Tag der Opfer des Nationalsozialismus 27. Januar 2017: Opfer des Zellenbaus im KZ Sachsenhausen

 

 

GEDENKTAG FÜR DIE OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS

  1. Januar 2017

OPFER DES NS-TERRORS IM „ZELLENBAU“ DES KZ SACHSENHAUSEN

BEGRÜSSUNG UND EINFÜHRUNG

Prof. Dr. Günter Morsch

 

Sehr geehrte Herr Vizepräsident des Landtages Brandenburg, sehr geehrte Frau Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses,

sehr geehrte Überlebende und Angehörige von Opfern des NS-Terrors,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

„Bin ich in diesem Grab noch ein Mensch aus Fleisch und Blut?“ Diesen Satz schrieb der ehemalige französische Ministerpräsident Paul Reynaud in sein heimlich geführtes Tagebuch, als er von den Nationalsozialisten in den Jahren 1942 und 1943 in einer der achtzig Zellen des Lagergefängnisses im Konzentrationslager Sachsenhausen in Isolationshaft gehalten wurde. Dabei gehörte der konservative Jurist, der zusammen mit Charles de Gaulle jede Form der Beschwichtigungspolitik und Kollaboration gegenüber dem „Dritten Reich“ abgelehnt hatte und deshalb am 7. September 1940 verhaftet worden war, eher zu den privilegierten Häftlingen. Diese waren hauptsächlich in dem nach Osten gerichteten B-Flügel des Zellenbaus bei besserer Verpflegung, Hofgang und Tageslicht untergebracht. Hitler ließ Reynaud ebenso wie die anderen französischen Minister der Ante-Vichy-Regierungen der dritten französischen Republik, Georges Mandel und Yvon Delbos, als politische Geiseln aus dem Lagergefängnis von Sachsenhausen an andere Internierungsorte transportieren. Sie überlebten die Haft im Zellenbau; jedoch nicht alle die Kapitulation Deutschlands.

Für viele andere Häftlinge dagegen, ob sie prominent waren oder nicht, war dieses düstere, lautlose, scheinbar menschenleere Grab der letzte Ort und die prügelnden über die Schmerzen ihrer Opfer Hohn lachenden SS-Männer die letzten Menschen, die sie in ihrem Leben sahen. Ihnen, den getöteten, ermordeten und gequälten Opfern des NS-Terrors im „Zellenbau“ des Konzentrationslagers Sachsenhausen wollen wir heute am Tag der Opfer des Nationalsozialismus in besonderer Weise gedenken.

 

Ich begrüße aus diesem Anlass ganz herzlich die Vizepräsidenten  des Landtages Brandenburg und des Berliner Abgeordnetenhauses, Herrn Dieter Dombrowski und Frau Dr. Manuela Schmidt. Wir freuen uns auch über die Anwesenheit zahlreicher Abgeordneter der demokratischen Fraktionen des Brandenburger Landtages und des Berliner Abgeordnetenhauses. In Brandenburg richten die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und der Landtag gemeinsam die jährliche Gedenkveranstaltung am 27. Januar aus, die, wie es in dem Beschluss des deutschen Bundestages heißt, allen Opfern des nationalsozialistischen Terrors gewidmet ist. Sie findet immer am authentischen Ort der Verbrechen statt, dort wo sich u. a. die Zentrale  aller Konzentrationslager befand,  in der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen. Dafür sind wir Ihnen, sehr geehrte Mitglieder des Landtagspräsidiums, sowie allen demokratischen Fraktionen des Brandenburgischen Landtages, die diesen Beschluss einvernehmlich mittragen, sehr dankbar.

