Eröffnung des neuen Museums der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten im ehemaligen Direktorenhaus der Jusizvollzugsanstaltung Brandenburg Görden, 29. April 2019

Eröffnung des neuen Museums der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten im ehemaligen Direktorenhaus der Justizvollzugsanstalt Brandenburg-Görden mit dem Titel:

„Auf dem Görden. Die Strafanstalt Brandenburg im Nationalsozialismus und in der DDR“

  1. April 2018

Begrüssung

Prof. Dr. Günter Morsch

 

Sehr geehrte Überlebende und Angehörige von Gefangenen der Strafanstalt Brandenburg,

Sehr geehrter Herr von Schlieben-Droschke,

sehr geehrter Herr Drenger,

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Gutheil,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Scheller,

sehr geehrte Frau Deres,

Lieber Herr Holzschuher (MdL)]

Sehr geehrte Vertreter ausländischer Staaten,

liebe  Frau Dr. de Pasquale

 

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten darf ich Sie zunächst alle ganz herzlich zur Eröffnung unseres neuen Museums im ehemaligen Direktorenhaus der Strafanstalt Brandenburg-Görden begrüßen.

„Seid wachsam und wehret den Anfängen!“ Mit dieser Mahnung schloss Walter Hammer 1955 die Einleitung zu seinem in hoher Auflage weit verbreiteten Buch „Hohes Haus in Henkers Hand“ ab. Der ehemalige Gefangene  des Zuchthauses Brandenburg Görden, der zuvor mehrere Konzentrationslager, darunter auch Sachsenhausen, durchlitten hatte, hatte noch während seiner Gefängnishaft  damit begonnen, Dokumente und Akten zu sammeln, um sie nach der Befreiung vom Nationalsozialismus für den Aufbau eines Archivs und einer Gedenkstätte zu nutzen. Seinen Plan, in der ehemaligen Strafanstalt eine Gedenkstätte und ein Museum einzurichten, konnte er nicht mehr verwirklichen. Um seiner Verhaftung zu entgehen, musste der Publizist, Schriftsteller und Verleger 1950 aus der DDR fliehen. Etwa zur gleichen Zeit füllten sich die Zellen der Strafvollzugsanstalt Brandenburg erneut mit Gefangenen,  die, wie z. B. Angehörige der Zeugen Jehovas, als Gegner des kommunistischen Staates inhaftiert wurden.

Erst Mitte der siebziger Jahre richtete die DDR in den ehemaligen Hinrichtungsräumen des Zuchthauses eine kleine Gedenkstätte zur Erinnerung an, wie es hieß,  den „Widerstandskampf der antifaschistischen Häftlinge“ ein. Seitdem fanden an dem inmitten der Strafanstalt nur schwer zugänglichen historischen Ort regelmäßige Gedenkveranstaltungen statt. Dabei wurde vor allem der etwa 2.000 Opfer gedacht, die als politische Häftlinge zwischen 1940 und 1945 von der nationalsozialistischen Justiz verurteilt und durch Guillotine oder Strick grausam hingerichtet worden waren. 1970, zum 25. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des Zuchthauses Brandenburg, kam es zu einem kleinen, aber trotzdem bemerkenswerten Zwischenfall: Rudi Wunderlich, der für die Organisation der Gedenkveranstaltung verantwortliche wissenschaftliche Mitarbeiter des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer, hatte den bekannten DDR-Dissidenten Robert Havemann zur Gedenkfeier eingeladen. Wunderlich, selbst ein Überlebender des KZ Sachsenhausen, würdigte mit seiner Einladung weniger den bekanntesten DDR-Oppositionellen als den Gründer und Kämpfer der sozialistischen Widerstandsgruppe „Europäische Union“. Denn während seine Freunde und Kameraden, wie der Arzt Georg Großkurth, im Mai 1944 in der in Sichtweite Havemanns eingerichteten Garage hingerichtet wurden, hatte es der Chemiker verstanden, unter Vorwänden die Vollstreckung seines Todesurteils hinauszuzögern.  All das zählte aber nicht: Wunderlich wurde entlassen. Er starb 1988, ohne seine Rehabilitation erreicht zu haben.

Nach der friedlichen Revolution 1989/90, in deren Verlauf es auch zu einem Aufstand der Gefangenen in der DDR-Strafanstalt Görden kam, war der damaligen Landesregierung vor allem daran gelegen, in einer Art politischer Gegenreaktion die hochfliegenden Pläne Honeckers zum Bau einer neuen und riesigen Mahn- und Gedenkstätte Brandenburg auf dem Marienberg auf ein möglichst geringes Niveau zurückzuschneiden. Selbst die äußerst bescheidenen Vorschläge der von der Landesregierung eingesetzten Expertenkommission 1991 wurden noch unterschritten. Von einer Darstellung der Rolle der Strafanstalt bei der Verfolgung der politischen Opposition in der DDR war zur damaligen Zeit überhaupt keine Rede. Die 1993 gegründete Stiftung Brandenburgische Gedenkstätte hat diese hauptsächlich politisch begründeten Restriktionen für den zur Dokumentationsstelle herabgestuften historischen Ort  von Anfang an für falsch und überzogen erachtet. Sie suchte deshalb immer wieder nach geeigneten Räumen und Möglichkeiten in der Stadt Brandenburg, um außerhalb des Sicherheitsbereichs der Justizvollzugsanstalt die Geschichte dieses in beiden deutschen Diktaturen wichtigen und zentralen historischen Orts darstellen zu können.  Doch nur selten fanden wir die dafür notwendige Unterstützung von Regierung und Politik.  Umso mehr haben wir uns darüber gefreut, dass wir in der Stadt Brandenburg, u. a. durch Oberbürgermeisterin Sieglinde Tieman sowie  Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg sowie den Landtagsabgeordneten Ralf Holzschuher auf Verständnis und Hilfe stießen. Leider aber verhallten auch die eindrucksvollen Appelle der überlebenden Gefangenen, an ihrer Spitze der unermüdlich bis zu seinem Tod 2007 für ein neues Museum und eine neue Ausstellung werbende und  kämpfende jüdische Überlebende, Günter Nobel,  sowie der nicht weniger engagierte ehemalige tschechische Widerstandskämpfer Jaroslav Vrabec, beide Mitglieder des internationalen Beirats der Stiftung, nur allzu oft. Auch die verschiedenen Regierungen der Bundesrepublik Deutschland überhörten die Empfehlung der Bundestags-Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur“ sowie vieler Gutachter der Gedenkstättenkonzeption des Bundes die Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg-Görden  formell in die Liste der institutionell geförderten Einrichtungen aufzunehmen.

Ein Wendepunkt in der bis dahin eher deprimierenden Entwicklung unserer  in der „Wiege der Mark“ ansässigen Gedenkstätte  wurde 2002 mit der internationalen wissenschaftlichen Tagung unter dem Titel „Perspektiven für die Dokumentationsstelle Brandenburg“  in der hiesigen Justizschule erreicht. Zahlreiche Forscherinnen und Forscher arbeiteten in vergleichender Perspektive und mit wissenschaftlicher Akribie den besonderen, überregionalen und internationalen Rang und die Bedeutung der Stadt Brandenburg als Standort der ersten Gaskammer zum Massenmord an Tausenden von Kranken im sogenannten alten Zuchthaus einerseits sowie als Ort der politischen Repression in der ursprünglich als Reformanstalt gebauten Anlage auf dem Görden andererseits eindrucksvoll heraus. Von großer Bedeutung dafür war auch, dass mit den wissenschaftlichen Forschungen von Leonore Ansorg und Sylvia de Pasquale wichtige historische Grundlagen für eine Ausstellungskonzeption gelegt wurden. Dabei konnte über die bisherige Einschränkung auf die Bedeutung der Strafanstalt für die politische Verfolgung hinaus auch die herausgehobene Rolle des Zuchthauses bei den Verfolgungsmaßnahmen im Rahmen der kriminalbiologisch und rassenhygienisch begründeten nationalsozialistischen Vernichtungspolitik erforscht werden.

Den entscheidenden politischen Durchbruch allerdings brachte eine ministerielle Vereinbarung,  die unter der seit 2009 amtierenden neuen Landesregierung geschlossen wurde. Gerne nenne ich hier die Namen der drei entscheidenden Minister der Landesregierung,  zumal der damals heftig angefeindeten rot-roten Koalition – und natürlich auch mir persönlich als Direktor der Stiftung –  bis heute von Seiten einzelner Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft nicht selten, aber trotzdem  fälschlicherweise ein Vertuschen der DDR-Geschichte in der Strafanstalt Brandenburg-Görden  unterstellt wird. Es waren die Kulturministerin Prof. Sabine Kunst, der stellvertretende Ministerpräsident und Finanzminister Dr. Helmuth Markow sowie Justizminister Volkmar  Schöneburg, die der Stiftung das ehemalige, weitgehend original erhaltene  Direktorenhaus als künftiges Museum für die Geschichte der Strafanstalt Brandenburg-Görden im Nationalsozialismus ebenso wie in der DDR sowie die Finanzierung sowohl der nicht unaufwendigen Gebäudesanierung als auch der Ausstellung  in Aussicht stellten. Dem Versprechen der Landesregierung, zu dem diese auch in der darauf folgenden, neuen Legislaturperiode  allen personellen Veränderungen zum Trotz unverändert stand, schloss sich schließlich auch die Bundesregierung an. Ich möchte mich daher an erster Stelle bei der Landes- sowie der Bundesregierung dafür bedanken, dass die Stiftung dieses in den 25 Jahren seit ihrer Gründung lange Zeit vergeblich angestrebte Museums- und Gedenkstättenprojekt endlich realisieren konnte. Eine große Hilfe dabei war auch die Bereitschaft der Leiterin der Justizvollzugsanstalt Petra Wellnitz und ihrer Vollzugsbeamten, der Stiftung immer wieder helfend zur Seite zu springen und uns schließlich für die heutige Veranstaltung ihre Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.

Dabei erwies sich der Umbau des ehemaligen Wohnhauses des Anstaltsdirektors, anders als zunächst vermutet, als ein schwieriges Bauvorhaben. Ich danke dem Architektenbüro Uli Krieg sowie dem Brandenburgischen Landesbetrieb für Liegenschaften und Bauten für die gelungene Sanierung des denkmalgeschützten Gebäudes sowie die Errichtung eines kleinen Anbaus. Der Firma „Tatwerk“, die auf die häufig nicht einfach umzusetzenden Ideen und Vorstellungen von uns Historikern stets bereitwillig eingegangen ist,  danke ich für die sehr gelungene Gestaltung der Ausstellung. Den ehemaligen Gefangenen der Strafanstalt sowie ihren Angehörigen danke ich ganz herzlich für die Bereitstellung von Exponaten und anderen Materialien sowie ihre keineswegs selbstverständliche Mitarbeit im Rahmen von Zeitzeugeninterviews. Eine kleine Arbeitsgruppe, die wir aus dem internationalen Beirat sowie der Fachkommission der Gedenkstättenstiftung gebildet haben, hat dankenswerterweise die Erarbeitung der inhaltlichen Konzeption der Ausstellung durch Rat und Tat begleitet. Michael Viebig und Professor Dr. Nikolaus Wachsmann haben darüber hinaus an der endgültigen Abfassung der Ausstellungstexte mitgearbeitet.

Mein besonderer Dank aber gilt der Gedenkstättenleiterin Dr. Sylvia de Pasquale und ihrem relativ kleinen Team. Spätestens seit der erwähnten Konferenz im Jahre 2002 hat Frau de Pasquale – nicht zuletzt durch ihre (bei mir) geschriebene Dissertation zur Geschichte des Strafvollzugs in Brandenburg an der Havel 1920-1945 – unser gemeinsames Ziel, am authentischen Ort eine neue Gedenkstätte zu eröffnen, nie aus dem Auge verloren und beharrlich verfolgt. Obwohl sie seit ihrer Eröffnung 2012 auch unsere „Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde“  leitet, hat sie zur gleichen Zeit ganz maßgeblich an der Konzeption und Ausarbeitung der Ausstellung  auf dem Görden gearbeitet und auch die immer wieder von Rückschlägen betroffenen Baumaßnahmen  begleitet. Sylvia de Pasquale und ihrem Team gilt daher mein ganz besonderer Dank.

 

„Seid wachsam und wehret den Anfängen!“, wie oft ist uns dieser Satz von Walter Hammer schon über die Lippen gekommen. Er ist heute aktueller denn je. Mit einer Partei im deutschen Bundestag, in deren Anfragen an die Bundesregierung die eugenischen und rassehygenischen Vorbehalte gegen Behinderte und Ausländer, wenn auch in kruder, versteckter Form wieder postuliert werden, kann und darf es keine Kompromisse, geschweige denn Koalitionssondierungen geben.  Aber auch den erneut anwachsenden Vorurteilen gegenüber den demokratischen Prinzipien der Resozialisierung im Strafvollzug gilt es energisch zu widersprechen. Populäre Forderungen, wie z. B.  die Straftäter einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen, oder gar die Todesstrafe wieder einzuführen, haben mit den Prinzipien eines Rechtsstaates nichts zu tun. Dagegen will unsere Ausstellung zeigen, dass zum Herzstück der Demokratie die konsequente Bewahrung des Rechtsstaates gehört. Autoritäre und diktatorische Regime beginnen, wie gegenwärtige Beispiele in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern erneut beweisen, immer zuerst damit, rechtsstaatliche Prinzipien aufzuweichen, zu relativieren und sie schließlich  Stück für Stück sowie nach und nach abzuschaffen.  Unser neue Ausstellung, die die unvergleichlichen Verbrechen der NS-Justiz ebenso ausführlich behandelt wie das Unrecht des DDR-Strafvollzuges  soll, das wünschen wir uns, als ein beständiges und eindringliches Plädoyer für den Rechtsstaat als Herzstück jeglicher demokratischer Ordnung verstanden werden und nachhaltig in diesem Sinne  gerade auch auf junge Menschen wirken.

 

 

25 Jahre Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Begrüssung der Gäste anlässlich des Festempfangs des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und der Stiftung Brandenburgische Gedenksätten am 18. April 2018 in der Staatskanzlei

Günter Morsch

25 JAHRE STIFTUNG BRANDENBURGISCHE GEDENKSTÄTTEN

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Dr. Woidke,

sehr geehrter Herr Landtagsvizepräsident Dombrowski,

Sehr geehrte Überlebende der Konzentrationslager des sowjetischen Speziallagers sowie der Gefängnisse

sehr geehrte Mitglieder der Landesregierung und des brandenburgischen Landtages,

sehr geehrte Mitglieder der drei Gremien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der verschiedenen Opfer- und Interessenverbände

Exzellenzen, Vertreter ausländischer Staaten,

Sehr geehrte Frau Bering,

Lieber Herr Faulenbach,

lieber Herr Lutz,

lieber Herr Beattie

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

 

im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten möchte auch ich Sie zunächst ganz herzlich zu unserem Festakt aus Anlass unseres fünfundzwanzigsten Geburtstages begrüßen. Im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung bedanke ich mich bei der Landesregierung, insbesondere bei Herrn Ministerpräsidenten Dr. Woidke, für die Ehre, die der Gedenkstättenstiftung mit diesem Festakt hier in der Staatskanzlei erwiesen wird.

