofes der kommunistische Arbeiter Johann Heinen erschossen, weil er sich aus politischen Gründen geweigert hatte, Luftschutzgräben auszuheben. Von da an erfolgten regelmäßig Exekutionen im zu diesem Zeitpunkt weitaus größten aller Konzentrationslager. Nur ein Teil der Opfer, wie z. B. der vor den Augen des gesamten Lagers erschossene Zeuge Jehova August Dickmann, waren Häftlinge; die meisten wurden von der SS in das KZ bei der Reichshauptstadt lediglich hin transportiert, um sie dort ohne großes Aufsehen und nur auf den direkten Befehl Himmlers hin zu erschießen.

Offenbar verstanden die SS-Männer Eickes Ansprache auch als eine Aufforderung, die Häftlinge noch ungehemmter und brutaler zu misshandeln als zuvor. Der Reichsführer SS schuf dafür die rechtlichen Voraussetzungen, indem er mit Kriegsbeginn alle SS-Angehörigen einer eigenen Sondergerichtsbarkeit unterstellte. Damit mussten nun endgültig die KZ-Täter keine staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen mehr befürchten. Ein dem Kommandanten unterstellter, so genannter Gerichtsführer entschied seitdem darüber nach Gutdünken. Die ersten, die die völlige Entgrenzung der Gewalt zu spüren bekamen, waren die etwa 1.500 im September 1939 im Lager neu aufgenommenen Häftlinge. Ein Teil von ihnen waren bekannte und prominente Vertreter der Parteien und Gewerkschaften der Weimarer Republik, die präventiv nach Sachsenhausen verschleppt wurden, darunter zahlreiche ehemalige Abgeordnete des Reichstages und des preußischen Landtages. Johlend und triumphierend stürzten sich die SS-Männer auf die größtenteils älteren Männer und schlugen, traten oder quälten sie anderswie so lange, bis viele von ihnen den ungezählten Verletzungen erlagen.

Auch der Terror gegen die Juden erfuhr zu dieser Zeit eine bedeutsame, kaum zu überschätzende Steigerung. Den etwa 1.000 bereits unter pogromartigen Begleitumständen nach Sachsenhausen verschleppten, überwiegend aus Polen stammenden, aber in Deutschland wohnenden Juden trat die SS vom Tag ihrer Einlieferung an mit einem Ausmaß von Brutalität gegenüber, das der überlebende Zeitzeuge Leon Szalet mit dem Begriff des „Vernichtungsexperiments“ charakterisierte. Ich bin sehr dankbar, dass Dr. Adam König gleich über die Erfahrungen berichten wird, die diese in besonderem Maße drangsalierte und gequälte Häftlingsgruppe im Lager machen musste.

Schließlich verschärfte die KZ-Inspektion in allen Lagern und für alle Häftlinge die Lebens- und Haftbedingungen auf vielfältige Weise. Mit der drastischen Absenkung der Lebensmittelrationen wurden Unterernährung, Krankheiten und Seuchen zur ständigen Lebensbedrohung für die Mehrheit der Häftlinge. Hinzu kamen verstärkt angewandte Lagerstrafen und ein immer schikanöserer Arbeitsdrill, bei dem die Häftlinge sich nur noch im Laufschritt bewegen durften.

Alle diese Veränderungen, die in der Welt der Konzentrationslager auf übergeordnete Befehle hin oder mit der stillschweigenden Duldung der obersten SS-Führung nach Kriegsbeginn Platz griffen, führten bereits im Herbst 1939 zu einem allmählichen Anstieg der Totenzahlen im KZ Sachsenhausen. Mit dem Beginn der Forstperiode aber, am 21. November 1939, potenzierten diese zu Kriegsbeginn gelegten Bedingungen sprunghaft ihre für die Häftlinge verheerenden Auswirkungen. In den darauf folgenden sechs Monaten bis Ende Mai 1940 starben fast 3.000 KZ-Häftlinge. Bei einer durchschnittlichen Belegung des Lagers mit etwa 11.-12.000 Häftlingen bedeutet das, dass etwa ein Viertel aller Insassen des Konzentrationslagers bei der Reichshauptstadt den ersten Kriegswinter 1939/40 nicht überlebte. Was waren die Ursachen dieses Massensterbens, das die bis dahin bekannten Dimensionen bei weitem übertraf?