Ich begrüße ferner den stellvertretenden Ministerpräsidenten, Herrn Christian Görke, sowie die anderen Mitglieder der Brandenburgischen Landesregierung und des Berliner Senats. Ich begrüße den Landrat des Kreises Oberhavel, den Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die Mitglieder des Kreistages sowie der Stadtverordnetenversammlung. Ganz besonders dankbar sind wir, dass erneut  zahlreiche Angehörige und Repräsentanten ausländischer Botschaften und Mitglieder des diplomatischen Corps an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ich begrüße die Gesandten der Botschaft Israels sowie die Vertreter der Botschaften Kolumbiens, Österreichs, Polens, Rußlands, Serbiens, der Slowakei,  Spaniens und der Ukraine. Ich danke außerdem allen Vertretern der Parteien, der Gewerkschaften und der Wirtschaft, ich danke den zahlreich anwesenden Repräsentanten der Kirchen sowie der jüdischen Gemeinden Brandenburgs und Berlins sowie des Zentralrats der Juden in Deutschland. Ich begrüße außerdem die Vertreter von Hochschulen und Schulen sowie von Opferverbänden, insbesondere  den Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausen Komitees, Herrn Dik de Boef, sowie die Vorsitzenden und Mitglieder der deutschen Häftlingsvereinigung von Sachsenhausen. Auch  die Mitglieder des Internationalen Beirates der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten mit seinem Vorsitzenden Dr. Thomas Lutz, sowie die Repräsentanten der Sinti und Roma und der Homosexuellen möchte ich herzlich begrüßen. Wir freuen uns sehr über ihre stete Beteiligung an unserer Gedenkveranstaltung, zu der viele von ihnen Kränze nieder legen werden.  Ganz besonders dankbar sind wir auch für die Anwesenheit zahlreicher Schülerinnen und Schüler des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums in Berlin, des Georg-Mendheim-Oberstufenzentrums in Oranienburg sowie des Gymnasiums Panketal, die zum Teil die heutige Gedenkveranstaltung mitgestalten.

Der Zellenbau des Konzentrationslagers Sachsenhausen war, so wie die vergleichbaren Gefängnisse in anderen Konzentrationslagern, unter den zahlreichen unterschiedlichen Orten und Plätzen, wo die SS die Häftlinge quälte und tötete, ein herausgehobener Ort. Als eine „Stätte des Grauens“ bezeichnete eine internationale Häftlingsgruppe den Zellenbau schon im Mai 1945. Unter den einzelnen miteinander verbundenen Teilen der Todesmaschinerie von Sachsenhausen stellten sie das Lagergefängnis, auch Bunker genannt, auf eine Stufe mit der „Station Z“, dem als Einheit von Massenvernichtungsstätte und Krematorium 1942 im Industriehof errichteten großen Steingebäude. Doch Zellenbau und „Station Z“ symbolisieren, wie mir scheint, eher zwei unterschiedliche Formen der Gewalt in den Lagern, die zwar einander ergänzten, aber zugleich die Eckpunkte des Terrorsystems im KZ  beschreiben, das in dieser Form in anderen Haftanstalten des „Dritten Reiches“ im Besonderen und des Zwanzigsten Jahrhunderts im Allgemeinen nicht bestand. Steht die „Station Z“ mit der mechanisierten Massenerschießungsstätte, der Gaskammer und dem automatischen Galgen für den technisch modernen, kalt kalkulierten Aspekt nationalsozialistischer Massenvernichtungsmaschinerien, so ist der Zellenbau eher Symbol der hemmungslosen, völlig entfesselten, eher individuellen Rache- und Gewaltorgie im Grenzbereich zum pathologischen Sadismus.

Im Gegensatz zu den Massenvernichtungsstätten wie der „Station Z“ waren die Lagergefängnisse als ein separater Bereich schon in den frühen Konzentrationslagern bekannt. Vorbilder mögen die Karzer in den Militärkasernen gewesen sein. In der alten Brauerei in Oranienburg z. B., dem frühen KZ der örtlichen SA-Standarte, wurden im berüchtigten Zimmer 16 Häftlinge bei den Verhören gefoltert und einige von ihnen auch ermordet. Unmittelbar daneben, in den ehemaligen Trockenkammern, befanden sich Dunkelarrestzellen für den Vollzug der Lagerstrafen. An dieser schon 1933 praktizierten dualen Funktion der Zellengefängnisse in den Konzentrationslagern änderte sich im Grundsatz bis zur Befreiung der letzten KZ-Häftlinge 1945 kaum etwas: zum einen dienten sie den verschiedenen polizeilichen Ermittlungstellen des KZ ebenso wie übergeordneter Dienststellen als Isolationsorte für Gefangene, die auf Verhöre oder sogar ihre Hinrichtung warten mussten und zum anderen als besonders geeigneter Ort des Vollzugs grausamer, angeordneter Lagerstrafen oder willkürlicher Torturen.