 

Am 9. November 2010 fand im ehemaligen Erschießungsgraben des Konzentrationslagers Sachsenhausen die seit vielen Jahren regelmäßig stattfindende Gedenkveranstaltung für die Opfer einer Massenmordaktion an mindestens 33 polnischen Häftlingen statt. Mühselig und im Rollstuhl sitzend war der damals 95-jährige Sachsenhausen-Überlebende Karl Stenzel aus seinem Altersitz in Groß-Köris nach Sachsenhausen gekommen, um seiner polnischen Kameraden zu gedenken. Seine letzte Rede in der Gedenkstätte, für die er über Jahrzehnte als Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausen-Komitees gekämpft und sich eingesetzt hatte, war für uns alle, die wir ihm zuhörten, bestürzend. „Wir, die ehemaligen KZ-Häftlinge, wir haben versagt, so sagte er fast flüsternd. „Wir haben geglaubt, die Welt würde aus unserer Erfahrung lernen, sie würde besser werden, keine Völkermorde mehr, kein Rassismus und Antisemitismus, kein Nationalismus,  kein Krieg mehr, so haben wir in unseren unterschiedlichen Erklärungen nach der Befreiung aus den Lagern gefordert. Doch was“, so fragte Karl Stenzel weiter, hat die Welt aus unseren Erfahrungen gemacht?“

Der ehemalige deutsche Kommunist, der in den neunziger Jahren ganz entscheidend an der Neugestaltung der brandenburgischen Gedenkstätten  konstruktiv mitgewirkt und sie voran getrieben hat, steht mit dieser Feststellung im Kreise auch seiner internationalen Kameradinnen und Kameraden nicht allein.  In dem 2009 von den Präsidenten der verschiedenen Häftlingskomitees, unter ihnen die im internationalen Beirat der Stiftung Brandenburgische Gedenkstäten vertretenen Präsidenten von Ravensbrück und Sachsenhausen, Dr. Annette Chalut und Pierre Gouffault, verfassten das, wie sie es nannten,  „Vermächtnis der Überlebenden“ und übergaben es in zahlreichen Veranstaltungen verschiedenen namhaften staatlichen Repräsentanten . Darin  heißt es in ganz ähnlicher Weise: „Nach unserer Befreiung schworen wir eine neue Welt des Friedens und der Freiheit aufzubauen. Wir haben uns engagiert, um eine Wiederkehr dieser unvergleichlichen Verbrechen zu verhindern. Zeitlebens haben wir Zeugnis abgelegt, zeitlebens waren wir darum bemüht, junge Menschen über unsere Erlebnisse und unsere Erfahrungen und deren Ursachen zu informieren. Gerade deshalb schmerzt und empört es uns sehr, heute feststellen zu müssen: Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt.“

Einige von Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, mögen diese uns in tiefe Zweifel stürzende  Zitate der Zeitzeugen des Terrors und der Kriege als unpassend für den heutigen Anlass empfinden. Doch angesichts der gerade im Moment zunehmenden antisemitischen und rassistischen Übergriffe, der Wiederkehr nationalistischer Bewegungen, der zunehmenden Flut aggressiver, die Opfer der Diktaturen beleidigender Äußerungen,  angesichts der selbst im Deutschen Bundestag zu hörenden Stellungnahmen von anscheinend ohne jegliches kritisches historische Bewusstsein und jegliche  Sensibilität  rücksichtslos nach Einfluss und Macht strebenden rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen sowie angesichts des am Horizont drohenden Zerfalls der Europäischen Union und der Zunahme von Konflikten zwischen den europäischen Nachbarn müssen wir uns  gerade an einem solchen Tag, an dem wir auf die vergangenen Erfolge zurück blicken wollen, auch den neuen Herausforderungen der Gegenwart stellen. Dabei kommen wir nicht umhin, feststellen zu müssen:  Die wirkliche Probe auf die Festigkeit und Nachhaltigkeit der Erinnerungskultur in Deutschland und in Europa, sie scheint erst jetzt zu kommen!

Jetzt – da die ständigen Weckrufe und Mahnungen, die zumeist mit großer menschlicher  Wärme und Überzeugungskraft vorgetragenen Erlebnisse und Erfahrungen der Zeitzeugen weitgehend verstummt sind und zu verblassen scheinen.

Jetzt – da die allermeisten Nachbarn Deutschlands, die zweimal im Laufe des vorigen Jahrhunderts unter der aggressiven Kriegspolitik des Deutschen Reiches leiden mussten,  der vereinten Bundesrepublik des Grundgesetzes nicht zuletzt aufgrund ihrer offenen und breit entwickelten, fest in der Zivilgesellschaft verankerten, staatlich unterstützten neuen Erinnerungskultur vertrauen.

Jetzt – da die meisten Angehörigen der Opfer in ihrer Trauer einen mitfühlenden Widerhall und ein sympathetisches Verständnis bei vielen Menschen in Deutschland vorfinden und

Jetzt – da die meisten Verbände der verschiedenen Opfergruppen, die über Jahrzehnte  immer wieder an das Gewissen der Deutschen appellierten und gegen Verdrängungsprozesse ankämpften entweder sich aufzulösen beginnen oder aber angesichts ihrer begrenzten Kraft  den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf neue Herausforderungen legen müssen.

 

Ich bin allerdings fest davon überzeugt, sehr geehrte Anwesende, dass die vor 25 Jahren in der Einrichtungsverordnung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten einschließlich ihrer 1997 und 2016 vorgenommenen Novellierungen festgeschriebenen Grundsätze eine nach wie vor sichere Grundlage und Basis bieten, um diesen neuen Herausforderungen stand zu halten und Antworten darauf zu finden. Welche sind dies?

  1. Im Zentrum der Erinnerungskultur in Brandenburg stehen die historischen, bzw. die authentischen Orte der Verbrechen. Sie zu erhalten und zu bewahren, sollte oberste Aufgabe bleiben, auch wenn das angesichts der zahlreichen baulichen Zeugnisse bedeutet, eine nicht geringe Finanzierung auf Dauer sicher zu stellen, damit sowohl die Denkmale aus der Zeit als auch die Denkmale an die Zeit auch künftigen Generationen erhalten bleiben.
  2. In den historischen Orten fokussiert sich die Erinnerung; sie geht von ihnen aus. Ihre Kraft darf nicht durch Verwaltungsreformen oder andere in Zeiten von Zentralisierungen und vermeintlich Synergien bündelnden Maßnahmen geschwächt, sondern muss  im Gegenteil weiter gestärkt werden.
  3. Gedenkstätten können nur als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben in einer stark von den neuen Medien bestimmten Gesellschaft Wirkung und Nachhaltigkeit erzielen und sich behaupten. Ihre feste Verankerung in der Wissenschaft, die Aufarbeitung und Ergänzung ihrer Sammlungen, die stets den sich ändernden Fragen an die Geschichte sich öffnenden Dauer-, Sonder- und Wechselausstellungen sowie Veröffentlichungen aller Art, aber vor allem auch eine offene, moderner Didaktik gegenüber aufgeschlossene, vor allem aber personell und finanziell besser als bisher ausgestatte pädagogische Arbeit, bleiben unverzichtbare fundamentale Aufgaben der Gedenkstätten.
  4. Die Gedenkstättenstiftungen müssen auch weiterhin in Deutschland, wo es auch auf absehbare Zeit keine starke etablierte und tradierte private Kulturförderung gibt, öffentlich rechtlich verfasst bleiben. Umso wichtiger ist es, dass Staat und Politik die inhaltliche Autonomie der Gedenkstätten und der Stiftung achten und bewahren. Gerade auf dem Hintergrund der in den neuen Bundesländern noch stark  nachwirkenden Erfahrungen des staatlich instrumentalisierten Antifaschismus muss den offenbar gegenwärtig  wachsenden Versuchungen widerstanden werden, auf die inhaltliche Ausrichtung der Gedenkstätten administrativ Einfluss zu nehmen oder gar sie zu bestimmen.
  5. Staatliche Verwaltungen, Parteien und Verbände sind aber aufgefordert, sich am möglichst pluralistischen Diskurs über Ziele und Inhalte zu beteiligen. Dabei müssen neue Wege gefunden werden, um auch in der Zukunft die Beteiligung einer internationalen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft an der Fortentwicklung der Gedenkstätten sicher zu stellen. Denn in Below und in Brandenburg an der Havel, in der Potsdamer Leistikowstraße ebenso wie in Lieberose, in Ravensbrück ebenso wie in Sachsenhausen bündelt sich nicht allein deutsche, sondern europäische Vorkriegs- Kriegs- und Nachkriegsgeschichte.

 

Die heutige Festveranstaltung bietet der Stiftung auch eine gern genutzte  Gelegenheit, um unseren aufrichtigen Dank an alle die Stiftung in vielfältigen Formen helfenden, unterstützenden und tragenden Einrichtungen sowie Personen zum Ausdruck zu bringen. Lassen Sie mich im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung daher zum Schluss meiner Ausführungen, Ihnen allen versichern, wie sehr wir die Unterstützung und Hilfe, die wir von vielen Seiten erhalten, schätzen und anerkennen. Vor fünf Jahren, aus Anlass des zwanzigsten Geburtstages unserer Stiftung, habe ich versucht, nahezu alle Institutionen, Organisationen und Personen namentlich zu nennen, denen wir diesen Dank schulden. Die dazu gemachten Ausführungen füllten mehr als zwei Seiten meines Manuskripts. Trotzdem bin ich an dieser gerne übernommenen Aufgabe gescheitert, wie spätere Beschwerden zeigten.  Daher bitte ich um Verständnis, wenn ich heute Ihnen allen ganz herzlich danken möchte, ohne erneut peinliche und unbeabsichtigte Versäumnisse zu riskieren. Der Dank kommt trotzdem von ganzem Herzen. Eine Ausnahme will ich trotzdem machen:  Mein letzter Satz  soll den ihre Haft überlebenden Opfern von Holocaust und KZ-Verbrechen, von Gefängnis- und Speziallager-Haft  gelten. Ihnen schulden wir vor allem deshalb Dank, weil sie trotz des ihnen angetanen Leids und Unrechts uns allen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenso wie den Leiterinnen und Leitern der Gedenkstätten sowie dem Vorstand und Direktor der Stiftung stets eine nicht zu ersetzende, moralische Stütze waren und sind.

Rede zur Gedenkveranstaltung an der „Säule der Gefangenen“ in Erinnerung an die Befreiung der Häftlinge des KZ-Außenlagers Lichterfelde, 8. Mai 2018

GEDENKFEIER AN DER „SÄULE DER GEFANGENEN“ IN ERINNERUNG AN DIE BEFREIUNG DER HÄFTLINGE DES KZ-AUSSENLAGERS LICHTERFELDE

 8.    Mai 2018

 

Prof. Dr. Günter Morsch

 

Sehr geehrte Frau, sehr geehrter Herr Pilecki,

Frau Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau,

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Richter-Kotowski,

sehr geehrte Frau Dr. Finckh-Krämer,

sehr geehrte Vertreter ausländischer Staaten,

liebe Petra Rosenberg

sehr geehrte, lieber Schülerinnen und Schüler der Lousie-Schroeder-Schule und des Beethoven-Gymnasiums,

lieber Herr Schleissing-Niggemann,

liebes Ehepaar Leutner,

liebe Mitglieder der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde,

sehr geehrte Gäste,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

ganz herzlich möchte ich mich zunächst bei der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde für die Einladung zur heutigen Gedenkveranstaltung bedanken. Sie, die Mitglieder ihrer Bürgerinitiative, geben seit vielen Jahren allen ein leuchtendes Beispiel in Berlin dafür, dass es möglich ist, gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen des Bezirkes sowie Schülerinnen und Schülern der örtlichen Schulen die Erinnerung an die Verbrechen wach zu halten, auch wenn die Zeitläufe darüber hinweg zu gehen scheinen.

73 Jahre sind inzwischen vergangen, seitdem am 8. Mai 1945 die deutsche Wehrmacht in Reims die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches unterschrieb, eine etwas kuriose Zeremonie, die einen Tag später in Berlin-Karlshorst wiederholt wurde. Kurios nenne ich diese Inszenierungen deshalb, weil die zur Unterzeichnung angetreten deutschen Generäle immer noch versuchten, der Welt das Theater von einer ganz normalen militärischen Niederlage nach einem verlorenen Krieg vorspielen zu müssen. An diesem Mythos hat die Bundesrepublik Deutschland lange unbeirrt und unbelehrbar festgehalten. Die mit militärischem Zeremoniell vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge organisierten Gedenkveranstaltungen zum Volkstrauertag mit anschließenden Kranzniederlegungen, teilweise an den Heldendenkmälern für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges inszeniert, galten, wie es hieß, allen Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft.

Auch wenn schon in den siebziger und achtziger Jahren gegen eine solche Missinterpretation und Verfälschung der Geschichte, die Täter und Opfer gleichermaßen in das Gedenken einschließt, gerade auch von einer wachsenden Bürgerbewegung aus Geschichtswerkstätten und Opferorganisationen, aus gewerkschaftlichen oder kirchennahen Gruppen entschiedener Widerspruch und Protest erhoben wurde, so hat erst die Rede von Bundespräsident Richard von Weizäcker am 8. Mai 1985 dieser Stahlhelm-bewehrten Tradition die politische Grundlage und Legitimation entzogen. Seitdem sprechen wir vom Tag der Befreiung. Damit verbinden wir nicht nur die Befreiung der Häftlinge der Konzentrationslager, der Zwangsarbeiter in den Fremdarbeiterlagern, der  politischen Gefangenen aus den Gefängnissen und Zuchthäusern, die Befreiung der untergetauchten Juden und Widerstandskämpfer aus Kellern, Kleingartenlauben und Katakomben, sondern auch die Befreiung der vielen Millionen Deutschen von ihrer nicht selten selbst gewählten Verstrickung, Beteiligung und fanatischen Identifikation mit dem verbrecherischsten System, das die Welt erlebt hat.

Wie nahe diese verschiedenen Motivlagen, vom Widerstand über das gleichgültige Wegsehen bis zur Tatbeteiligung, einander waren, das ist besonders eindrücklich dann nachzuvollziehen, wenn man den Blick auf das lokale Geschehen im „Dritten Reich“ lenkt. Das Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen, das am 23. Juni 1942 hier mitten im bürgerlich-kleinbürgerlichen Stadtbezirk Steglitz zwischen Teltowkanal und Wismarer Straße errichtet wurde, war nur eins von insgesamt 100 Satelliten des Konzentrationslagers bei der Reichshauptstadt. Etwa 30 davon befanden sich mitten in Berlin, zumeist bei großen Industrie- und Rüstungsbetrieben, wie Siemens, Krupp oder Mercedes,  aber auch bei zahlreichen Dienststellen der verschiedenen Verwaltungen des NS-Systems, wie z. B. dem Reichssicherheitshauptamt an der Prinz.-Albrecht-Straße, dem Reichsfinanzministerium an der Wilhelmstraße, dem SS-Rasse- und Siedlungshauptamt in Kreuzberg und vor allem dem SS-Wirtschaft- und Verwaltungshauptamt in Steglitz an der Straße „Unter den Eichen“. Viele der bei den verschiedenen Behörden eingesetzten KZ-Häftlinge waren im Außenlager Lichterfelde untergebracht. Von dort wurde ihr Einsatz gemeinsam mit dem SS-Arbeitseinsatzführer im Oranienburger Hauptlager koordiniert und geplant.

Wie kann man sich, so werden gerade junge Menschen fragen, das Nebeneinander von Konzentrationslager und Berliner Alltag, von Elend und Verbrechen an den KZ-Häftlingen einerseits, Arbeitsalltag, Wohnen und Freizeit der Berlinerinnen und Berliner andererseits vorstellen? Es ist sicherlich nicht zufällig, dass die verschiedenen Außenlager und –kommandos des Konzentrationslagers Sachsenhausen erst ab der Kriegsmitte, also ab 1942/43, die meisten sogar erst ab 1944, sich in der Reichshauptstadt auszubreiten begannen. Sachsenhausen war, obwohl von der Wehrmacht als ein großes Lager für potentiell Aufständische aus den stets unruhigen Vierteln der „roten Hauptstadt“ geplant, nicht innerhalb der Stadtgrenzen, sondern acht Kilometer davor, allerdings noch innerhalb des S-Bahn-Ringes, erbaut worden. Mauern umschlossen nun die Baracken. Zusätzliche Bretterzäune sollten den direkten Einblick in die verschiedenen Vernichtungsstätten verhindern, wo sich mehrere Galgen und Erschießungsanlagen befanden, eine Gaskammer installiert war und die vier Öfen des Krematoriums tagsüber im Dauerbetrieb brannten. Trotz aller halbherzigen Vertuschungsversuche konnten die Massenmorde auch den Einwohnern von Oranienburg, die nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt von SS-Männern begangen wurden, mit denen sie teilweise Tür an Tür wohnten, nicht unbekannt bleiben. Dafür gab es zu viele Indizien, wie der dicke schwarze, nach verbranntem Menschenfleisch übel riechende Rauch über den Krematorien, der dazu führte, dass an besonders schlimmen Tagen die zum Trocknen in den Gärten aufgehängte Wäsche sich schwarz färbte. Auch die täglichen Opfer von Mordlust und Misshandlungen, die von den KZ-Häftlingen am Ende ihrer in das Lager einrückenden Marschkolonnen auf einem Leiterwagen, nur mühselig von einer Plane bedeckt, an den wartenden Passanten bei der Rückkehr von den Arbeitskommandos vorbeigezogen wurden, waren kaum zu übersehen. Für einen Teil der Menschen reichte es bereits, wenn die Wachen ihre Gewehre auf allzu Neugierige richteten und barsch befahlen, sich umzudrehen und wegzusehen. Die Diktatur lieferte immer genügend Anlässe für ständige Ausreden, nicht-wissen zu wollen. So begannen die Menschen ihr Gesichtsfeld immer mehr einzuengen, sie schränkten die ganze Aufmerksamkeit auf ihren eigenen Alltag ein, der ihnen schwer genug zu sein schien. Sie wurden zu Monaden, die die Welt um sich herum auszublenden versuchten. Nicht wissen zu wollen, nicht sehen zu wollen, nicht hören zu wollen, wurde zu ihrer Überlebensmaxime.  So wollten nicht wenige entgegen ihren eigenen Wahrnehmungen lieber den ständig wiederholten Behauptungen der SS-Mörder glauben, in den Konzentrationslagern wären gefährliche Verbrecher interniert, vor denen man die anständigen Deutschen schützen müsse. Fast noch wichtiger aber war die schnelle Gewöhnung an die Gewalt und den Terror gegen Menschen, die seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten immer mehr um sich griff. Außenlager und Außenkommandos hatte es bereits in der ersten Phase des KZ-Terrors zwischen 1933 und 1935 gegeben, als die Opfer noch mitten in der Stadt, in leeren Fabrikhallen, in Hinterzimmern von Gasthäusern oder Kellern gefoltert und getötet wurden. Insoweit konnte der SS-Staat an eine Vorgeschichte anknüpfen, als Folterkeller und kleine Konzentrationslager selbst von der Berliner Bevölkerung hingenommen worden waren.