Zweifelsohne kann man den Winter 1939/40 als ungewöhnlich hart bezeichnen. 13 Wochen lang, vom 9. Dezember 1939 bis zum 11. März 1940, dauerte die Frostperiode ununterbrochen an. Ab dem zweiten Weihnachtsfeiertag wurden zweistellige Tagesmittelwerte unter Null gemessen und vom 6. Januar bis zum 18. Februar erreichten die Tiefstwerte mehr als minus 20 Grad, mit Spitzenwerten von 25 und 26 Grad Kälte während mehrerer Nächte. Entscheidend aber war, dass die Auswirkungen dieser in jeglichem Lager ohnehin lebensbedrohlichen Wetterbedingungen durch die Lager-SS auf unterschiedliche Weise drastisch und willkürlich verschlimmert wurden. So erhielten die Häftlinge überwiegend keine warme Winterkleidung, sondern mussten diese teilweise sogar wieder abgeben. Der Kommandant verfügte außerdem ein allgemeines Heizverbot während des Tages; erst abends durften die kleinen Kanonenöfen, die die Aufenthaltsräume in den zugigen Holzbaracken ohnehin kaum anwärmten, angefeuert werden. Da schließlich während der Frostperiode die meisten Außenarbeiten eingestellt werden mussten, richtete die Lagerführung so genannte Stehkommandos ein. Zunächst wurden diejenigen Häftlinge, für die man keine Arbeit hatte, in eine große Baugrube im Industriehof gejagt, wo sie den ganzen Tag über im Freien eng aneinandergepresst unter der Aufsicht der SS stundenlang regungslos verharrten. Als aber infolge der Wetterbedingungen bis zu 9.000 Häftlinge beschäftigungslos wurden, schickte man die Stehkommandos in leer geräumte, ungeheizte Baracken, wo die ohnehin bereits stark durch Hunger, Krankheiten und Frost Geschwächten sogar in den Toilettenräumen, auf kleinstem Raum und, um jedes Anlehnen zu verhindern, immer im Abstand von einem Meter zu den Wänden, zusammengepfercht wurden. Nach der Logik der SS schließlich brauchten die Häftlinge, die nicht arbeiteten, auch weniger zum Essen. Sie kürzten daher die ohnehin verringerten Lebensmittelrationen um die Hälfte, wodurch die Stehkommandos zusätzlich zu Hungerblocks wurden.

Auch die zu Kriegsbeginn durch die KZ-Inspektion verfügte Einschränkung der Ernährung wurde durch die Lager-SS willkürlich verschlimmert. Man ließ die für die Häftlingsküche bereits bei ihrer Anlieferung häufig erfrorenen Kartoffeln und Rüben verfaulen, bevor sie verarbeitet werden durften. Das daraus zubereitete Essen war kaum genießbar und verursachte die Ausbreitung von Ruhrerkrankungen. Erstmals in der Geschichte des KZ Sachsenhausen sah man bettelnde und in den Abfallhaufen herum stochernde so genannte Muselmänner, die zumeist bald danach verstarben. Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, dass die durch fehlende oder verdorbene Nahrung oder durch Erfrierungen und Kälte verursachten Erkrankungen in dem zu dieser Zeit allein aus vier Baracken bestehenden Häftlingsrevier nicht oder kaum behandelt wurden. Die SS-Blockführer trieben vielmehr die verschiedentlich zu Hunderten in langen Schlangen anstehenden Kranken zurück, wenn sie es überhaupt wagten, sich zu melden.

Gegenüber den Häftlingen verwies die Lagerführung zur Begründung für Hunger, Kälte und Krankheiten auf die durch den Krieg erforderlichen Entbehrungen, die von allen so genannten Volksgenossen getragen werden müssten. Doch anders als in früheren und späteren Phasen der deutschen Geschichte herrschte bei der deutschen Bevölkerung zu Kriegsbeginn kaum ein ernsthafter Versorgungsmangel. Gewisse Engpässe hatte es auch in den Jahren der Autarkiewirtschaft bereits seit der Machtergreifung 1933 gegeben und an das System von Lebensmittelkarten war die Bevölkerung allmählich schon in der Vorkriegszeit gewöhnt worden. Das war der Grund, weshalb kleinere Einschränkungen bei der Versorgung mit Brennmaterial und Kartoffeln leicht ausgeglichen werden konnten. Jedenfalls kam es nach gleich lautenden geheimen Berichten sowohl der NS-Polizeidienste als auch des illegalen Widerstandes kaum zu gravierenden Krisen in der Versorgung der deutschen Bevölkerung. Für die Deutschen brachte der erste Kriegswinter also weder Hunger noch Erfrierungen.