Die vor allem in den Zellen des B-Flügels untergebrachten Häftlinge waren zumeist auf Anordnung der höchsten NS-Staatsführung oder der zentralen Berliner Sicherheitsbehörden nach Sachsenhausen verschleppt worden. Der Zellenbau des „Konzentrationslagers bei der Reichshauptstadt“ war wie zuvor das 1936 geschlossene KZ Berlin-Columbia eine Art Außenstelle des Gestapogefängnisses in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße. Zwischen diesen nur etwa 30 Kilometer voneinander entfernten Einrichtungen pendelte nach Aussagen der SS-Männer mindestens zweimal die Woche eine grüne Minna und brachte die Insassen zu den Verhören der Gestapo und der Kriminalpolizei.  Zu den Gefangenen des Zellenbaus, die zur Vorbereitung von Prozessen in Sachsenhausen von der Gestapo festgehalten wurden, zählten z. B. mehrere Mitglieder der von den Nationalsozialisten nicht zu Unrecht als  militante „Terrorgruppe“ bezeichneten, bisher kaum bekannten kommunistischen Widerstandorganisation „Emil Pietzuch“. Diese mindestens 40 deutschen Kommunisten, unter ihnen nicht wenige Frauen, bereiteten ähnlich wie der etwa zur gleichen Zeit in den Zellenbau verschleppte Georg Elser Sprengstoffanschläge u. a. gegen Propagandaminister Joseph Goebbels und Sabotageaktionen im Falle eines Krieges gegen die Sowjetunion vor. Während einer der in Sachsenhausen Inhaftierten, der Weddinger Arbeiter Kurt Brandt, im KZ Sachsenhausen verblieb und später die gezeigten Zeichnungen aus dem Zellenbau anfertigte, wurden andere im Laufe der Jahre 1939-41 zum Tode oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Namensgeber der Gruppe allerdings, der aus Breslau stammende Zimmermann Emil Pietzuch, konnte zunächst aus Deutschland flüchten und verschwand danach in den Lagern des stalinistischen Gulags.

Aber auch die hohen SS-Führer der Gestapo und der Kriminalpolizei fuhren nicht selten mit ihren abgedunkelten Dienstwagen von Berlin aus direkt bis in das Areal des streng abgeschlossenen Lagergefängnisses und führten ihre Verhöre vor Ort durch. Selbst der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler kam häufig nach Sachsenhausen und versäumte es dabei zumeist nicht, die Häftlinge des Zellengefängnisses seiner persönlichen Inspektion zu unterziehen. Für mindestens drei von ihnen, für den sechzehnjährigen Österreicher Heinrich Petz und die beiden Angehörigen der Zeugen Jehovas, Robert Ziebold und Franz Wels, hatte dieser hohe Besuch ihren sofortigen Tod zur Folge. Sie wurden unmittelbar danach auf persönliche Weisung Himmlers hin erschossen. Der oberste Chef aller Polizei- und SS-Dienststellen fühlte sich durch das despektierliche Verhalten der beiden von der KZ-Bürokratie als „Bibelforscher“ bezeichneten Gefangenen beleidigt, weil diese aus religiösen Gründen bei seiner Besichtigung ihrer Zelle einfach auf dem Boden sitzen geblieben waren.

Die Häftlinge der zentralen Staats- und Sicherheitsapparate wurden in strenger Isolation gehalten. Sie erhielten falsche Namen, durften wenn überhaupt dann nur alleine auf Freigang im kleinen Gefängnishof und erhielten ihre Nahrung nicht durch Häftlingskalfaktoren, sondern ausschließlich von diensthabenden SS-Männern. Bis heute sind nicht wenige der Sondergefangenen immer noch nicht bekannt und manche Schicksale derjenigen Häftlinge, deren Namen trotz größter Geheimhaltung irgendwann durchsickerte, liegen immer noch im Dunkeln. Einige wenige Beispiele will ich nennen: Der als persönlicher Gefangener Hitlers bezeichnete Pfarrer der Bekennenden Kirche Martin Niemöller ist wohl der bekannteste Häftling des Zellenbaus. Er befand sich über drei Jahre, von 1938 bis 1941, in der Zelle 1 des B-Flügels, gleich rechts neben dem Eingang. Der Hitler-Attentäter Georg Elser dagegen war am anderen Ende des B-Flügels in einer für ihn eigens vergrößerten Zelle untergebracht, Tag und Nacht von einem SS-Mann bewacht. Elser und der 1939 gleichfalls wegen des Attentats im Münchener Bürgerbräukeller verhaftete britische Geheimdienstoffizier Payne Best waren wohl die beiden mit insgesamt fünf Jahren Haftdauer am längsten im Zellenbau von Sachsenhausen eingesperrten Gefangenen.  Bis heute unbekannt sind z. B. die genauen Umstände der Ermordung von Herschel Grynspan, dessen Attentat in Paris den Novemberpogrom 1938 auslöste, sowie des obstersten Führers der polnischen Heimatarmee Stepan Rowecki und des Lubliner Weihbischofs Wladyslaw Goral. Von dessen Amtsbruder aus der evangelisch-augsburgischen Kirche in Polen, Bischof Julius Bursche, sowie vom Sohn Stalins, Jacub Dschugaschwilli, wissen wir immerhin die genauen Daten ihres Todes und teilweise auch die Umstände, unter denen sie in Sachsenhausen zu Tode gekommen sind.