Mit dem Krieg lösten sich zunehmend alle zivilisatorischen Maßstäbe menschlicher Gesellschaft auf und der Gesichtskreis der Menschen engte sich immer mehr ein. Zunächst hatte das Regime noch davor zurückgeschreckt, die großstädtische Bevölkerung unverhohlen mit der Realität der großen Konzentrationslager zu konfrontieren. Die reinen Vernichtungslager gar, wie z. B. Treblinka oder Sobibor, waren nach den Protesten gegen die in reichsdeutschen Heilanstalten vollzogenen massenhaften Krankenmorde im Rahmen der sogenannten Euthanasie weit in den Osten verlegt worden. Das änderte sich jetzt unter dem Druck des totalen Krieges. Die zunehmende Abstumpfung der Menschen gegenüber Gewalt und Terror machte es möglich. Ganz sicher war sich das Regime trotzdem noch nicht. Vor allem deshalb transportierte die SS diejenigen Häftlinge des KZ-Außenlagers Lichterfelde,  die zu erschöpft und zu krank zum Arbeiten waren oder die bestraft werden sollten, zumeist zurück nach Oranienburg, wo sie durch die SS-Ärzte nach oberflächlicher Diagnose leichter getötet oder in den verschiedenen Einrichtungen des Lagers ungesehen gefoltert werden konnten. Die bisher bekannt gewordenen Hinrichtungen von Wilhelm Nowak sowie zweier weiterer KZ-Häftlinge, die in Lichterfelde vor den Augen ihrer Mithäftlinge erhängt wurden, scheinen eher die Ausnahme gewesen zu sein.

Diese furchtbare aber sorgsam überlegte Arbeitsteilung des Terrors zwischen den KZ-Außenlagern in Berlin und dem sogenannten Stammlager in Oranienburg darf nicht dazu führen, dass die Satelliten des Lagers, in denen, quantitativ betrachtet, sogar eine Mehrheit aller 200.000 Häftlinge von Sachsenhausen zur Zwangsarbeit interniert war, als eigenständige Orte der Erinnerung aus dem Gesamtkomplex des KZ-Kosmos herausgelöst werden. Sicher waren die Bedingungen in den jeweiligen Außenlagern sehr unterschiedlich: So konnten selbst in den jüdischen Außenlagern von Sachsenhausen, wie etwa bei Siemens in Haselhorst oder bei Argus in Reinickendorf,  nicht die gleichen lebensvernichtenden Arbeitsbedingungen und brutalen Massaker organisiert werden, wie sie z. B. in dem in der Nähe eines kleinen brandenburgischen Dorfs angesiedelten Außenlagers Lieberose stattfanden. Doch der Kommandant in Sachsenhausen und die zentrale Verwaltung aller Konzentrationslager in Oranienburg in dem bis heute original erhaltenen sogenannten T-Gebäude koordinierten und passten die Lebens- und Arbeitsbedingungen der KZ-Häftlinge den jeweiligen lokalen Erfordernissen und Umständen an.

Sachsenhausen ist daher, auch wenn das Hauptlager in Oranienburg acht Kilometer vor den Toren der Hauptstadt lag, ein leider in der Stadtgesellschaft immer noch viel zu wenig anerkannter, genuiner Erinnerungsort Berliner Geschichte. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl haben viele Berlinerinnen und Berliner über lange Jahre daran gehindert, ihn als solchen anzunehmen. Auch 28 Jahre nach der deutschen Einheit wirkt diese gewaltsame Trennung nach, zumal die 1961 nur wenige Monate vor dem Mauerbau von der DDR errichtete Mahn- und Gedenkstätte von beiden Hälften der Stadt zum Streitgegenstand zwischen den sich konfrontativ gegenüber stehenden politischen Systemen gemacht wurde.

Ich bin daher der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde sowie allen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, allen Schülerinnen und Schülern sehr dankbar dafür, dass sie jährlich am Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus an die Opfer des Konzentrationslagers Sachsenhausen erinnern. Möge ihr Beispiel ausstrahlen auf andere Stadtbezirke, in denen die Präsenz von Außenlagern des Konzentrationslagers Sachsenhausen in der unmittelbaren Nachbarschaft kaum thematisiert wird und fast vergessen zu sein scheint. Und möge vor allem ihr Engagement und ihre Kraft nicht nachlassen, auch wenn sich die Stimmen mehren, die inzwischen selbst im Deutschen Bundestag die gegen erhebliche Widerstände in Jahrzehnten erkämpfte Erinnerungskultur in Deutschland wieder weit hinter die Entwicklung zurückwerfen wollen, die 1985 mit der Rede des Bundespräsidenten und ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Richard von Weizäcker, zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, begonnen hatte.

Denn die wirkliche Probe auf die Stärke und Nachhaltigkeit der Erinnerungskultur, sie kommt erst jetzt.

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Neujahrsansprache 2. Februar 2018

NEUJAHRSEMPFANG DES ARBEITSKREISES DER BERLIN-BRANDENBURGISCHEN NS-GEDENKSTÄTTEN
AM 2. Februar 2018
GRUSSWORT
Prof. Dr. Günter Morsch

Sehr geehrte Frau Dr. Kaminsky,
Exzellenz,
sehr geehrter Herr Staatssekretär,
lieber Herr Eppelmann,
sehr geehrter Herr Sello,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, des Berliner Abgeordnetenhausen und des Brandenburgischen Landtages,
verehrte Mitglieder des diplomatischen Corps,
sehr geehrte Vertreter der Opferverbände und der religiösen Gemeinschaften,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Namen der Mitglieder des Arbeitskreises I der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg möchte ich mich zunächst ganz herzlich bei denjenigen bedanken, die nun zum dritten Mal diesen Neujahrsempfang ermöglicht und organisiert haben. Ich danke vor allem der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ganz herzlich dafür, dass wir nach unserem turnusmäßigen Ausflug zur „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Ihren Räumen wieder zu Gast sein dürfen. Ich freue mich, dass so viele Kolleginnen und Kollegen zusammen mit unseren Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kultur die Chance nutzen wollen, um im zwanglosen Rahmen miteinander hoffentlich nicht nur über die Geschichte beider Diktaturen und ihre Darstellung ins Gespräch zu kommen.

In den ersten Wochen des neuen Jahres haben die Gedenk- und Dokumentationsstätten zur Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen eine besondere und unerwartete Aufmerksamkeit in Politik und Medien erfahren. Anlass dafür gaben Äußerungen der Berliner „Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales“ Sawsan Chebli. Auf dem Hintergrund skandalöser Vorkommnisse in der Mitte Berlins, als im Rahmen einer Protestaktion gegen die Beschlüsse der amerikanischen Regierung zur Verlegung ihrer Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem israelische Fahnen verbrannt wurden, forderte sie, dass jeder, der in diesem Land lebt, verpflichtet wird, mindestens einmal in seinem Leben eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Obwohl die in Berlin geborene Tochter palästinensischer Flüchtlinge, die für ihren Kampf gegen Antisemitismus bekannt ist, ihre Anregung auf alle Teile der in Deutschland lebenden Bevölkerung ausgedehnte hatte, rückten schnell Migranten und Geflüchtete in den Fokus der Diskussion.

Grundsätzlich müssen wir Frau Chebli dafür dankbar sein, dass sie den Anstoß zu einer danach schon sehr bald intensiv geführten Debatte gab, die auf dem Hintergrund der Veranstaltungen zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus bis in bekannte Talk-shows-Formate des Deutschen Fernsehens hinein reichte. Einige von uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind in diesem Zusammenhang von Journalisten und Politikern nach unserer Meinung zu den Forderungen der Berliner Staatssekretärin befragt worden. Auch mich hat das große Medieninteresse gerade auch ausländischer Journalisten überrascht. Glaubten wir doch in den vergangenen Jahren uns schon des Öfteren mit der immer wieder von unterschiedlicher Seite aktualisierten Forderung nach verpflichtenden Gedenkstättenbesuchen auseinandergesetzt und dabei mehrheitlich eine sorgfältig erwogene und diskutierte, kritische Haltung dazu formuliert zu haben.

Nun ist nicht zu leugnen, dass es zahlreiche Anlässe gibt, um diese aufgeworfenen Fragen erneut zu diskutieren. Denn es scheinen, wie nicht nur vielfach Beobachtungen und Stimmungen, sondern auch repräsentative Umfragen bestätigen, antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen erneut zu wachsen. Die erschreckend hohe Anzahl von zumeist rechtsextremistisch motivierten Anschlägen auf Leben und Gesundheit von Geflüchteten und Asylbewerbern, fremdenfeindliche Demonstrationen wie Pegida und vor allem auch die Ergebnisse der letzten Bundestagswahlen geben, wie auch ich meine, allen Grund zur Besorgnis. Dass nun sogar im Deutschen Bundestag eine Partei fast einhundert Sitze einnimmt, aus deren Reihen offen und unverblümt die mühselig in vielen Jahrzehnten vorwiegend bürgerschaftlichen Kampfes errungene Erinnerungskultur in Deutschland in ihren Grundüberzeugungen in Zweifel gezogen und nationalistische, revisionistische sowie negationistische Forderungen nach einer Neubewertung der Geschichte des Nationalsozialismus erhoben werden, habe ich mir, wie ich zugeben muss, nicht mehr vorstellen können.

Auch wir müssen daher, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, manche scheinbare Gewissheiten der vergangenen Jahre erneut auf den Prüfstand stellen. Wir müssen die Rolle und Bedeutung der Gedenk- und Dokumentationsstätten im Kontext historisch-politischer Bildung auf dem Hintergrund gewandelter Einstellungen und politischer Bedingungen kritisch hinterfragen. Sicher können wir auch in der Zukunft nur ein Mosaikstein im Gesamtbild der Erziehung zu einem demokratischen Geschichtsbewusstsein sein. Trotzdem sollten wir uns selbstkritisch fragen, inwieweit in den genannten gesellschaftlichen und politischen Abirrungen auch ein partielles Scheitern unserer Bildungsarbeit zum Ausdruck kommt? Haben wir uns rechtzeitig auf neue Herausforderungen eingestellt? Erreichen wir mit unseren Veranstaltungen, Ausstellungen und pädagogischen Konzepten noch unser Zielpublikum? Auch wenn der enorme Zuwachs an Besucherinnen und Besuchern von NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten, der seit Jahren anhält, eine andere Sprache zu sprechen scheint, so wissen wir, wie auch die meisten anderen Bildungseinrichtungen, im Grunde wenig über die pädagogischen Effekte und die Nachhaltigkeit unserer Arbeit.

Immer wieder begegnen uns besorgte Fragen und Behauptungen, wonach es vor allem das Ende der Zeitzeugenschaft sei, das die Bedeutung der NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten in der gesellschaftlichen Debatte verändert. Das ist zweifellos nicht falsch, denn wir können die emphatischen und emotionalen Begegnungen mit den Überlebenden des NS-Terrors nicht ersetzen. Gerade deshalb aber haben die Gedenkstätten seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen grundsätzlichen Wandel von Orten in erster Linie des Gedenkens und Trauerns sowie emotionaler Betroffenheit und Erschütterung einerseits hin zu zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben andererseits in Gang gesetzt. Historisches Lernen, das sich unter Zuhilfenahme überkommener Relikte, Artefakte und Zeugnisse selbständig eine konkrete Vorstellung von Geschichte und ihrer Bedeutung für die Gegenwart erarbeitet, scheint uns nachhaltiger zu wirken als eine Didaktik, die die Lernenden zur Replikation eines vorab festgeschriebenen Lehrstoffs verpflichtet. Doch dafür brauchen unsere Pädagogen nicht nur Zeit und Freiräume, wir brauchen vor allem auch mehr Personal. Insoweit irritiert es mich schon, wenn bei der breit geführten Debatte über die Verbesserung historisch-politischer Bildung in den Gedenk- und Dokumentationsstätten die personellen und logistischen Voraussetzungen, die für eine nachhaltige Bildungsarbeit unverzichtbar sind, kaum mit reflektiert, sondern vielfach sogar schlicht ausgeblendet werden.

Das Forum für zeitgeschichtliche Bildung, das die beiden Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten im vergangenen Jahr zum vierzehnten Mal durchführten, ist zweifellos eine wichtige und unbedingt beizubehaltende Veranstaltung, auf der ein Teil der genannten selbstkritischen Fragen reflektiert werden kann. In der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen, die im vergangenen Jahr Gastgeber des Forums sein durfte, haben wir in kontinuierlicher Aufnahme der Kontroversen und Debatten über die richtigen Wege zur Vertiefung und Verbesserung historisch-politischer Bildung und in Zusammenarbeit mit Schulen und Schulverwaltungen versucht, verschiedene Methoden zu diskutieren, um die Brücke zwischen der Vergangenheit und der Lebenswelt der Jugendlichen immer wieder neu zu befestigen. Ich meine, dass wir diese Diskussionsplattformen, auf denen NS- und SED-Gedenkstätten zusammen mit Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sowie mit der Wissenschaft und den Einrichtungen der Kultur- und Bildungseinrichtungen exemplarische Projekte vorstellen und diskutieren, angesichts der genannten neuen Herausforderungen eher noch vertiefen, intensivieren und verstetigen sollten. Gerade in unserer dezentralen Gedenkstättenlandschaft kommt es darauf an, den kontinuierlichen Dialog zwischen allen Beteiligten zu organisieren.

Dabei sollten sich die NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten auch noch stärker als bisher bewusst und aktiv in die Debatten um die zukünftige Erinnerungspolitik einbringen. Wir dürfen den Parteien, den Medien und gesellschaftlichen Organisationen nicht den sich verschärfenden Diskurs um die Bedeutung historischer Bildung über den Nationalsozialismus überlassen. Viele Äußerungen aus diesen Bereichen belegen, wie wenig manchen Protagonisten der Erinnerungspolitik unsere tägliche Arbeit bekannt ist. Wenn wir nicht von vermeintlichen Sachzwängen oder Vorurteilen, bewussten Verfälschungen oder politischen Zielsetzungen und Instrumentalisierungen bestimmt werden wollen, dann müssen wir den Mut haben, uns auch öffentlich zu äußern, selbst wenn wir dadurch möglicherweise in schwierige Konflikte mit Mittelgebern und Entscheidungsträgern geraten. Denn anders als die meisten Museen befinden sich die Gedenkstätten an einer sensiblen Nahtstelle zwischen Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit einerseits sowie Aufgabenerfüllung und Alltag andererseits. Dieser eminente Bedeutungszuwachs ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels, wie er z. B. von Pierre Nora oder Hermann Lübbe schon in den achtziger Jahren beschrieben wurde. Er erreichte die NS-Gedenkstätten zwar erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, er hält seitdem aber an. Die NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten sind daher selbst politische Akteure, die sich bei gesellschaftlichen Debatten nicht verstecken dürfen.