In den Erinnerungen der Zeitzeugen wird dem Winter 1939/40 nicht nur wegen der außerordentlich schlechten Lebens- und Haftbedingungen ein besonders herausragender Platz eingeräumt, sondern vor allem auch wegen der in dieser Zeit offenbar besonders häufigen Exzesse der Lager-SS. Auch die später in der SBZ/DDR bzw. der Bundesrepublik geführten Strafverfahren gegen KZ-Täter von Sachsenhausen behandeln vielfach Verbrechen, die in dieser Phase begangen wurden. Die schlimmsten und berüchtigsten SS-Männer von Sachsenhausen, wie z. B. Gustav Sorge, Wilhelm Schubert, Richard Bugdalle, Otto Kaiser, Martin Knittler oder Fritz Fickert, prägten durch ihre teilweise krankhaften sadistischen Exzesstaten die Erinnerungen der Häftlinge an den ersten Kriegswinter. Diese und andere SS-Täter nutzten die durch den harten Winter verursachten Bedingungen in jeder nur denkbaren Form aus, um Häftlinge zu misshandeln, zu quälen und zu töten. In besonderem Maße waren davon zu dieser Zeit die Häftlinge der so genannten Isolierung betroffen. In diesem vom übrigen Lager durch Stacheldraht abgetrennten Bereich waren nicht nur die Strafkompanie, sondern zeitweise auch alle als Homosexuelle, Zeugen Jehovas oder jüdische Rasseschänder verfolgten Häftlinge unter besonders schweren Haftbedingungen zusammengepfercht. Eine zynisch von der SS als „Kaltwasserkur“ bezeichnete besondere Tortur war u. a. verantwortlich dafür, dass selbst die SS-Lagerärzte auf eine auffällige Häufung von Toten aus der Isolierung aufmerksam wurden, die alle aufgrund vereiterter Lungen gestorben waren. Die SS-Männer unter Führung des Chefs der Isolierung, Richard Bugdalle, ließen, wie die Gerichte später nachwiesen, täglich mehrere Häftlinge in der Eiseskälte vor den Baracken im so genannten Sachsengruß, also in der Hocke und mit vorgestreckten Armen, sitzen und übergossen sie in regelmäßigen Abständen mit kaltem Wasser. In der Folge erfroren ihre Opfer noch im Laufe der Tortur im Freien oder verstarben kurz darauf an Lungenentzündung in der Baracke. Weitere Berichte über ähnliche Exzesstaten der SS-Männer, wie vor allem über die häufig nachts erzwungen stundenlangen Rundläufe der jüdischen Häftlinge – barfuss und lediglich im Hemd – um die Baracken herum, ließen sich ohne Mühe anfügen.

Als eine besonders perfide Mordaktion, bei der die Lagerführung die lebensfeindlichen Wetterbedingungen ausnutzte, wird der Appell am 18. Januar 1940 erinnert. Mehr als 800 körperschwache Häftlinge mussten auf Befehl des Lagerführers Rudolf Höß stundenlang bei eisiger Kälte auf dem Appellplatz stehen bleiben. Trotz aller Bemühungen der Häftlingsfunktionäre, Höß zum Abbruch zu bewegen, starben in direkter Folge mindestens etwa 140 Häftlinge; die Anzahl der Erfrierungen blieb unbekannt. Wir werden in der anschließenden szenischen Lesung über den Verlauf dieses Mordappells noch Näheres hören. Die Gründe für diese Tat wurden bisher in einer willkürlichen Exzesstat des späteren Kommandanten von Auschwitz vermutet. Eine genaue Analyse aber der Chronologie des Mordappells und seiner Opfer zeigt, dass er unmittelbar nach einem Besuch des Reichsführers SS in Sachsenhausen stattfand. Dabei empörte sich Himmler, weil er bei seiner unangemeldeten überraschenden Visite weder von der SS noch von den Häftlingen gegrüßt worden sei. Schlimmer noch, zwei im Zellenbau einsitzende Zeugen Jehovas, Robert Ziebold und Franz Welz, weigerten sich, vor ihm aufzustehen, weil sie, so ihre Begründung, nur ihrem Gott diese Ehre bezeigen wollten. Himmler ließ die Beiden daraufhin sofort erschießen. Es kann daher angenommen werden, dass die am Tag darauf vom Lagerführer befohlene und beaufsichtige Mordaktion entweder direkt vom Reichsführer SS befohlen wurde oder von der Lager-SS als Rache an den Häftlingen und Beweis ihrer Härte ins Werk gesetzt wurde. In beiden Fällen muss der Appell vom 18. Januar als erste geplante Massenmordaktion im Konzentrationslager Sachsenhausen angesehen werden.