Das Reichssicherheitshauptamt in Berlin nutzte Sachsenhausen seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges immer stärker auch als Ort für Hinrichtungen. Viele der Todeskandidaten verbrachten eine letzte Nacht in den Zellen des Bunkers von Sachsenhausen. So sperrte die SS am 30. April 1942 71 durch die Wehrmachtsjustiz verurteilte holländische Widerstandskämpfe  in das Lagergefängnis auf engstem Raum zusammen. Anders als die meisten anderen Opfer, die auf ihre Hinrichtung warteten, durften die Niederländer, unter ihnen hohe Offiziere, Abschiedsbriefe an ihre Angehörigen schreiben. Zwei Tage später, in den Morgenstunden des 2. Mai, wurden alle gruppenweise von SS-Blockführern auf Lastwagen zum Erschießungsgraben im Industriehof des Lagers transportiert und dort von Angehörigen des SS-Totenkopfwachbataillons erschossen.

Wollte ich in meiner Rede alle vom Zellenbau auf Veranlassung der zentralen Berliner Terrororganisationen  zur Hinrichtung in den Tötungsanlagen des KZ Sachsenhausen transportierten Gefangenen aufzählen, so würde meine Redezeit nicht ausreichen. Trotzdem kennen wir bisher nur einen Teil der Opfer und werden wohl auch nie alle Namen nennen und alle Schicksale darstellen können.  Der Kreis der anonymen Opfer wird noch erheblich größer, bezieht man nicht nur die aus Berlin überstellten Todeskandidaten, sondern auch die KZ-Häftlinge des Lagers mit ein, die entweder direkt im Zellengefängnis von den SS-Männern des Kommandanturstabes, also  an Ort und Stelle, ermordet oder von hier aus in die verschiedenen Tötungsanlagen des KZ, zu den Galgen, zum Erschießungsgraben, zur Gaskammer oder zur Genickschussanlage, getrieben wurden.