Das Jahr 2018 und erst recht das darauf folgende Jahr 2019 ermöglichen uns, im Rückblick auf entscheidende historische Wegmarken der Jahre 1938 und 1939, als der Terror gegen politische, soziale und sogenannte rassische Feinde des NS-Regimes erheblich ausgeweitet und erste militärische Interventionen und Gewaltakte der geplanten Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch das „Dritte Reich“ den Weg bereiteten, das historische Bewusstsein für gegenwärtige innen- und außenpolitische Bedrohungen und Probleme zu schärfen. Zugleich können wir auf das weit verbreitete Versagen einer Weltgemeinschaft hinweisen, die die meisten vom Terror Betroffenen im Stich ließ und keine Hilfe leistete. Das Bewusstsein für den notwendigen und aus der Erfahrung der historischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges erwachsenen Zusammenhalt vor allem auch in Europa zu stärken, das ist nicht nur eine Aufgabe, sondern eine Chance für die NS-Gedenkstätten. Es gilt das in der Geschichte ihrer Orte eingeschlossene Potential zu entfalten, denn wir sind nicht allein deutsche Einrichtungen, sondern von europäischer und internationaler Bedeutung. Denn nicht nur die Geschichte Europas zwischen 1933 und 1945, sondern gerade auch die europäische Nachkriegsgeschichte ist an unseren historischen Orten eingeschrieben.

In seinem vor kurzem mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Roman „Die Hauptstadt“ schildert der österreichische Schriftsteller Robert Menasse das Scheitern eines auf die Gründungsgeschichte der Europäischen Union rekurrierenden Projekts. Um die allmählich sich auflösende Europa-Begeisterung zu stärken, plant die europäische Kommission anlässlich ihres fünfzigsten Gründungstages einen Festakt in Auschwitz. Dabei soll ein KZ-Überlebender noch einmal an das Vermächtnis und den Schwur der Häftlinge erinnern, den Frieden durch die europäische Einigung herzustellen und auf Dauer zu sichern. Das Vorhaben scheitert schließlich, weil den unterschiedlichen Repräsentanten der EU-Staaten die Verteilung der Quoten für Schweinefleisch wichtiger und präsenter ist als die Befestigung europäischer Einheit auf dem Hintergrund historischer Erfahrung. Dieser deprimierende Schluss des Romans, der m. E. weniger fiktional als realistisch ist, sollte uns Ansporn sein, um unseren kleinen, aber, wie ich meine, nicht unmaßgeblichen Teil dazu beizutragen, dass aus der Geschichte die richtigen Schlüsse gezogen werden.

Die Neujahrsempfänge der beiden Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten sind auch eine gute Gelegenheit, um allen unseren Mitstreiterinnen und Mitstreitern, um unseren Verbündeten in Politik und Verwaltung, in den Medien ebenso wie in den verschiedenen Bildungseinrichtungen, in den Opfer- und Interessenverbänden ebenso wie in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen den herzlichen Dank von allen Gedenkstätten und Dokumentationsorten auszusprechen. Wir wissen um ihre steten Anstrengungen und sind ihnen dankbar dafür. Wir ahnen oder kennen die Herausforderungen und Probleme, denen sie begegnen müssen, um unsere Interessen und Bedürfnisse zu vertreten. Umso dankbarer sind wir nicht nur für Ihre Unterstützung und Hilfe, sondern auch für Ihre Empathie und Sympathie, aus denen nicht selten Freundschaften entstanden sind. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns ein gutes und erfolgreiches Jahr 2018.

Tag der Opfer des Nationalsozialismus 27. Januar 2018: Norwegische Häftlinge im KZ Sachsenhausen

TAG DER OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS
27. JANUAR 2018

NORWEGISCHE HÄFTLINGE IM KONZENTRATIONSLAGER SACHSENHAUSEN 1940-45

BEGRÜSSUNG UND EINFÜHRUNG
PROF. DR. GÜNTER MORSCH

„Unser Land ist von feindlichen Mächten belagert
Wir selber sind deportiert worden und gehen in Häftlingskleidung
Hier kriegen wir Schweinefutter und brennen vor Hass
Wir schmieden den Stahl für Germaniens Rüstung

Wir stehen auf dem Appellplatz im eiskalten Wind
Wir ziehen unsere Lumpen an
Die stinken wie die Pest
Wir schlafen zu zweit in einem Bett
Wir werden schwach mit allen Sklaven in unserer Buchte
Und der Tod schlägt uns oft

Es wird ein Tag kommen, und der ist nicht fern
Dann sprengen wir das Tor, obwohl es von Eisen ist
Denn hinter dem fernen Horizont und hinter dem Meer und dem Strand
Ist unser Norwegen unser wieder gewonnenes Land.“

Mit diesen drei Strophen aus dem 1943 verfassten Lagerlied der norwegischen Häftlinge möchte ich Sie alle, sehr geehrte Gäste unserer heutigen Gedenkveranstaltung, ganz herzlich begrüßen. Der Liedtext wurde von dem bekannten Schriftsteller Arnulf Överland geschrieben, der wegen seines Widerstandes gegen die deutsche Besatzungsmacht seit 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert war. Ganz besonders freuen wir uns darüber, dass Bernt Lund zum wiederholten Mal die beschwerliche Reise von Oslo nach Oranienburg auf sich genommen hat, um heute als Zeitzeuge zu uns zu sprechen. Lieber Herr Lund, seien Sie herzlich willkommen! Ich begrüße den Vizepräsidenten des Brandenburger Landtag Dieter Dombrowski, den Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhausen Herr Wieland und den Botschafter des Königreichs Norwegen Petter Ölberg. Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen sowie der Landtag in Brandenburg begehen gemeinsam den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus seit seiner Einführung im Jahre 1996 am historischen Ort, dem ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen, dort wo sich auch die Verwaltungszentrale des KZ-Terrors befand. Dafür möchte ich Ihnen sehr geehrter Her Landtagsvizepräsident, dem Präsidium sowie allen Fraktionen des Brandenburgischen Landtages, die diesen Beschluss mittragen, ganz herzlich danken.
Es ist mir dabei eine große Freude, auch in diesem Jahr wieder die anwesenden Abgeordneten des Brandenburgischen Landtages sowie des Berliner Abgeordnetenhauses begrüßen zu dürfen. Ich begrüße ferner die Mitglieder der Brandenburgischen Landesregierung und des Berliner Senats. Ich begrüße die Vertreterin der Staatsministerin für Kultur, den Landrat des Kreises Oberhavel, den Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die Mitglieder des Kreistages sowie der Stadtverordnetenversammlung. Ganz besonders dankbar sind wir, dass erneut zahlreiche Angehörige und Repräsentanten ausländischer Botschaften sowie Angehörige von Verfolgten des Nationalsozialismus an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ich danke außerdem allen Vertretern der Parteien, der Gewerkschaften und der Wirtschaft, der Kirchen sowie der jüdischen Gemeinden. Ich begrüße ferner die Vertreter von Hochschulen und Schulen sowie der verschiedenen Opferverbände, insbesondere den Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausenkomitees, Dik de Boef, und die Mitglieder des internationalen Beirates der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Ganz besonders freuen wir uns auch über die Anwesenheit von Schülerinnen und Schülern. Schon jetzt danke ich den Schülerinnen und Schülern des Georg-Mendheim-Oberstufenzentrums sowie des Gymnasiums Panketal, die an der Ausgestaltung unserer Gedenkveranstaltung mitwirken.

Am 9. April 1940 überfielen deutsche Wehrmachtstruppen das Königreich Norwegen. Während die norwegischen Soldaten einen tapferen aber aussichtlosen Kampf gegen die deutschen Invasoren führten, gelang König Haakon VII die Flucht nach Großbritannien. Dort baute er eine Exilregierung auf. Die Herrschaft im Land übernahmen der ehemalige NSDAP-Gauleiter des Ruhrgebietes, Josef Terboven, sowie der Befehlshaber der Wehrmacht Nikolaus von Falkenhorst. Obwohl das „Dritte Reich“ sich um eine enge Zusammenarbeit mit dem sogenannten „Nordischen Brudervolk“ bemühte, blieb der Erfolg gering, da der eingesetzte Ministerpräsident Vidkun Quisling kaum Rückhalt in der norwegischen Bevölkerung fand. Im Lauf der Besatzungszeit nahmen daher der Widerstand aus der norwegischen Bevölkerung einerseits und der Terror der deutschen Besatzungsmacht andererseits immer mehr zu. Nicht nur aus ideologischen, sondern vor allem auch aus wirtschaftlichen Gründen gingen die Deutschen in den skandinavischen Staaten vorsichtiger als anderswo vor. Trotzdem kam es vielfach zu offenem Terror. Standrecht, Hinrichtungen, Deportationen und Verhaftungen .
Während die meisten Norweger in Polizeihaftlagern und Gefängnissen auf norwegischen Boden inhaftiert wurden, verschleppte die SS mehr als 9.000 ganz überwiegend politische Widerstandskämpfer in Konzentrationslager. Fast 800 Juden wurden vor allem nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dass die meisten Norweger, mehr als 2.500, in das Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt transportiert wurden, lag wohl am wenigsten in der geographischen Lage Oranienburgs begründet. Vielmehr war wohl die schon 1939 vorgenommene Einstufung des KZ Sachsenhausen als ein, wie es die SS nannte, Lager für besserungsfähige Häftlinge entscheidend. Möglicherweise nahm darauf auch der kurz davor abgelöste Kommandant von Sachsenhausen Hans Loritz Einfluss, der im September 1942 die Führung der SS-Inspektion in Norwegen übernahm. Denn schon bald nach seiner Ernennung wuchs die Anzahl der mit Schiffen und Eisenbahnen hauptsächlich aus dem Polizeihaftlager Grini bei Oslo verschleppten Norweger stark an.
Der erste Häftlingstransport aus Norwegen war bereits am 24. August 1940 von der Lagerverwaltung erfasst worden. Im weiteren Verlauf des Jahres sowie auch im darauf folgenden Jahr 1941 blieb es bei vereinzelten Transporten. Erst am 27. Mai 1942 erreichte ein neuer Großtransport mit 113 Norwegern das Konzentrationslager Sachsenhausen. Unter ihnen befanden sich 66 Männer aus der kleinen Fischersiedlung Telavag[Telawohg] im Westen Norwegens. Aus Rache für die Unterstützung der westlichen Alliierten und die Erschießung zweier Gestapobeamter ließ Reichskommissar Terboven das gesamte Dorf in Schutt und Asche legen und verschleppte am 30. April 1942 alle Kinder und Frauen sowie ältere Männer nach Bergen. Die zwischen 15 und 65 Jahre alten Männer dagegen transportierte die SS fast alle über Grini nach Sachsenhausen. Nicht einmal die Hälfte von ihnen überlebte.
Ende 1942 verstärkten die Nationalsozialisten angesichts der an allen Fronten sich abzeichnenden militärischen Niederlagen ihre Rüstungsanstrengungen. Die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen bekam dadurch einen völlig neuen Stellenwert. Aus allen besetzten Ländern, so auch aus Norwegen, verschleppten die Nationalsozialisten Hundertausende von Menschen in das sich explosiv ausweitende und verzweigende Lagersytem. Zeitweise erreichten 1943 fast täglich große Häftlingstransporte aus Norwegen das Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt. Diese großen Transporte dauerten auch im ersten Halbjahr 1944 an. Dadurch erhöhte sich die Anzahl der norwegischen Häftlinge, die zur gleichen Zeit im Oranienburger Hauptlager sowie in den Nebenlagern, vor allem in den Außenlagern Falkensee, Heinkel sowie Bad Saarow, inhaftiert waren, auf über 2.000.
Die ganz überwiegende Anzahl der Norweger mussten im KZ Sachsenhausen das rote Dreieck der politischen Häftlinge an ihre Kleidung nähen. Über norwegische Häftlinge mit anderen Winkelfarben ist kaum etwas bekannt; nur vereinzelt waren auch Juden unter ihnen. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge kam aus den verschiedenen Organisationen der norwegischen Arbeiterbewegung, insbesondere aus den Jugendorganisationen. Da der vom britischen Exil aus angeleitete Widerstand in Norwegen sehr straff militärisch organisiert war, gehörten auch zahlreiche Polizisten, wie z. B. der Polizeidirektor von Kristiansand, Kristian Wilhelm Rynning-Tönnessen, sowie ehemalige Soldaten der norwegischen Armee zu den Inhaftierten. Auch zahlreiche Intellektuelle, wie z. B. der Rektor der Osloer Universität Didrik Arup Seip, der eingangs zitierte Schriftsteller Arnulf Överland, der Sohn des Nobelpreisträges und Polarforschers Odd Nansen sowie evangelische Geistliche, wie Pedder Scheie, befanden sich unter den norwegischen Häftlingen.
In Sachsenhausen erwartete die Norweger zunächst das übliche demütigende und grausame Aufnahmeritual. In den ersten zwei bis drei Wochen wurden sie in den Quarantäneblocks zusammen gepfercht. Die meisten von ihnen mussten in dieser Zeit die Qualen des sogenannten Schuhelaufens auf der über den Appellplatz herumführenden, von der deutschen Schuhindustrie eingerichteten Teststrecke erdulden. Die übermenschlichen Anstrengungen und sadistischen Quälereien auf dem täglichen, etwa 40 Kilometer langen Marsch über unterschiedliche Bodenbeläge, häufig in zu engen und kleinen Stiefeln, haben sich in das Gedächtnis der Überlebenden besonders stark eingegraben. Himmlers auf die Giebel des ersten Barackenrings angebrachten Sinnspruch, wonach die Freiheit angeblich von der Befolgung der Sekundärtugenden, also Fleiß, Ordnungssinn, Ehrlichkeit und Vaterlandsliebe, abhing, haben viele Norweger auch noch nach ihrer Befreiung als Ausdruck einer typisch deutschen Mentalität interpretiert.
Solange die Lagerverwaltung die norwegischen Häftlinge aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl auf die 58 Baracken des Häftlingslagers verteilte, teilten sie das Schicksal aller übrigen Häftlinge. Überdurchschnittlich viele Norweger starben daher in diesen ersten beiden Jahren. Spätestens nach der Ankunft der Massentransporte im Jahre 1943 gelang es ihnen, die Zusammenlegung in eigenen Blocks, den sogenannten Norweger-Baracken, zu erreichen. Der dadurch bewirkte Zusammenhalt stärkte die Identität der norwegischen Häftlingsgruppe, die sich durch eine starke Heimatorientierung auszeichnete, die nicht selten mit einem ausgeprägten nationalen Stolz sowie einem starken antideutschen Widerstandsgeist einherging. Alle erhaltenen Erinnerungsberichte der Überlebenden zeugen von einem intensiven kulturellen Leben der Norweger in diesen Baracken. Mindestens genauso wichtig für das Überleben der norwegischen Häftlinge war die im Dezember 1942 erteilte Erlaubnis zum Paketempfang. Monatlich konnten danach privilegierte Häftlingsgruppen Pakete mit Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten empfangen. Nicht nur die Angehörigen der Häftlinge, sondern vor allem auch das norwegische, dänische und schwedische Rote Kreuz sandten von 1943 an bis zu 5 Kilogramm schwere Pakete, die den meisten Empfängern die Chancen des Überlebens im Lager auf vielfache Weise entscheidend verbesserten.
Da die Pakete nur an namentlich bekannte Häftlinge verschickt werden durften, partizipierten zunächst nicht alle Norweger an dieser wichtigen Hilfsaktion. Es ist der seinerzeit mit ihrer Familie in Groß-Kreuz internierten, damals 21-jährigen Wanda Heger vor allem zu verdanken, dass diese Aktion sich auf fast alle skandinavischen Häftlinge ausdehnen konnte. Der genau heute vor einem Jahr leider verstorbenen Norwegerin nämlich gelang es, mit norwegischen Häftlingen, die in den Außenkommandos des Lagers arbeiteten, zum Teil unter den Augen des SS-Wachen Kontakt aufzunehmen und über sie die Namen weiterer Landsleute zu ermitteln, die sie an das Rote Kreuz weitergab.
Aus der Paketaktion der Skandinavier entwickelte sich eine der größten Solidaritätsaktionen, die auch in den Erinnerungen anderer Häftlingsgruppen, eine wichtige Rolle spielen. Denn vielfach verteilten die Norweger einen Teil des Inhalts der Pakete vorwiegend an die Kranken und die sogenannten Muselmänner. Mark Tilevic, der im Sommer diesen Jahres leider verstorbene langjährige Präsident des russischen Sachsenhausenkomitees, schreibt darüber in seinen Erinnerungen: „Die Tatsache, dass sich Norweger in unserem Lager befanden, war eine enorme Stütze, besonders für uns Russen, denn sie gaben sich große Mühe, uns jede erdenkliche Hilfe zu leisten, da wir die Elendsten von allen waren…Wir hatten mit ihnen eine äußerst herzliche und warme Freundschaft, die sich das Leben über fortsetzte.“
In dankbarer Erinnerung vieler Häftlinge blieben vor allem auch die verschiedenen Hilfsaktionen, mit denen sich norwegische Häftlingsärzte in den Revieren des Lagers um die Kranken bemühten. So organisierte Dr. Sven Oftedal gemeinsam mit seinem norwegischen Kameraden Dr. Per Graesli eine Blutspendeaktion im Lager, an der sich rund einhundert Häftlinge beteiligten. Beiden sowie dem norwegischen Pfleger Per Roth war es wohl auch in der Hauptsache zu verdanken, dass die elf jüdischen Kinder, die im Krankenrevier II für medizinische Experimente missbraucht wurden, nicht als Zeugen der NS-Verbrechen wie andere ermordet, sondern auf den Todesmarsch geschickt wurden, den alle überlebten.
Die allermeisten norwegischen Häftlinge im KZ Sachsenhausen empfanden sich nicht nur gegenüber den anderen Häftlingsgruppen als privilegiert, sie waren es zweifellos in vieler Hinsicht auch. Das wurde wahrscheinlich durch die Rettungsaktion des dänischen und schwedischen Roten Kreuzes am sichtbarsten, die unter dem Namen „Aktion Bernadotte“ weltweit bekannt ist. Zwischen dem 18. und dem 30. März 1945 gelang es, mehr als 2.000 skandinavische Häftlinge mit weiß gestrichenen Bussen und Lastwagen aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen zu befreien. Zurück blieb, folgt man der Lagerregistratur, nur ein einziger norwegischer Häftling, der offenbar todkrank im Revier lag. Es handelte sich um Johannes Christopher Telle, ein im Rahmen der erwähnten kollektiven Sühnemaßnahme verschleppter Fischer aus Telavag [Telawohg]. Er verstarb am 2. April 1945. Insgesamt kehrten wohl etwa 200 der mehr als 2.500 nach Sachsenhausen verschleppten Norweger nicht mehr nach Hause zurück. Die meisten verstarben in den ersten beiden Jahren infolge der katastrophalen Lebensbedingungen. Eher eine, allerdings bezeichnende Ausnahme scheint der norwegische Jude Moritz Rabinowitz zu sein. Er wurde, so erinnern sich verschiedene norwegische Häftlinge, von der SS am 27. Februar 1942 zu Tode gefoltert.
Nach Hause zurückgekehrt, versuchten viele der norwegischen Überlebenden an ihre Tätigkeiten vor dem Krieg anzuknüpfen. Norwegische Sachsenhausen-Überlebende bestimmten bis in die siebziger Jahre hinein maßgeblich die Politik dieses skandinavischen Landes. Noch im Konzentrationslager, so erinnert sich Finn Kleppe, sei die erste Nachkriegsregierung Norwegens gebildet worden: Am 9. Mai 1944 habe der spätere Ministerpräsident Einar Gerhardsen eine Reihe von norwegischen Häftlingen aus Anlass seines Geburtstages in seine Baracke eingeladen. Dort am Tisch habe er seine Kameraden Halvard Lange zum Außenminister, Nils Langhelle zum Verkehrsminister, Sven Oftedahl zum Sozialminister, Lars Moen zum Kirchenminister und Johan Johansen zum Arbeitsminister ernannt. Es kann von mir nicht entschieden werden, inwieweit der Bericht von Finn Kleppe die Vergangenheit doch etwas zu sehr verklärt. Richtig bleibt aber, dass nicht nur die Genannten, sondern auch viele weitere Sachsenhausen-Überlebende, so auch unser Ehrengast Bernt Lund, noch über viele Jahrzehnte wichtige politische Ämter in Norwegen bekleideten und dadurch auch die Politik Europas maßgeblich mitprägten.