Dabei war es kein Zufall, dass so genannte körperschwache Häftlinge Zielscheibe dieser ersten Massenmordaktion waren. Denn auch bei einer genaueren Betrachtung aller Opfer des ersten Kriegswinters bestätigt sich der Eindruck, dass die Vernichtungspolitik der Konzentrationlager-SS in dieser Phase sich vor allem gegen sozial und rassisch stigmatisierte Häftlingsgruppen richtete. Die große Mehrheit aller Opfer nämlich ist in erster Linie der Häftlingskategorie der so genannten Asozialen zuzurechnen, worunter die SS eine sehr breite und unterschiedliche Gruppe deutscher Häftlinge zählte. Mehr als 6.000 Menschen, die mit schwarzen Winkeln im KZ gekennzeichnet wurden, waren vor allem im Zuge zweier großer Verhaftungsaktionen 1938 u. a. wegen Bettelei und Arbeitsverweigerung, aber auch wegen Lohnkämpfen und Streiks oder einfach als soziale Außenseiter nach Sachsenhausen verschleppt worden. Unter den Opfern des ersten Kriegswinters waren aber auch jüdische Häftlinge sowie so genannte Berufsverbrecher überrepräsentiert. Deutsche Schutzhäftlinge dagegen, also die mit den roten Winkeln gekennzeichneten, aus politischen Gründen Inhaftierten, waren von dem Massensterben weit weniger betroffen. Kurz nach Weihnachten verstarben aber auch die ersten aus Krakau verschleppten Professoren der Jagiellonen-Universität sowie der Berg- und Hüttenakademie. Da der Anteil ausländischer Häftlinge zu dieser Zeit aber noch relativ gering war, lässt sich eine gegen polnische oder tschechische Häftlinge speziell gerichtete Vernichtungsabsicht der Lager-SS zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennen. Auch die Alterszusammensetzung der Opfer des ersten Kriegswinters unterstreicht unsere These, dass die außergewöhnlich harten Lebensbedingungen zu dieser Zeit nicht die Ursache, sondern nur das Instrument einer von der SS beabsichtigten Vernichtung waren. Denn die große Mehrheit der Opfer befand sich zum Zeitpunkt ihres Todes in einem jüngeren, den Härten des Lagerlebens besser angepassten Lebensalter unter 50 Jahren.

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, der von Anfang an als Rassen- und Vernichtungskrieg geplant und geführt wurde, radikalisierte sich in den Konzentrationslagern auch der Kampf gegen den inneren Feind. Auf Befehl der zentralen Stellen, insbesondere des Reichsführers SS und der ihm unterstellten, in Oranienburg ansässigen Inspektion der Konzentrationslager, wurden die Lebens- und Haftbedingungen der KZ-Häftlinge auf das Existenzminimum abgesenkt. Zugleich wurden letzte formelle rechtliche Schranken beseitigt, die die Lager-SS in ihrer absoluten Herrschaft über die Häftlinge behinderten. Die völlige Entgrenzung der Gewalt führte zu einem starken Anstieg der Exzesstaten in den Lagern. Unter Ausnutzung der harten und ohnehin lebensfeindlichen Bedingungen des ersten Kriegswinters ging die SS im Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt erstmals zu geplanten Massenmordaktionen über. Deren Opfer waren zu diesem Zeitpunkt nicht unterschiedslos alle Häftlinge, sondern bestimmte sozial und rassisch stigmatisierte Gruppen. Als so genannte unnütze Esser und Untermenschen hatten sie in den Augen der Konzentrationslager-SS ihr Lebensrecht im Zeichen von Krieg und Lebenskampf verloren und konnten ohne Bedenken zu Tode gequält oder sonst wie ermordet werden. Ihrer, der etwa 3.000 Opfer des ersten Kriegswinters 1939/40 im Konzentrationslager Sachsenhausen, wollen wir daher heute ganz besonders gedenken.