Bereits im Herbst 1936, als die knapp 1.000 ersten Häftlinge aus den Konzentrationslagern Esterwegen und Berlin-Columbia kaum die erste Reihe der Baracken um den halbkreisförmigen Appellplatz herum errichtet hatten, nahm die Kommandantur das noch im Bau befindliche Gebäude in Betrieb. Sie hatte es offenbar eilig damit, einen selbst hinter den Zäunen und Mauer des Lagers ohnehin im KZ verborgenen und geheimen Ort für ihre Mordexzesse zu finden. Am 25. November 1936 notierte die Schutzhaftlagerabteilung auf einem Veränderungszettel den ersten im Sprachgebrauch der Täter sogenannten Abgang eines Häftlings aus dem Lagergefängnis. Der dort namentlich aufgeführte politische Häftling Hans Clausen wurde aus seiner Zelle herausgenommen. Weil es in Sachsenhausen in dieser Frühzeit noch keinen Krankenblock gab, ließ ihn der Kommandant in das Berliner Staatskrankenhaus transportieren, wo er kurz darauf verstarb. Clausen war wahrscheinlich der erste KZ-Häftling von Sachsenhausen, der den Gewaltexzessen im Zellenbau erlag. Nur wenige Tage später, noch vor Weihnachten 1936, setzte sich die Mordorgie im Bunker fort. Die jüdischen Häftlinge Julius Burg, Leonhard Bischburg, Franz Reyersbach und Kurt Zeckendorf starben an den schweren Misshandlungen, die ihnen die SS-Männer zugefügt hatten. Vorläufig letztes jüdische Opfer der sadistischen Exzesse im Zellenbau in dieser Phase des Lageraufbaus 1936/37 war das bekannte Mitglied der Bekennenden Kirche Friedrich Weißler. Der nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 von den Nationalsozialisten als Jude klassifizierte Jurist wurde von mehreren SS-Schergen, die zum Dienst im Zellenbau eingeteilt worden waren und die sich selbst als „fanatische Judenhasser“ bezeichneten, in der Zelle 60 des Nordflügels über mehrere Tage mit kaum vorstellbarer Grausamkeit zu Tode gefoltert. Etwa zur gleichen Zeit, wahrscheinlich noch im Dezember und Januar ließ Kommandant Karl Otto Koch sechs der sieben im November geflohenen und wieder ergriffenen sogenannten Berufsverbrecher von den Pfählen, an die sie jede Nacht bis Weihnachten auf dem Appellplatz aufgehängt worden waren, im Zellenbau auf eine immer noch unbekannte Art verschwinden, so dass wir nicht einmal ihre Namen kennen. Nur der siebte Häftling, dem die Flucht gelungen war, der in Dortmund geborene Karl Göntges, ist bekannt. Er wurde 1940 in Belgien ergriffen und von dort erneut nach Sachsenhausen verschleppt. Die Kriminalpolizei und die Konzentrationslager-SS hatten seine Akte aufbewahrt. Er entkam ihrer Rache nicht, auch wenn inzwischen selbst der Kommandant schon mehrfach gewechselt hatte. Ähnlich wie die anderen Geflüchteten sperrte Kommandant Loritz Göntgens vier Jahre nach seiner Flucht aus Sachsenhausen in den Lagerbunker. Dort  misshandelten ihn die SS-Männer so lange, bis er aus Verzweiflung in den elektrischen Draht sprang, um weiteren Folterungen zu entgehen.

Folter und Mord, das können wir schon aus dem Schicksal der ersten bekannten Häftlings des Zellenbaus schließen, zählten von Beginn an zu den Hauptaufgaben der Herrscher über die ihnen überantworteten Gefangenen des Lagerbunkers. Für die KZ-Kommandanten, die Leiter der Abteilung Schutzhaftlager sowie der politischen Abteilung, denen der Zellenbau direkt, zeitweise oder partiell unterstand, war dieser verborgene Bereich ein Ort völlig entgrenzter Gewalt, in  dem ein Wink der Hand, ein Augenaufschlag oder eine im typischen Lagerjargon mit zynischen Worten verkleidete mündliche Anweisung genügte, um die untergeordneten Büttel  auf die wehrlosen Opfer loszulassen. Willkür und Exzess einerseits sowie Befehle und Bürokratie andererseits waren keine Gegensätze, sondern ergänzten und bedingten einander. Der Exzess war kalkuliert, die Willkür eingeplanter Bestandteil der Maschinerie des Terrors.

Auch aus den darauf folgenden Jahren sind uns viele vergleichbarer Fälle bekannt, in der der Zellenbau entweder als Tatort für Morde der Lager-SS oder als eine Art Endstation vor der Tötung der Opfer in den verschiedenen anderen Tötungseinrichtungen des KZ, z. B. in den Krankenrevierbaracken, im Erschießungsgraben oder in der „Station Z“, genutzt wurde. In den Jahren von 1938 bis 1942 nahmen diese Mord- und Massenmordaktionen, bei denen der Bunker häufig eine wichtige Rolle spielte, immer mehr zu.  Zwischen Oktober 1944 und April 1945 leerte schließlich der Chef des Zellenbaus Kurt Eccarius auf Befehl des Reichsführers SS sowie des Kommandanten allmählich die Zellen des Bunkers und führte teilweise persönlich die Opfer in den Industriehof. Dort wurden sie entweder als Zeugen von Verbrechen der Nationalsozialisten oder aber als Todeskandidaten, die man sich bis zum Schluss aufgespart hatte, auf jede nur mögliche und denkbare Art ermordet: erschossen, gehängt, erschlagen, vergast oder mittels Spritzen umgebracht.