Als Ignaz Bubis sel. Ang. 1996 dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog den Tag der Befreiung der im Lager Auschwitz verbliebenen Häftlinge als Gedenktag vorschlug, war er sich sicherlich der Singularität des Völkermords an den europäischen Juden bewusst. Kein anderer der vielen Feinde des Nationalsozialismus und kein anders Zielobjekt ihres Rassenwahns sollte vollständig, vom Baby bis zum Greis, Männer ebenso wie Frauen, in Gänze und weltweit ausgerottet werden. Trotzdem wollte Bubis den Gedenktag allen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet wissen. Denn allen überlebenden Opfern des Nationalsozialismus stand bis zum Ende ihres Lebens die den inneren Kern der NS-Ideologie bestimmende generelle Menschenfeindlichkeit vor Augen, die sich gegen Kranke und Schwache ebenso wie gegen politische Gegner, gegen Angehörige angeblich minderwertiger Rassen ebenso wie gegen soziale Außenseiter, gegen sexuelle Minderheiten ebenso wie gegen Unangepasste richtete. Es ist gerade heute, da die Stimmen der Zeitzeugen weitgehend verstummt sind und Feindbilder von Rechtspopulisten und -extremisten fast nach Belieben ergänzt, aktualisiert und verändert werden, immer wichtiger, sich dieser generellen antihumanen Bedrohung bewusst zu bleiben. Noch sind es nur wenige, die sogar den Holocaust abstreiten oder relativieren. Bedenklicher scheint mir dagegen die sich, teils aus Unbedacht und teils aus Kalkül, ausbreitende Gewohnheit zu sein, die Verbrechen des Nationalsozialismus auf den Holocaust an den Juden zu beschränken und die generelle Menschenfeindlichkeit auszublenden.
Im Konzentrationslager Sachsenhausen waren Menschen aus über vierzig Nationen inhaftiert. Sie waren aus den verschiedensten Gründen in das Konzentrationslager bei Reichshauptstadt und seine Außenlager verschleppt worden, aus rassischen, politischen, religiösen, sozialen, biologischen und ökonomischen Gründen. Auch wenn die Todesbedrohungen unterschiedlich ausgeprägt waren, so befanden sich unter den vielen zehntausenden von Opfern Angehörige aller Haftgruppen. Dieser Nationen, Schichten und Gruppen überwölbenden Gemeinsamkeit sollten wir uns bewusst bleiben. Sie war eine der zentralen Anliegen der überlebenden KZ-Häftlinge. Nicht zuletzt deshalb versäumte es keiner der drei inzwischen leider verstorbenen Präsidenten des Internationalen Sachsenhausen Komitees, in ihren Reden immer wieder auf die aus ihrer Erfahrung im KZ heraus wichtigste und unverzichtbare Grundlage humanen Zusammenlebens hinzuweisen, auf die „solidarité“, wie Charles Désirat, Pierre Gouffault und Roger Bordage als Franzosen formulierten. Im Vermächtnis der Überlebenden, das zehn Präsidenten der Häftlingsverbände der großen Konzentrationslager 2009 verfassten und zahlreichen hohen Repräsentanten europäischer Staaten überreichten, heißt es in eben diesem Sinn: „Aber auch Europa hat seine Aufgabe: Anstatt unsere Ideale für Demokratie, Frieden, Toleranz, Selbstbestimmung und Menschenrechte durchzusetzen, wird Geschichte nicht selten benutzt, um zwischen Menschen, Gruppen und Völkern Zwietracht zu säen…“
Wie stark gerade auch norwegische KZ-Überlebende von Sachsenhausen mit dem Gedanken der europäischen Einigung verbunden waren, beweist u. a. das Verhalten des vielfachen Ministers und zweifachen Ministerpräsidenten Norwegens Trygve Bratelli. Der engagierte Jugendpolitiker der Arbeiterpartei war schon vor seiner Inhaftierung im Juni 1942 und seiner Deportation nach Sachsenhausen freundschaftlich mit dem deutschen Emigranten Willy Brandt verbunden. Nach dem Krieg pflegten sie diese Freundschaft weiter und trafen sich oft zu Gesprächen über Deutschland und Europa. Konsequenterweise trat er als Ministerpräsident zurück, als die Norweger sich in einer Volksabstimmung gegen den von ihm bereits unterschriebenen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aussprachen. Doch seine Überzeugung, dass Europa auf Dauer nur Frieden finden könne, wenn es auch zwischen Ost und West einen inneren Zusammenhang herstellt, holte ihn aus seinem zwischenzeitlichen Ruhestand zurück. „Je stärker Europa eine Zusammenarbeit zwischen den Nationen entwickelt, desto weniger muss man sich vor den Quellen der Unruhe fürchten, die zweimal zu meinen Lebenszeiten zu Weltkriegen geführt haben.“ Dieses Bekenntnis zu Europa formulierte der ehemalige „Nacht und Nebel-Häftling“, in dessen Wohnzimmer ein Gemälde des bekannten norwegischen Künstlers Reider Aulie mit dem Titel „KZ-Häftlinge beim Appell“ im Wohnzimmer der Familie hing, im Jahre 1971. Vier Jahre später unterzeichnete Bratelli als norwegischer Ministerpräsident die berühmte Schlussakte von Helsinki, die nicht nur als ein Meilenstein der Entspannungspolitik, sondern als entscheidende Wegmarke zum Fall der Mauer und zur Auflösung des Warschauer Pakts angesehen wird.

In dem kürzlich mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Roman von Robert Menasse, „Die Hauptstadt“ verfolgt eine Projektgruppe der Europäischen Kommission die Idee, das gegenwärtig schwindende Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa durch den Verweis auf die Entstehungsgeschichte der europäischen Einigung wiederzubeleben. Im Zentrum einer geplanten Jubiläumsveranstaltung sollte daher das Vermächtnis von KZ-Überlebenden stehen. Das Vorhaben scheitert schließlich am kleinlichen und bornierten Egoismus der unterschiedlichen nationalen Repräsentanten, denen die Quoten für Schweinefleisch wichtiger und präsenter sind als die historische Verantwortung. Diese fiktionale Handlung ist keinesfalls unrealistisch. Vergleichbares haben die zehn Präsidenten der Häftlingsverbände in Brüssel schmerzlich erfahren müssen, als sie ihr Vermächtnis möglichst vielen europäischen Abgeordneten übereichen wollten. Wir sind daher heute auch hier, um dieses Vermächtnis der KZ-Überlebenden zu bekräftigen. Es ist aktueller denn je.

Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1945. Ausstellungseröffnung am 75. Jahrestag des Überfalls, 21. Juni 2016

ERÖFFNUNG DER Sonderausstellung „Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1945“
Der Ständigen Konferenz der Leiter NS-Gedenkorte im Berliner Raum
21. Juni 2016

Begrüßung: Staatsministerin Frau Prof. Grütters,
Exzellenz, Herr Botschafter Grinin,
Damen und Herren,
Kolleginnen und Kollegen

STäKO: HdW, GuMS, Denkmal Juden, GdW, Topographie,

Verweis auf Ausstellung zum 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges mit Überfall auf Polen 2014 auf Pariser Platz, große Aufmerksamkeit

Der Krieg gegen die Sowjetunion, der vor 75 Jahren begann, war ein rassistisch, antislawisch und antisemitisch motivierter Weltanschauungs-, Vernichtungs- und Eroberungskrieg. Brutalität und Grausamkeit, mit der Vernichtungskrieg und Völkermord durchgeführt wurden, waren und sind beispiellos. Die Einzelheiten und Details entziehen sich fast jeder Vorstellung. Sie lassen selbst den Historiker, der mit den Quellen, den amtlichen Dokumenten ebenso wie mit den Berichten der Zeitzeugen, vertraut ist, immer wieder erschaudern. Die Wurzeln von Vernichtungskrieg und Völkermord lassen sich mindestens bis in die ersten Jahre der Weimarer Republik zurückverfolgen. Ihre große Breitenwirkung, die nicht nur fanatische Nationalsozialisten, sondern auch die Träger von Wehrmacht, Staat und Wirtschaft sowie zweifellos auch einen Großteil der deutschen Soldaten erfasste, lässt sich gerade aus dem Zusammenwirkung der in ihren Anfängen unterschiedlichen Ursachen erklären. Das furchtbare, spätestens nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 immer wieder durch die Propaganda eingeübte Amalgam von Antislawismus, Antisemitismus, Antibolschewismus und imperialen Eroberungs- und Herrschaftsplänen lieferte für jede Gruppe, jede Institution und jede Organisation des „Dritten Reiches“ die den jeweiligen entweder lange tradierten oder neu erzeugten Feindbildern gemäße Rechtfertigung zum geplanten Massenmord an Millionen von Menschen.
Für Hitler und die allermeisten seiner Anhänger, aber auch für einen Großteil der deutschnationalen Eliten in Staat, Wirtschaft und Wehrmacht galt schon lange das Dogma, dass Deutschland seinen Lebensraum im Osten suchen müsse. 1933, nur vier Tage nach dem Beginn seiner Kanzlerschaft, kündigt Hitler daher vor den höchsten Offizieren der Reichswehr die rücksichtslose Germanisierung des neu zu gewinnenden Lebensraumes im Osten an. Zuvor allerdings müsse er den „Marxismus“ in Deutschland ausrotten, was den Schluss nahe legt, dass die Ausrottung des Bolschewismus darauf unmittelbar folgen soll. Zur gleichen Zeit debattiert man in führenden Wirtschaftskreisen über die angeblich unendlich großen Chancen und Möglichkeiten eines deutschen Großwirtschaftsraumes, der sich vom Baltikum über die Ukraine bis in den Kaukasus erstrecken soll. Polen ist zunächst die Rolle eines Glacis zugedacht, von dessen Boden aus der entscheidende Kampf beginnen soll. Mit dem deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag 1934 verknüpft die NS-Diktatur die Hoffnung auf eine mit mehr oder wenig Druck erreichte einvernehmliche Lösung, um den Durch- und Aufmarsch der hochgerüsteten deutschen Armeen zu ermöglichen. Im Antikominternpakt will man alle anti-bolschewistischen Kräfte sammeln, um die Sowjetunion einzukreisen. Ein „Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus“ wird proklamiert. Bekanntlich scheitern diese Pläne, obwohl Frankreich und Großbritannien Hitler im Münchener Abkommen weit entgegen kommen. Deutschland vollzieht mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt eine taktische Kehrtwende, die alle Gegner Hitlers, sowohl im deutschen Widerstand als auch im Ausland, in tiefe Ratlosigkeit und Resignation stürzt.
Die Spitzen des NS-Regimes sind sich jedoch darin einig, dass die Realisierung ihrer Vorstellungen vom Lebensraum im Osten nur aufgeschoben und nicht aufgehoben ist. Schon im November 1939 deutet Hitler an, dass er eine große Operation gegen Rußland plane. Indes üben vor allem SS und Polizei im besetzten Polen bereits die Methoden des Vernichtungskrieges ein, vor allem polnische Intellektuelle, Militärs und Lehrer aber auch psychisch Kranke und Juden sind die Hauptopfer.

Die konkreten Vorbereitungen der Wehrmacht für den großen Ostkrieg setzen bereits im Frühsommer 1940 ein. Mit dem Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941, verfasst vom Chef des OKW Wilhelm Keitel, wird der Truppe weitgehend freie Hand bei Gewalttaten gegen Zivilisten gelassen, ein Freibrief für den Vernichtungskrieg.
Nach dem Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941, unterzeichnet von Alfred Jodl, gleichfalls OKW, sollen alle politischen Kommissare sofort hinter der Front ermordet werden. In den Bestimmungen des Befehls kommt die Vermischung von antijüdischen und antibolschwistischen Feindbildern, wie sie auch von der Wehrmacht geteilt werden, klar und deutlich zum Ausdruck. Etwa zur gleichen Zeit arbeiten Wissenschaftler der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft an gigantischen Plänen zur Besiedlung der durch Hunger, Massenmord und Vertreibungen leer gesäuberten neuen Siedlungsgebiete für deutsche Bauern und Kriegsgewinnler, von ca. 30 Millionen Opfern auf Seiten der sowjetischen Bevölkerung gehen die Wissenschaftler dabei aus. SS und Polizei bereiten sich darauf vor, im Rücken der Front eine schon in Polen eingeübte und noch zu steigernde Terrorherrschaft aufzubauen.

Die allumfassende Gewalt beginnt schon in den ersten Tagen nach dem Angriff. In Litauen verüben die Deutschen mit Unterstützung der örtlichen Bevölkerung die ersten Massaker an Juden. Schon im Sommer 1941 gehen diese vereinzelten Massaker in die Praxis der systematischen Judenvernichtung, den Holocaust, über. Zusammen mit den Juden werden, ohne dass es eines besonderen Befehls bedurft hätte, Roma sowie Kranke in psychiatrischen Anstalten und Pflegeheimen ermordet. Der Krieg gegen die SU beseitigt jegliche möglicherweise noch existierende Skrupel. Die unvergleichlichen Völkermordverbrechen beginnen zwar in der Sowjetunion, sie dehnen sich aber bald von dort auf das ganze besetzte Europa aus.
In den Kriegsgefangenlagern setzt die geplante Vernachlässigung der sowjetischen Soldaten ein mit der Folge, dass bis zum Ende des gleichen Jahres bereits etwa 1,4 Millionen Rotarmisten, das sind fast 60 Prozent aller sowjetischen Kriegsgefangenen, unter erbärmlichsten Bedingungen an Hunger und Seuchen sterben. Die dem Kommissarbefehl folgenden, vielfach willkürlichen Selektionen, die immer häufiger auch einfache Soldaten erfassen, führen auch schon im Juli zu ersten Massenmordaktionen. Am 1. September 1941, also nur 10 Wochen nach Kriegsbeginn, werden auch die reichsdeutschen Konzentrationslager zu Tatorten der Massenmorde an den sowjetischen Kriegsgefangenen. In der zentralen Verwaltung des KZ Terrors, im sogenannten T-Gebäude von Oranienburg, wird von den KZ-Kommandanten über die Tötungsmethoden an Zehntausenden Rotarmisten diskutiert. 13.000 von ihnen werden mit Hilfe einer Genickschußanlage, nur 30 Kilometer entfernt von hier im KZ Sachsenhausen innerhalb von zehn Wochen ermordet. Zur gleichen Zeit füllen sich die Massengräber, die neben den zahlreichen Stalags der Wehrmacht in der Nachbarschaft deutscher Städte und Dörfer ausgehoben werden.
Als sich im besetzten Hinterland nicht zuletzt aufgrund der großen Brutalität des Vernichtungskrieges der erste Widerstand regt, steigern sich auch die Anti-Partisanen-Aktionen zu einem massenhaften Gemetzel. Wir wissen bis heute nicht, wie viele Dörfer zusammen mit ihren Bewohnern, mit Kindern, Frauen und Männern, völlig zerstört, niedergebrannt und von der Landkarte getilgt werden. Sind es Hunderte, sind es Tausende? Vor allem in Weißrußland tobt der als Anti-Partisanenkampf verharmloste und bis in unsere Tage hinein als unvermeidliche Repressalie gerechtfertigte Vernichtungskrieg,
Gemäß den schon 1941 formulierten ausgearbeiteten Plänen, wie sie der Generalplan Ost oder der Kahlfraß- und Hungerplan von Staatssekretär Herbert Backe vorsehen, rauben die deutschen und die mit ihnen verbündeten Truppen der Bevölkerung in der SU nicht nur jegliche Lebensgrundlagen, sondern zerstören sie auch langfristig. Viele Privatbilder der Soldaten, die sie in die Heimat zurückschicken, zeigen die Männer unter den Stahlhelmen, wie sie lachend Schweine und Kühe aus den Ställen heraustreiben, wohl wissend, dass sie die Bauern und ihre Familien damit dem Hungertod überantworten. Das völlige Aushungern ganzer Städte, wie Leningrad, gehöre zum Monate zuvor kühl kalkulierten Schlacht- und Kriegsplan der Wehrmacht, wie Panzerangriffe und Luftterror. Besonders schwer betroffen von der Hungerpolitik sind u. a. die Städte in der Nordostukraine.

Nach dem Scheitern des Blitzkrieges vor Moskau im Winter 1941 erkennen die Spitzen von Staat, Wehrmacht, Partei und Wirtschaft, dass sie den Krieg nur weiter führend können, wenn sie Millionen von Zwangsarbeitern nach Deutschland verschleppen. Für viele Männer, Frauen und sogar Kinder, die die die systematischen Menschenjagden, veranstaltet u. a. von Beamten deutscher Arbeitsämter, überleben, bedeutet der Arbeitseinsatz jedoch keinesfalls, dass sich ihre Situation entscheidend verbessert. Die als Ostarbeiter stigmatisierten Menschen leben unter den Deutschen vielmehr wie Parias, erhalten kaum Nahrung und sterben auch weiterhin in großer Zahl an Misshandlungen, Hunger und Krankheiten und werden bei der geringsten Widersetzlichkeit an Ort und Stelle oder in Konzentrationslagern hingerichtet. Besonders schlimm ist z. B. die Situation der sowjetischen Kriegsgefangenen in den Kohlengruben des Ruhrgebietes, in denen Krupp und andere Unternehmer die Arbeitskräfte der Zwangsarbeiter bis zum Tod durch völlige Erschöpfung skrupellos auspressen. Das Leben eines „Russen“, wie man die vor sich hin taumelnden Skelette abfällig nennt, ist keines Aufhebens wert. So beteiligt sich nicht nur die Front, sondern auch die Heimat am Vernichtungskrieg.
Mit dem Vormarsch der Roten Armee und der sich abzeichnenden Niederlage des „Dritten Reiches“, das jetzt an allen Fronten harte militärische Abwehrkämpfe führt, sind nicht etwa die Massenmorde an den Zivilisten rückläufig, sondern sie steigern sich erneut. Die Politik der verbrannten Erde hinterlässt kein lebendiges Wesen mehr. Die Menschen werden vor den sich zurückziehenden Truppen her getrieben und, wenn sie den Rückzug behindern, ohne große Umstände getötet. Das unermessliche Ausmaß der Rückzugsverbrechen liegt weitgehend immer noch im Dunkeln. Die Sicherheitspolizei richtet eigene Sonderkommandos ein, um die über alle vorhandenen Massengräber auszuheben und die Leichen zu verbrennen.
Auch in Deutschland steigert sich die Politik der allgemeinen Lebensvernichtung immer mehr, je näher die Fronten rücken. Selbst wenn der Geschützdonner der alliierten Armeen schon zu hören ist, werden die Opfer zusammen getrieben und auf die unterschiedlichste Art und Weise grausam ermordet, so z. B. in Zuchthäusern und in den verschiedensten Lagern. Dabei fällt auf, dass neben den Juden vor allem die sogenannten Ostarbeiter als erste selektiert und getötet werden.

Es hat in Deutschland sehr lange gedauert, bis die schrecklichen Dimensionen des Vernichtungskrieges in der SU zumindest in groben Zügen anerkannt wurden. Eine Strafverfolgung fand wenn überhaupt dann ab dem Ende der fünfziger Jahre nur gegen SS- und Polizeieinheiten statt. Schon im Nürnberger Prozess hatte die Wehrmachtsführung alle Schuld auf Hitler, Himmler und seine SS-Einheiten geschoben. Trotz zahlloser Wehrmachtsverbrechen kam es vor deutschen Gerichten nur in ganz wenigen Ausnahmefällen zur Anklageerhebung gegen Offiziere und Soldaten. Die Lüge von der „sauberen Wehrmacht“ ermöglichte es vielmehr, dass jemand wie Adolf Heusinger, der für die Koordination des Anti-Partisanen-Kampfes zuständig gewesen war, zum ersten Generalinspekteur der Bundeswehr ernannt wurde. Zahlreiche Kasernen trugen noch in den achtziger und neunziger Jahren die Namen von ranghohen Wehrmachtsoffizieren, wie z. B. die in Füssen nach Generaloberst Eduard Dietl benannte Unterkunft der Bundeswehrsoldaten. Der von Hitler sehr geschätzte Wehrmachtsoffizier hatte sich aktiv an den Massenmorden im Rahmen des Kommissarbefehls beteiligt. Erst 1995 wurde die Kaserne gegen den heftigen Widerstand der Traditionsverbände umbenannt. Über viele Jahrzehnte wurden die geplanten und mit großer Grausamkeit begangenen Massenmorde und Verbrechen des Vernichtungskrieges gegen die SU entweder verharmlost oder relativiert, indem man auf die Übergriffe und Verbrechen von Soldaten der Roten Armee bei der Besetzung Deutschlands hinweist.
Zwar hat sich seit der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mitte der neunziger Jahre die Beurteilung des Vernichtungskrieges gegen die SU und insbesondere die Einschätzung der Rolle der Wehrmacht geändert, aber nach wie vor liegen die im Rahmen des Barbarossa-Feldzuges begangenen, heute hier nur in Ansätzen zu beschreibenden Verbrechen im Erinnerungsschatten, wie Bundespräsident Joachim Gauck im vorigen Jahr zurecht gesagt hat. Immer noch begegnet man nicht selten einer irritierenden Reserviertheit bei nicht wenigen Deutschen, wenn nicht sogar einer von starken Vorurteilen gegenüber Rußland geprägten Ablehnung, obwohl sich diese nur noch bei ganz wenigen Menschen mit eigenen möglicherweise schlimmem Erfahrungen begründen läßt. Daher ist es an der Zeit, nein es ist lange überfällig, dass endlich hier im Zentrum Berlins ein Gedenkort und ein Erinnerungszeichnen für die Millionen Opfer der geplanten Lebensvernichtung im Osten errichtet werden.
Hinweis auf Beschluss des Arbeitskreises I der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten auch deshalb den Schwerpunkt der Veranstaltungen in diesem Jahr auf die Erinnerung an die Millionen Opfer des Vernichtungskrieges gegen die SU zu legen. Bis Dezember werden mindestens 15 Veranstaltungen in den Berlin.-Brandenburgischen Gedenkstätten dazu stattfinden, Lesungen, Zeitzeugengespräche, Ausstellungen, Filmvorführungen und Gedenkveranstaltungen. Damit wollen die NS-Gedenkstätten die besondere Bedeutung dieses 75. Jahrestages würdigen.

Dank an:
– Kulturstaatsministerin für Finanzierung der Ausstellung
– An das Bezirksamt Mitte für die Erlaubnis die Ausstellung am Potsdamer Platz zu zeigen,
– An Frau Dagmar von Wilcken für die Gestaltung
– An Frau Breithoff, der Koordinatorin der Ausstellung

Roger Bordage, Président du Comitee international des Sachsenhausen, est décédé, 10.08.2017 Paris, Cimitière Père Lachaise

Chère Beatrice Bordage, chère famille, chèrs amis de Roger Bordage,

Le mémorial de Sachsenhausen et la fondation des memoriaux Brandenbourgoise pleurent notre président et notre ami Roger Bordage.

Roger Bordage était un ami exceptionnel qui avait accompagné de près le développement du Mémorial depuis les années 90. En sa qualité d’ancien fonctionnaire international de l’UNESCO il a, comme aucun autre, soutenu en particulier la signification internationale du Mémorial de Sachsenhausen et la culture allemande du souvenir en général. C’est principalement à son initiative que le Parlement européen a adopté en janvier 1993 une résolution qui fut novatrice pour les mémoriaux des camps de concentration en Allemagne. Il s’agissait, selon ce texte, de conserver les lieux authentiques et de se prémunir des confusions des diverses phases historiques. En tant que membre du Comité international de la Fondation Roger Bordage aidait toujours et par tous les moyens le Mémorial de Sachsenhausen. Pour ses mérites il fut promu Commandeur de la Légion d’honneur en 2014 et distingué également par la médaille du mérite du Land de Brandebourg.

À la fin de sa carrière professionnelle le survivant des camps s’engagea davantage dans l’Amicale française. Son expérience internationale, sa maitrise parfaite de l’espagnol et de l’anglais et ses connaissances politiques étaient d’un grand secours pour ses deux prédécesseurs à la présidence du Comité international Charles Désirat et Pierre Gouffault. Quand son vieil ami Pierre Gouffault mourut Roger Bordage fut élu Président du Comité international de Sachsenhausen par les différents présidents des comités nationaux de Sachsenhausen. Cette année encore, en avril, il a présidé avec brio la séance annuelle du Comité et animé entre autres la discussion avec la nouvelle secrétaire d’État du ministère de la Culture Dr. Gutheil. Ses excellents contacts avec les ambassadeurs étrangers à Berlin, et particulièrement avec les ambassadeurs de France, ont permis de mettre davantage en valeur aussi la signification du souvenir des crimes nazis. Au cours de l’été 2016 il accompagna, en fauteuil roulant, les ambassadeurs de France et d’Espagne lors d’une visite du Mémorial de Sachsenhausen malgré des températures de plus de 40 degrés. Bien que déjà marqué par sa grave maladie Roger Bordage est venu le 5 mai de cette année à la dernière réunion du Comité international. Il s’engagea surtout pour l’agrandissement du Mémorial de Lieberose et pour ces camarades juives.

Roger Bordage était un Européen convaincu qui s’inquiétait de la montée des mouvements nationalistes et de `droite´ non seulement en France. Cela ne le fit pourtant pas dévier de son fort optimisme historique et de sa grande confiance en la démocratie. Son conseil inspirait les autres présidents des associations internationales. Et pour moi Roger Bordage n’était pas qu’un précieux conseiller et interlocuteur mais également un ami auquel je pense avec chaleur et une immense gratitude. La Fondation des Mémoriaux du Brandebourg et le Mémorial de Sachsenhausen pleurent Roger Bordage, un grand ami, un ami sympathique, un interlocuteur qui inspirait, un soutien cosmopolite, généreux et doué d’une expérience internationale, un combattant fortement déterminé des mémoriaux et un conseiller fin politique, qu’elles ne pourront pas remercier suffisamment. Le Mémorial de Sachsenhausen continuera toujours d’honorer sa mémoire.

Permettez moi de parler à ma fin les derniere mots que je pouvai encore lui dire sur son lit de mort : we had togehter a strong fight to beware the memory of the victims of Sachsenhausen, but we succeeded at last. We both had a lot of interesting discussions since more than twenty years and I think we agree totaly in the future of the memorial. But also we laughed a lot togehter. I will say thank you very much for your friendship, for your support, for your inspiration, for your advice. It was for the memorial and for me a great luck, that you, our president was on our side to each time. We all love you !