Wenigstens einen der zahlreichen Masssenmorde der Endphasenverbreche will ich im Folgenden kurz erwähnen:  Als die Rote Armee die Oder überschritten hatte und nur noch etwa 50 Kilometer vom Hauptlager Sachsenhausen entfernt war, löste der Kommandant die mit Himmler, dem Chef der Gestapo Müller und dem obersten SS-und Polizeiführer Heißmeyer  verabredete Alarmstufe „Scharnhorst“ aus. Die politische Abteilung des Lagers hatte zuvor zu diesem Zweck eine Liste von 250 angeblich besonders gefährlichen Personen erstellt, die sofort im Industriehof getötet werden sollten. Viele dieser Todeskandidaten, unter ihnen sowjetische und britische Offiziere sowie luxemburgische Polizisten,  befanden sich bereits in Isolationshaft im Zellenblock. Dessen Chef Kurt Eccarius brachte sie zum Turm A, dem Eingangstor zum Schutzhaftlager. Von dort mussten die Opfer, die ihr Schicksal vor Augen hatten, durch eine von SS-Männern des Totenkopf-Wachbataillons gebildete Gasse hindurch zu Fuß mehrere hundert Meter bis zu ihrem Hinrichtungsort laufen. Einige der Todeskandidaten leisteten Widerstand und durchbrachen die Postenkette, worauf die SS-Männer mit ihren Maschinenwaffen hinterher schossen. Da dabei auch ein SS-Offizier getötet wurde, unterbrach der KZ-Kommandant die Mordaktion, bei der bis dahin 125 Opfer getötet worden waren. Einer der letzten Opfer der Kriegsendverbrechen war Hans von Dohnanyi.

Die allermeisten Häftlinge aber waren jedoch nicht als Gefangene der zentralen Sicherheitsbehörden des „Dritten Reiches“ und nicht als Todeskandidaten zur Isolierung vom Kommandanten in den Zellenbau von Sachsenhausen eingewiesen worden, sondern zur Verbüßung ihrer vom Kommandanten oder vom SS-Führer des Schutzhaftlagers verhängten Strafen.  Dabei meldeten die SS-Blockführer Häftlinge ständig wegen tatsächlicher oder erfundener Verstöße gegen die Lagerordnung. Die formelle Strafordnung sah außer dem wochen- nicht selten auch viele Monate lang dauernden Dunkelarrest mit partiellem Essensentzug vor allem die körperliche Züchtigung auf dem berüchtigten Bock vor, der gleich neben dem Büro des SS-Führers im Zellenbau stand. Wie viele Häftlinge brutal zu Tode geschlagen wurden, weil die ursprünglich vorgeschriebene Maximalanzahl von 25-50 Schlägen mit der Peitsche willkürlich durch die SS-Männer überschritten wurde, hat Niemand gezählt. Ebenso wenig erfasste die Lagerstatistik die Häftlinge, die mindestens genauso qualvoll an den im Hof des Zellenbaus aufgestellten Pfählen nach Stunden- oder tagelangem Hängen mit rückwärts verdrehten Armen verstarben. Gelegentlich, so wird berichtet, hingen an einem Pfahl drei Folteropfer gleichzeitig. Die medizinische Abteilung des Lagers erfand für diese sichtbar schwer gefolterten Opfer immer irgendwelche angeblich natürlichen Todesursachen, die sie in die Sterbeurkunden eintrug. Die Misshandlungen durch Blockführer und SS-Offiziere, die ständig neue Foltermethoden erfanden, dauerten tagelang, wochenlang oder monate- und jahrelang und endeten nicht selten mit dem Tod der Gequälten. Andere hielten die Torturen nicht aus und begingen nicht zuletzt auf Drängen der diensthabenden SS-Männer Selbstmord. Diese machten sich einen Spaß daraus, den schwer gequälten Menschen einen Strick in die Zelle zu legen und sie zum Suizid aufzufordern. Leider erlauben uns die zu einem nicht geringen Teil verbrannten Akten der Lagerkommandantur keine Schätzung, wie viele Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen zum Zwecke der Strafverbüßung in den Zellenbau insgesamt eingeliefert wurden und wie viele dort von den SS-Männern  dort getötet wurden. Einen Anhaltspunkt gibt lediglich die Aussage des SS-Blockführers Menne Saathoff, die er bei Vernehmungen im Zusammenhang mit der Vorbereitung des sowjetischen Sachsenhausenprozesses 1947 machte: Danach fanden Massenfolterungen im Zellenbau regelmäßig ein bis zweimal die Woche statt; 6-8 Mann hängten nicht nur Blockführer, sondern auch andere Angehörige des Kommandanturstabes, wie der Leiter der politischen Abteilung Helmuth Dannel, dann an die Pfähle oder schlugen sie sie auf dem Bock. Allein von März 1941 bis November 1942 wurden nach seinen Schätzungen etwa 1.000 Häftlinge auf dem Bock geschlagen und 600 an den Pfählen aufgehängt.