Günter Morsch, 10. August 2017

Laudatio Reinhard Strecker 28. September 2017 im Auswärtigen Amt

Veranstaltung aus Anlass des 75. Jahrestages des „Generalplans Ost“ im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland am 28. September 2017
Laudatio zu Ehren von Herrn Reinhard Strecker
Günter Morsch
Sehr geehrter Herr Staatsminister Roth,
sehr geehrter, lieber Herr Strecker,
sehr geehrte Frau Strecker,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen und vor allem auch liebe Angehörige, Freundinnen und Freunde von Reinhard Strecker,
[Dank an AA]
Die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen sowie die Stiftung Topographie des Terrors haben gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland die heutige Veranstaltung aus Anlass des 75. Jahrestages des „Generalplan Ost“ organisiert und ausgerichtet. Ich danke zunächst Dr. Peter Jahn ganz herzlich für seinen wissenschaftlichen Vortrag, in dem er die Entstehung und Bedeutung dieses wichtigen und in der breiten Öffentlichkeit leider noch immer viel zu wenig bekannten „Drehbuchs des Vernichtungskrieges“ herausgearbeitet hat. Mit der heutigen Veranstaltung wollen wir aber auch Reinhard Strecker für seine zahlreichen Verdienste um die Erinnerungskultur in Deutschland und in Europa ehren. Die Idee, beide Anlässe miteinander zu verbinden, verdanken wir Matthias Burchard. Der an der Berliner Humboldtuniversität ausgebildete Diplomlandwirt hat mit seinem von ihm gegründeten „Verein zur Völkerverständigung mit Mittel-, Süd- und Osteuropa“ viel dazu beigetragen hat, dass dieser gigantische, von namhaften Wissenschaftlern ausgedachte und ausgearbeitete Genozid nicht in Vergessenheit gerät. Leider kann Herr Burchard aufgrund einer schweren Erkrankung heute nicht bei uns sein.
Wer jedoch das vielfältige Lebenswerk von Reinhard Stecker kennt, dem wird die Verbindung beider Anlässe sofort einleuchten. Denn im Wissen um die zahllosen Verbrechen des NS-Regimes an den aus rassistischen Gründen für minderwertig erachteten Slawen baute Strecker schon spätestens seit dem Ende der fünfziger Jahren zahlreiche Brücken der Verständigung und der menschlichen Beziehungen vor allem in Polen und in der Tschecheslowakei auf. So war es ihm auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gelungen, als Westdeutscher und West-Berliner über die Militärmission der Volksrepublik Polen in Deutschland Kontakt zu Professor Jerzy Sawicki aufzunehmen. Der damalige Generalstaatsanwalt und Chefankläger für alle polnischen NS-Verfahren leitete zugleich die Hauptkommission zur Ermittlung von NS-Verbrechen. Diese sammelte zehntausende von Dokumenten und anderen Unterlagen, die den seit dem 1. September 1939 geführten Vernichtungskrieg Deutschlands gegen das östliche Nachbarland dokumentieren. Hier und auch in anderen mittel- und osteuropäischen Archiven fand der hartnäckige und akribische Forscher viele der Beweise und Belege für die Verbrechen des NS-Regimes, die ihm die bundesdeutschen Archive und Institutionen über lange Jahre beharrlich verweigerten.
Weitere Verdienste um die Beziehungen zu den Staaten hinter dem Eisernen Vorhang erwarb sich Strecker als Mitinitiator der bis heute tätigen deutsch-polnischen Schulbuchkommission. Aus Vorträgen, die Strecker an der Evangelischen Akademie hielt, entstand ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Polen – ein Schauermärchen oder Gehirnwäsche für Generationen“. Darin wiesen die Autoren nach, dass in deutschen Schulbüchern nach wie vor das durch die rechtsradikale Propaganda von Vertriebenenverbänden bestimmte, verzerrte Polen-Bild des „Dritten Reiches“ weiter unter den Kindern und Jugendlichen verbreitet wurde. Zahlreiche Kontakte unterhalb der Regierungsebene zu polnischen Kollegen und Freunden ergaben sich daraus. Auch ein Einreiseverbot nach Polen, das in der Stimmung der damaligen Jahre gegen den vermeintlichen „zionistischen Agenten“ erlassen worden war, hielt den Mitbegründer der im Sozialistischen Studentenbund (SDS) 1959 an der Freien Universität Berlin entstandenen Deutsch-israelischen Studiengruppe nicht davon ab, dieser Kommission über viele Jahr treu zu bleiben und seine Arbeit der Völkerverständigung fortzusetzen.
In der Absicht, das für manche von Ihnen nicht sich selbst erklärende Konzept unserer Veranstaltung zu begründen, bin ich natürlich sowohl in der Biographie von Reinhard Strecker als auch, was die Entwicklung seiner vielfältigen Initiativen und Aktionen anbetrifft, zumindest chronologisch etwas vorausgeeilt. Doch obwohl es im Rahmen meiner Laudatio weder möglich noch sinnvoll ist, einen auch nur annäherungsweise vollständigen Überblick zu geben, will ich einige Stationen seines Lebensweges skizzieren: Der 1930 geborene Berliner stammt aus einer Juristenfamilie, was sicherlich zum Teil sein persönliches Interesse am Verhalten und der Einstellung der Richter und Staatsanwälte im „Dritten Reich“ erklärt. Darüber hinaus gehörte sein Vater zur Bekennenden Kirche und lehnte die Nationalsozialisten ab. Trotzdem trat Reinhard Strecker nicht in die Fußstapfen seines Großvaters und Vaters, sondern verließ schon bald nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und einer aufgrund der materiellen Entbehrungen schwierigen Übergangszeit Deutschland, um im Ausland, zuerst in Italien und danach in Frankreich, in Distanz zu dem nach wie vor im Schatten nationalsozialistischer Vergangenheit wieder aufgebauten Deutschland frei zu leben. „Es war eine sehr gute Zeit“, wie Reinhard Strecker in einem Interview sein Leben in Paris schilderte, „Die deutsche Angst war weg“ – die Furcht vor der nie vorhersehbaren Willkür.
Doch schon 1954 kehrte der damals 24 Jahre alte, nicht zuletzt vom französischen savoire vivre beeindruckte und überzeugte Europäer auf Wunsch seiner Eltern in ein Deutschland zurück, wo inzwischen unter Bundeskanzler Adenauer die alten Eliten immer unbefangener an die Schalthebel der Macht, in der Wirtschaft, im Staat und in der Gesellschaft, zurück gerufen wurden. Von Niedersachsen führte ihn sein Weg schon bald in seine Geburtsstadt, wo er an der gerade erst gegründeten Freien Universität das Studium der Judaistik begann. Inwieweit bei der Wahl des Studienfachs auch die Geschichte seiner Familie eine Rolle spielte, in der es auch berühmte jüdische Vorfahren gegeben hatte, darüber kann nur er selbst Auskunft geben. Jedenfalls war sich Strecker viel stärker als das bei der Mehrzahl seiner damaligen Kommilitonen der Fall war, der ungeheuren Dimensionen und der Singularität der Schoah, des Holocaust, des Völkermords an den Juden unter den zahlreichen Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten bewusst. Bis heute empfindet er deshalb mit Israel eine tiefe Verbundenheit. Das ist dann auch die Zeit, in der der junge Student begann, umfangreiches Material gegen bekannte NS-Verbrecher, die wieder in ihre alten Positionen und Stellungen eingerückt waren, zu suchen, auf eigene Kosten zu kopieren und zusammen zu tragen. Das führte zu einer hohen Verschuldung von Strecker, die er über Jahrzehnte zurückzahlen musste.
Im Jahr 1959 bündeln sich schließlich unterschiedliche von ihm initiierte, organisierte oder mit getragene Initiativen, die alle die Skandalisierung dieser unheilvollen personellen und strukturellen Kontinuitäten in der Bundesrepublik zum Ziel hatten. In zwei auf Initiative u. a. von Reinhard Strecker vom Konvent der FU Berlin beantragten Petitionen an den deutschen Bundestag verlangten mehr als 10.000 Studentinnen und Studenten die Überprüfung von NS-belasteten Juristen und Medizinern. In Frankfurt veranstaltete der SDS im Mai des Jahres einen Kongress „Für Demokratie – gegen Militarismus und Restauration“. Erstmals konnte er dort einen Teil seines von ihm und weiteren ca. 30 Studenten gesammelten Aktenmaterials ausbreiten. Schließlich gelang es ihm, die in jahrelanger intensiver und kostspieliger Vorarbeit zusammengetragenen und aufbereiteten in über 100 Heftern akribisch verzeichneten Personendokumente , die die Justizverbrechen zahlreicher ehemaliger NS-Richter, – Staatsanwälte und Justizbeamten zweifelsfrei bewiesen, in einer im November des Jahres eröffneten Ausstellung zu präsentieren. Die Stadt, in der die später an vielen in- und ausländischen Standorten gezeigte und bis heute bekannte Ausstellung mit dem Titel „ungesühnte Nazijustiz und NS-Medizin“ erstmals präsentiert wurde, war gezielt ausgewählt worden. In Karlsruhe befanden sich die beiden höchsten bundesdeutschen Gerichte, das Bundesverfassungsgericht sowie der Bundesgerichtshof. Allerdings musste die Ausstellung schon bald auf den Protest von Bonner Politikern hin von der Stadthalle in ein kleines Lokal mit dem Namen „Krokodil“, einem Treffpunkt Karlsruher Journalisten, verlegt werden, wo sie nur zeitweise gezeigt werden konnte. Zum großen Erfolg der Ausstellung trug sicherlich auch bei, dass nach der Eröffnung in der Stadthalle eine große, mehrere Stunden dauernde Pressekonferenz stattfand, an der auch Journalisten überregionaler Medien in großer Zahl teilnahmen. Mehrere, überwiegend positive Rezensionen der Ausstellung erschienen daraufhin bundesweit. Positiv sieht Strecker heute noch die Rolle, die seinerzeit Generalbundesanwalt Max Güde dabei einnahm. Güde, der 1933 gegen die Verhaftung und Ermordung eines sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten intern protestiert hatte, empfing den SDS-Aktivisten in seinen Karlsruher Amtsräumen und äußerte sich kritisch über die Durchsetzung der bundesdeutschen Justiz mit belasteten NS-Verbrechern.
Dass die von Strecker, dem SDS und anderen bewusst inszenierten Skandale zündeten und zu heftigen Gegenreaktionen bis hin zu persönlichen Angriffen führten, kann man nur verstehen auf dem Hintergrund der sich Ende der fünfziger Jahre immer deutlicher zeigenden Risse im Verschweigekartell des Adenauer-Staates. Denn im Rahmen des immer heftiger und schärfer tobenden Kalten Krieges entfachte die DDR eine Kampagne gegen die aus ihrer Sicht faschistoide Bundesrepublik, um die eigene Bevölkerung von der Massenflucht aus der kommunistischen Diktatur abzuhalten. Unter dem Druck der größtenteils unwiderlegbaren Dokumente über die Verstrickungen bundesdeutscher Eliten in die Verbrechen des „Dritten Reiches“, die auch von den westlichen Bündnispartnern in der NATO aufgegriffen wurden, begann die bundesdeutsche Justiz langsam wieder damit, Strafverfahren gegen NS-Täter vorzubereiten.
Der erste größere Prozess gegen SS-Mörder aus dem KZ Sachsenhausen fand 1958 in Bonn statt und erregte vergleichsweise große Aufmerksamkeit in den Medien und der Öffentlichkeit. Der etwa zur gleichen Zeit durchgeführte Ulmer Einsatzgruppenprozess gab schließlich den Anstoß zur Bildung der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Während einflussreiche Regierungspolitiker und Juristen eiligst an neuen Gesetzen zur Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen in den Hinterzimmern der Parlamente und Behörden arbeiteten, protestierten Neonazis auf ihre Weise gegen die ganz langsam sich entwickelnde „Wiederentdeckung“ der nazistischen Vergangenheit. Es kam zu hunderten von Anschlägen und Propagandadelikten, darunter auch auf die neu errichteten Synagogen in Köln, in Bonn und auch in Wien.
In dieser von heftigen politischen Debatten und Hasskampagnen geschaffenen, von Angst vor der Aufklärung und berechtigter Sorge vor einer Restauration nazistischer Gewalt geprägten, nervösen und konfrontativen Stimmung erreichte die Ausstellung „ungesühnte Nazijustiz“ eine in Medien und Öffentlichkeit bis dahin kaum zu erwartende Aufmerksamkeit. Strecker und seine Mitstreiter ließen dem unerwarteten Erfolg der Ausstellung im In- und Ausland schon bald Strafanzeigen gegen namentlich bekannte Nazijuristen folgen. In einer weiteren Publikation legte er Dokumente über den zur Symbolfigur personeller Kontinuität zwischen NS-Diktatur und Bundesrepublik stilisierten Chef des Kanzleramtes und Verfasser des maßgeblichen Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 Hans Globke vor. Die heftigen Gegenreaktionen aus Politik und Gesellschaft waren allerdings so stark, dass Strecker seine Kinder in das benachbarte Ausland bringen musste, um sie vor angedrohten Angriffen zu schützen.
Mit dem im bundesdeutschen Fernsehen teilweise übertragenen Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und dem von Fritz Bauer initiierten Auschwitz-Prozess begann sich die auf Abwehr, Unschuld und Verschweigen orientierte dominante Stimmung und Einstellung in einem kleinen Teil der Bevölkerung, vornehmlich in der jüngeren Generation, zu ändern. Zugleich wehrte sich nach wie vor die große Mehrheit des, wie es damals hieß, „Establishments“ gegen jegliche Formen der Aufarbeitung und Darstellung der nationalsozialistischen Verbrechen. In dieser gesellschaftlichen und kulturellen Krise der Vergangenheitspolitik der sechziger Jahre war es die sogenannte Studentenrevolte von 1968 die die Waagschale allmählich zugunsten der kritischen Aufarbeitung hinsinken ließ.
Reinhard Strecker hat jedoch die in dieser Zeit sich im akademischen Milieu ausbreitende vorwiegend marxistische Gesellschaftskritik, die, einem Diktum von Max Horkheimer folgend, über den Faschismus nur im Zusammenhang mit der Analyse kapitalistischer Strukturen reden wollte, zurecht nicht als Fortsetzung seiner eigenen Aufklärungsarbeit verstanden. „Mir ist allerdings zunächst wichtig zu betonen“, so führte er in einem Interview aus, „dass ich mit ‚1968‘ nichts zu tun habe, sondern mich eher als ‚58er‘ bezeichnen möchte. Vor allem habe ich den 68ern immer diese Banalisierung der NS-Vergangenheit übel genommen, die Gleichsetzung der Zustände vor ‚45 und nach ‚45.“ Tatsächlich standen im Vordergrund der Thematisierung des deutschen Faschismus durch die studentische und akademische Linke, wie der Nationalsozialismus damals bezeichnenderweise hieß, weniger die Opfer der Massenverbrechen als die vermeintlich entdeckten strukturellen Kontinuitäten. Die Verharmlosung des NS-Regimes erreichte ihren stärksten Ausdruck mit der Gleichsetzung des Vietnam-Krieges und der nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzüge. Trotzdem animierten die heute kaum noch verständlichen, reichlich abgehobenen akademischen Debatten z. B. über das Primat der Politik oder das Primat der Ökonomie im „Dritten Reich“ zweifellos auch eine wachsende Minderheit von jungen Menschen nicht nur in den Universitäten, sondern auch in Schulen und in Betrieben sowie vor allem auch in den Familien dazu, nach den nationalsozialistischen Wurzeln in ihrem Lebensalltag zu graben und zu forschen.
Gerade in dieser von Strecker selbst scharf formulierten Abgrenzung zwischen den 58igern und den 68igern werden Hauptmotive seiner auch in den darauf folgenden Jahrzehnten unermüdlichen Aufklärungsarbeit deutlich: ihm geht es vor allem um die Opfer des NS-Regimes, die über lange Jahre keine Gerechtigkeit erfahren haben, wohingegen die Täter fast ausnahmslos weder Reue empfanden noch für ihre Taten bestraft wurden. Tief gehende Empathie mit den Opfern und andauernde Empörung über den Skandal des Verschweigens und des Verharmlosens das – so scheint es mir – sind bis heute wichtige Motive seines Handelns und seiner Überzeugungen. Dafür ist es bezeichnend, dass er über viele Jahre als Referent des Goethe-Instituts die ausländischen Journalisten und Multiplikatoren immer wieder an die historischen Orte der NS-Verbrechen, so auch in die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen, führte. Er hat sich in dieser Zeit andauernder und intensiver Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen ein enzyklopädisches Wissen angeeignet, das immer wieder Staunen auslöst. Referenten, die wie ich häufig auf Veranstaltungen vortragen, kennen ihn als engagierten Diskussionsteilnehmer, dessen fundierte Beiträge – Fragen sind es weniger – immer auch die Sorge aufkommen lassen, bei Wissenslücken ertappt zu werden. Schließlich ist er auch ein unersetzbarer Zeitzeuge, der die Geschichtsschreibung über die Entwicklung der Vergangenheitspolitik und der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik und in der DDR mit seinem großen, m. E. nach wie vor unausgeschöpften Erfahrungsschatz nicht nur bereichert, sondern auf hohem Niveau reflektiert und kommentiert.