 

Warum, so werden sich möglicherweise Einige von Ihnen, sehr geehrte Anwesende, inzwischen gefragt haben, müssen wir alle diese schrecklichen Details wissen? Reicht es nicht, dass wir in Deutschland ganz überwiegend die Verbrechen der Nationalsozialisten anerkennen und nicht etwa leugnen oder sie relativieren. Dass ich diese Frage verneinen muss, wird die wenigsten verwundern, und dies tue ich aus mehreren Gründen: Zum einen ist die Geschichte der sogenannten Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, anders als dies von heute aus erscheint, eine sehr mühsame, anstrengende, in Phasen höchst deprimierende und häufig erfolglose gewesen. So standen 1968 zwei Männer des Aufsichtspersonals im Zellenbau, die SS-Männer Kaspar Drexl und Franz Xaver Ettlinger zusammen mit dem langjährigen Chef des Lagergefängnisses Kurt Eccarius wegen ihrer Verbrechen im Bunker vor dem Münchener Landgericht. Es war dies das einzige Verfahren, das die Bundesrepublik Deutschland deshalb angestrengt hatte. Nur auf massiven Druck der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg hin war es überhaupt zustande gekommen. Entsprechend nachlässig und unengagiert gestalteten sich die Vorermittlungen.  Die meisten Opfer verwandelten sich im Laufe des dreimonatigen Prozesses vor Gericht von zunächst vergesslichen Augenzeugen zu, wie es hieß, „zweifelhaften Belastungszeugen“. Aussagen wurden verworfen, weil sich ein ehemaliger Häftling bei der Schilderung eines Mordes, der inzwischen mehr als 25 Jahre zurücklag, um ein oder zwei Monate irrte. Mit dem zynischen Hinweis auf schwere Kopfverletzungen, die einem als Zeugen geladenen Opfer des Zellenbaus durch die SS-Männer zugefügt worden waren, erniedrigte man ihn als angeblich geistesgestört. Ein anderer Zeuge wurde öffentlich als ehemaliger Berufsverbrecher bloßgestellt und deshalb seine Zeugenaussage als die eines angeblichen pathologischen Lügners für unglaubwürdig erklärt. Starverteidiger Rolf Bossi verlangte deshalb ein fachpsychologisches Gutachten. Auch die linksliberale „Süddeutsche Zeitung“, die lediglich im Münchener Lokalteil über den Prozess berichtete, nannte die Zeugen „bemitleidenswert“ aber irgendwie auch  „absonderlich“. Vergegenwärtigen wir uns, dass dieser letzte große Prozess über KZ-Verbrechen in Sachsenhausen auf dem Höhepunkt der Diskussionen über die Verjährung von NS-Unrecht stattfand. Zugleich gingen Tausende von Studentinnen und Studenten gegen die Notstandsgesetze auf die Straße. Die viel beschriebene und wahrscheinlich stark übertriebene Abrechnung zwischen den Generationen der Nachgewachsenen und der Generation der Täter oder Zuschauer fand statt. Trotzdem gab es keine Protestdemonstrationen gegen das Urteil, in dem einer der Täter freigesprochen und die beiden anderen einzig wegen des Mordes an dem erwähnten 16-jährigen Österreicher zu relativ geringen Haftstrafen verurteilt wurden. So befand sich der Chef des Zellenbaus, der sicherlich an dem Mord von Tausenden beteiligt war, schon bald wieder auf freiem Fuß.

Erst vor kurzem schlugen die deutschen Gerichte eine andere Richtung als ihre Kollegen zuvor ein. Das Urteil des Bundesgerichtshofes, das endlich anerkannte, dass Konzentrationslager Mordmaschinen waren, in denen nahezu alle SS-Männer eng miteinander zusammenarbeiten, um gemeinsam die nationalsozialistische Politik der Lebensvernichtung in die Tat umzusetzen, ist erst wenige Wochen alt.  Und auch die Historikerkommissionen, die nun Ministerium für Ministerium, Dienstelle für Dienststelle, Wirtschaftsbetrieb für Wirtschaftsbetrieb nachweisen, welche berufliche Karrieren viele Täter auch nach 1945 erreichen konnten, werden erst jetzt publiziert, nachdem man sicher sein kann, dass nahezu alle, die Verantwortung für die Verbrechen getragen haben,  inzwischen verstorben sind. Es gibt daher keinen Grund für den gelegentlich gezeigten, geäußerten oder gefühlten sogenannten Aufarbeitungsstolz.

Ein zweiter Grund, warum es immer wieder wichtig ist, sich den nationalsozialistischen Terror und seine unterschiedlichen Opfer ins Gedächtnis zu rufen, ist die Gefahr, dass im öffentlichen, nicht selten auch rituellen Gedenken die konkrete Erinnerung an die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Opfer verblasst. Das war einer der Hauptgründe, warum der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignaz Bubis zusammen mit dem kürzlich verstorbenen Bundespräsidenten Roman Herzog den auf den Befreiungstag von Auschwitz festgelegten Gedenktag ausdrücklich allen NS-Opfern gewidmet haben. In vielen Ländern ist dieser Gedenktag aber schon bald zum Holocaust-Tag umgewidmet worden, wodurch die ganze Dimension der NS-Verbrechen auf den in vielen Aspekten sicherlich singulären Völkermord an den Juden verengt wird. Doch die Geschichte des NS-Terrors ist, wie ich versucht habe, deutlich zu machen, noch lange nicht auserzählt, und je mehr wir darüber forschen, umso deutlicher wird die ungeheure Dimension der NS-Verbrechen, die in den modernen Gesellschaften nach wie vor unvergleichlich ist und gerade deshalb ein Menetekel und Lehrstück bleibt.

Schließlich müssen wir drittens leider seit einigen Jahren in Europa eine immer stärkere Tendenz zur Relativierung der NS-Verbrechen feststellen. Auch in Deutschland kritisieren wir seit Längerem die allmähliche Verschleifung der Erinnerungskultur an die NS-Verbrechen, die – in Verfälschung des Buchtitels von Eric Hobsbawn,-   in ein „Jahrhundert der Extreme“ ein- und untergeordnet werden.  In letzter Zeit monieren nicht nur Rechtspopulisten, sondern auch Journalisten und Wissenschaftler wieder stärker die erst seit der deutschen Einheit voll entfaltete Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus in Deutschland. Das Bedürfnis nach einem sogenannten Schussstrich wird wieder offener geäußert und die Phase des „Dritten Reiches“ wird als einmaliger Absturz aus der deutschen sowie europäischen Geschichte heraus eskamotiert. Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wird unter das Verdikt der Political Correctness und des sogenannten Gutmenschentums gestellt. Doch die Bohlen und Bretter, die man über den Riss in der Zivilisation, der sich zwischen 1933 und 1945 auftat, zur behaupteten positiven Nationalgeschichte davor und danach  zu legen versucht, sie tragen nicht. Gerade wenn man sich die Pluralität der Opfer des NS-Terrors verdeutlicht, wenn man sich die kalte und die heiße Systematik des gesamten umfassenden Plans zur Lebensvernichtung von großen Teilen der europäischen Bevölkerung vor Augen stellt, wenn man schließlich auch die außerordentlich große Anzahl der Täter und ihrer Helfer einerseits und deren absolut unzulängliche juristische Verfolgung andererseits berücksichtigt, dann, so glaube ich, lässt sich auf absehbare Zeit kein neuer Nationalismus in Deutschland und in Europa rechtfertigen und begründen.   Daher müssen wir immer die ganze Geschichte erzählen; wir müssen sie vollständig erzählen und auch immer wieder. Dadurch können wir nicht verhindern, dass Ideologen, Populisten, Rassisten und Nationalisten die ihnen genehmen Teile zu einem kruden Brei zusammenrühren, in dem die Geschichte missbraucht wird, um neuen Hass zu säen. Aber wir können die Hoffnung haben, dass ihre Saat nicht aufgeht.