Die meisten von Ihnen, sehr geehrte Gäste, kennen inzwischen die etwas peinliche Situation, wenn Ausländer die heutige Erinnerungskultur in Deutschland loben und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätten ihre große Anerkennung aussprechen. Gelegentlich kann man inzwischen bereits von einer Art Aufarbeitungsstolz sprechen, der sich in bestimmten Kreisen vor allem der Regierungspolitik äußert. Dabei wird häufig vergessen, wie hart, mühselig, frustrierend, aufreibend und langwierig, der von vielen Skandalen und Rückschlägen geprägte Kampf um die Erinnerung über mehr als fünf Jahrzehnte in der Bundesrepublik war. Nicht wenige Engagierte sind wahrscheinlich daran zerbrochen oder haben große private Opfer gebracht. Letzteres gilt gerade auch für Reinhard Strecker. Besondere Bitternis bereiten daher dann neuere wissenschaftliche Studien, in denen behauptet wird, die wenigen Pioniere der Aufarbeitung der NS-Verbrechen hätten sich nicht ernsthaft mit den Tätern auseinandergesetzt, sondern lediglich die bequeme Identifikation mit den Opfern angestrebt. Dieser lange und harte Kampf um die Erinnerung droht über dem Lob vergessen zu werden. Man vergegenwärtige sich nur, dass die von Strecker schon Ende der fünfziger Jahre erhobene Forderung nach einer Überprüfung der personellen Kontinuitäten zwischen NS-Regime und Bundesrepublik erst mehr als fünfzig Jahre später erfolgt. Die inzwischen von nahezu allen Ministerien und staatlichen Einrichtungen in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Forschungen zur Frühgeschichte ihrer Einrichtungen in der Bundesrepublik, wohl erstmals auf Anregung des damaligen Außenministers Fischer für das Auswärtige Amt entstanden, kommen bezeichnenderweise zu einer Zeit, in der kaum noch Täter leben konnten.
In der Geschichtswissenschaft und in der Publizistik macht sich darüber hinaus eine Wiederbelebung der alten „Volksgemeinschaftsthese“ breit, deren Grundzüge nach 1945 die Hauptargumente für die Restauration der alten Eliten lieferten. Man habe, so argumentierten in den fünfziger und sechziger Jahren viele bundesdeutschen Politiker fast aller Parteien, keine andere Wahl, als die alten Nazis wieder einzustellen und ihre Karrieren weiter zu fördern. Da mehr oder weniger alle ehemalige Volksgenossen zur Mitarbeit in der NS-Diktatur gezwungen waren oder sich dazu bereit erklärte hatten, gäbe es, so wurde argumentiert, keine Alternativen, wolle man nicht die Funktionstüchtigkeit von Verwaltung, Wirtschaft und Justiz gefährden. Die aggressive Bedrohung der Bundesrepublik durch die kommunistischen Diktaturen jenseits des Eisernen Vorhangs ließ, so wurde auch gesagt, darüber hinaus keine andere Wahl zu. Als 1983 Herrmann Lübbe im Reichstag ausgerechnet auf einer Veranstaltung zum 50. Jahrestag der Machtübernahme, diese apologetischen Thesen der Vergangenheitspolitik in der Bundesrepublik erstmals wieder belebte, war der Protest unter den anwesenden Historikern noch sehr groß. Inzwischen jedoch scheint sich diese Behauptung, die den Umgang der Bundesrepublik mit den NS-Verbrechern als alternativlos hinstellt, zu einem von vielen Publizisten und Verfassern dickleibiger Werke über die Geschichte Deutschlands nach 1945 als einheitliche kanonische Sichtweise heraus gebildet zu haben. Aber trifft das wirklich zu? Musste z. B. das Bundeskriminalamt mit ehemaligen Gestapoleuten und Kommandeuren von SD-Einsatzgruppen aufgebaut werden? Mussten tatsächlich verantwortliche Massenmörder in den Bundesnachrichtendienst eingestellt werden. Gab es keine andere Möglichkeit, als die vieltausendfachen Krankenmörder der Euthanasieaktion zu Oberärzten und Leiter psychiatrischer Kliniken zu ernennen? War es unumgänglich, dass Richter und Staatsanwälte der NS-Justiz, die nahezu 30.000 Todesurteile gefällt hatten, als Land- oder Amtsgerichtsdirektoren ihre Karrieren fortsetzen konnten? Wenn tatsächlich der Aufbau der Bundesrepublik, von Demokratie und Rechtsstaat, ohne die Integration von Nationalsozialisten nicht möglich war, wird dann nicht der unter großen persönlich Opfern geführte Kampf von Reinhard Strecker und anderen um die Aufdeckung personeller Kontinuitäten zum Kampf gegen Windmühlen abgewertet? Dieser, wie mir scheint, neuen Art von akademischer Kollektivschuldthese, hinter der sich schon die Täter versteckten, gilt es m. E. nach wie vor den Satz des ehemaligen Buchenwald-Häftlings Eugen Kogon entgegen zu halten: „Wer alle unterschiedslos auf die Anklagebank setzt, setzt niemand auf die Anklagebank“. Das Maß an Verantwortung für staatliche Verbrechen leitet sich eben vor allem auch aus Funktion und Hierarchie ab. Nach diesem funktionalen Prinzip verfuhren auch die Alliierten in den Nürnberger Prozessen, wohingegen die bundesdeutsche Justiz die nur schwer feststellbare subjektive Einstellung zur Tat zum entscheidenden Kriterium der Schuldzumessung erhob.
Auf die inzwischen teilweise so hoch gelobte Erinnerungskultur in der Bundesrepublik kommt deshalb nach meiner Meinung wahrscheinlich jetzt eine entscheidende Bewährungsprobe zu. Dabei denke ich nicht nur an den Einzug von Demagogen in den Bundestag, die die soldatischen Leistungen der Wehrmacht gelobt haben wollen und den angeblichen deutschen Schuldkult bekämpfen. Ich bin mir darüber hinaus nicht sicher, welche Auswirkungen das Ende der Zeitzeugenschaft haben wird, waren es doch zu allererst die Opfer selbst die über viele Jahre allein das Gedenken an ihre ermordeten Kameradinnen und Kameraden wach hielten. Ebenso können der von Teilen des Auslandes bestärkte Aufarbeitungsstolz oder das wieder aus der Versenkung heraus geholte Rot = Braun-Theorem, mit dem Relativierung und Entkontextualisierung einher gehen, das Abgleiten der erkämpften Erinnerungskultur in einen leblosen ritualisierten Kanon von Strategien und Lehrsätzen staatlicher Politik bewirken. Bei allen Unterschieden zur rigiden Aufarbeitungsverweigerung der ersten Jahrzehnte in der Geschichte der Bundesrepublik, gibt es manche déja-vue- Erfahrungen ebenso wie völlig neue Herausforderungen Sie werden Deutschland in den nächsten Jahren auf die Probe stellen, wie ernst die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Diktatur auch in der Zukunft genommen wird.
Reinhard Strecker kann uns bei der Bewältigung dieser alten und neuen Herausforderungen in der Erinnerungspolitik ein Vorbild sein. Sie, lieber Herr Strecker, haben durch Ihre Zivilcourage, durch Ihre Beharrlichkeit, durch Ihre Empathie mit den Opfern, durch Ihren anhaltenden Zorn über die ungehinderten Karrieren der NS-Täter, durch Ihr enzyklopädisches Wissen und mit Ihren Mut gegen Mehrheitsmeinungen, gegen Schmutzkampagnen und Verleumdungen Ihren eingeschlagenen Weg beharrlich und über viele Jahre zu gehen, einen ganz wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass der viele Jahrzehnte dauernde Kampf um die Erinnerung in Deutschland schließlich in vielerlei Hinsicht erfolgreich war. Dafür sind wir alle Ihnen zu großem Dank verpflichtet.

Dank und Literaturhinweis

Ganz herzlich danke ich allen, die mir zu meinem 65. Geburtstag in Briefen, mit Karten, durch ihr persönliches Erscheinen und in Telefongesprächen gratuliert haben.

Ganz besonders habe ich mich über die Publikation „Vom Monument zur Erinnerung. 25 Jahre Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in 25 Objekten“ gefreut,  die zu meinem Geburtstag erschienen ist. Ich danke allen 27 Autoren für ihre interessanten und überaus lesenswerten Beiträge ebenso wie Ministerpräsident Dr. Dietmar Woidke und dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller für ihre Grußworte. Das Konzept der Publikation, die Geschichte zwischen 1939 und 2017 in Objekten zu erzählen, ist ebenso innovativ wie spannend. Ines Reich, die Leiterin unserer Gedenk- und Begegnungsstätte in der Leistikowstraße in Potsdam, von der das Konzept stammt, hat sich mit der ihr typischen Energie und Begeistungsfähigkeit der Mühe der Sammlung und der Herausgeberschaft der verschiedenen Beiträge unterzogen. Sie hat dazu auch eine sehr nachdenkenswerte Einleitung geschrieben. Dafür bin ich der ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Gedenkstätte Sachsenhausen, mit der zusammen ich u. a. das Museum zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers errichten und mit einer Dauerausstellung einrichten durfte, sehr dankbar. Der Förderverein der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen hat die Publikation finanziert und sein Vorsitzender Professor Dr. Jürgen Kocka ein Vorwort beigesteuert. Allen Mitgliedern unseres Fördervereins, der seit seiner Gründung ein wichtiger Unterstützer und kluger Ratgeber der Gedenkstätte ist, danke ich ebenso ganz herzlich. Die Publikation ist unter der ISBN-Nummer 978-3-86331-357-9 im Jahre 2017 in Berlin im „Hausverlag“ der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten bei Metropol erschienen. Dessen Verleger Friedrich Veitl und seine Mitarbeiterin Nicole Warmbold unterstützen die Gedenkstätte Sachsenhausen seit vielen Jahren tatkräftig und großzügig.

Die Publikation kann entweder über den Buchhandel oder aber im Buchladen der Gedenkstätte erworben werden. Seinen Mitgliedern bietet der Förderverein der Gedenkstätte die Festschrift zu einem Vorzugspreis an. Ggf. wenden Sie sich bitte direkt an den Förderverein der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen, Alle Adressen und Telefonnummern finden Sie im Internet

72. Jahrestag der Verlegung des sowjetischen Speziallager Nr. 7 nach Sachsenhausen

  1. Jahrestag der Errichtung des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 in Sachsenhausen

 

Begrüßung

 

Prof. Dr. Günter Morsch

 

 

Sehr geehrte Überlebende der sowjetischen Lager,

sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Gutheil,

Sehr geehrter Herr Krüger,

sehr geehrter Herr Ruczinski

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

 

 

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen begrüße ich Sie ganz herzlich zu unserer heutigen Gedenkveranstaltung aus Anlass des 72. Jahrestages der Errichtung des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 in Sachsenhausen. Wir freuen uns sehr, dass Sie erschienen sind, um gemeinsam mit uns an die Qualen und Leiden von etwa 60.000 Häftlingen zu erinnern, die zwischen 1945 und 1950 in den Baracken des Lagers von der sowjetischen Geheimpolizei eingesperrt worden waren. Ganz besonders herzlich begrüße ich unter ihnen die  Überlebenden der sowjetischen Speziallager und Gefängnisse, die trotz mancher Beschwernisse und gesundheitlicher Probleme teilweise von weither zum wiederholten Mal in die Gedenkstätte gekommen sind, um vor allem ihrer 12.000 verstorbenen Kameradinnen und Kameraden zu gedenken. Ich begrüße außerdem die Abgeordneten des Brandenburger Landtages, den Bürgermeister von Oranienburg Herrn Laesicke, die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur Frau Poppe,  die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur  Frau Dr. Kaminsky sowie die Vertreter und Mitglieder der verschiedenen Opferverbände der kommunistisch Verfolgten.

 

Am 16. August 1945, also vor etwa 72 Jahren, wies der Kommandant des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 in Weesow bei Werneuchen die verbliebenen etwa 5.000 Häftlinge an, zu Fuß über schmale Brandenburger Landstraßen und durch kleine Dörfer nach Oranienburg zu marschieren. Die seit Mai 1945 in fünf ehemaligen Bauernhöfen zusammen gepferchten Menschen waren schon nach wenigen Wochen ihrer Haft aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen völlig erschöpft und ausgezehrt. Nicht wenige von ihnen waren in den knapp vier Monaten seit seiner Einrichtung im Mai 1945 gestorben. So schleppten sich die Tausenden in lang gezogenen Marschkolonnen seit dem frühen Morgen des 16. August nur mühsam über die Pflasterstraßen in Richtung Oranienburg, das sie am Abend endlich erreichten. Die meisten Häftlinge, die unter den äußerst primitiven und menschenunwürdigen Bedingungen in den halb zerfallenen ehemaligen Bauernhäusern von Weesow gelitten hatten, empfanden die alten KZ- Holzbaracken, in die man sie nach ihrer Ankunft pferchte, zunächst eher als eine Verbesserung ihrer Lage. „Wir hatten nach wenigen Stunden der Anwesenheit in Sachsenhaus das Gefühl“, so schreibt die als BDM-Führerin inhaftierte Margarete Graßmann in ihren Erinnerungen1953, „der Hölle entkommen zu sein.“  Inwieweit ihr allerdings  bewusst war, dass in diesem Lager nur wenige Wochen, Monate und Jahre zuvor mehrere zehntausende KZ-Häftlinge durch die SS im Erschießungsgraben, an der Erschießungslatte, in der Gaskammer oder in den Baracken ermordet und zu Tode gefoltert worden waren, das erfahren wir leider nicht.

 

Doch dem ersten oberflächlichen Eindruck der Verschleppten folgte schnell die große Enttäuschung. Dem sowjetischen Geheimdienst war nämlich weniger an einer Änderung der katastrophalen Lebensbedingungen für die Häftlinge gelegen, sondern hauptsächlich an einer besseren Überwachung ihrer Gefangenen Denn aus dem hastig improvisierten Lager in Weesow waren nicht wenige geflüchtet. Die von den Nazis errichteten und fast bis zur Perfektion ausgebauten Sicherheitsanlagen der Konzentrationslager dagegen hatten auch in den Besatzungszonen der Westalliierten dazu geführt, dass fast alle ehemaligen KZ-‚s als Lager für Internierte und Verurteilte im Zuge der gemeinsam verabredeten Entnazifizierungsmaßnahmen weiter genutzt wurden. Dabei mag bei den Siegern des Zweiten Weltkrieges durchaus auch das von Gefühlen der moralischen Empörung  über die unvergleichlichen Verbrechen des „Dritten Reiches“ bestimmte Kalkül eine Rolle gespielt haben, Deutsche an den Orten des Terrors einzusperren, die sie selbst für ihre Feinde errichtet hatten.  Für die sowjetische Geheimpolizei aber waren solche Lager ohnehin nichts Besonderes und Außergewöhnliches , über deren Berechtigung es sich in ihren Augen nachzudenken lohnte. Viele der in blaue Uniformen gekleideten Soldaten und Offiziere des berüchtigten sowjetischen Geheimdienstes, so auch der Kommandant des sowjetischen Speziallagers Nr. 7, Alexei Kostjuchin, brachten ihre Erfahrungen aus den stalinistischen Lagern des GuLag, in denen Millionen von Menschen ihr Leben verloren hatten, mit in die sowjetisch besetzte Zone. Kalte Gleichgültigkeit gegenüber menschlichen Schicksalen war ein immanenter Bestandteil dieses Terrorsystems genauso wie blinder Gehorsam gegenüber den Befehlen Stalins und seiner Schergen.

 

Als sich in ganz Europa die kriegsbedingte Versorgungs- und Lebensmittelkrise immer mehr zuspitzte und der Hungerwinter 1946/47 viele Tausende von Toten auch unter der normalen Zivilbevölkerung in Deutschland forderte, während zugleich in dem durch die Nationalsozialisten mit ihrer Politik der verbrannten Erde verwüsteten Mittel- und Osteuropa  Millionen verstarben, breitete sich in den sowjetischen Lagern in der SBZ ein schockierendes Massensterben aus. Die stalinistische Bürokratie brauchte ein Vierteljahr, um auf  das schnelle Aussterben der Lager zu reagieren. Doch durch die in ganz kleinen Schritten verfügte Erhöhung der Rationen gelang es nur langsam, die Katastrophe

einzudämmen. Seuchen und Krankheiten, wie Tuberkulose und Ruhr,  grassierten weiter.  Es ist geradezu charakteristisch für die allgemeine Menschenfeindlichkeit der stalinistischen Herrscher, dass sie anders als die westlichen Alliierten ihre Gefangenen angesichts der Unmöglichkeit, sie in Lagern zu ernähren, nicht entließen, sondern ihre Unwilligkeit zynisch hinter neuen bürokratischen Regelungen versteckten. An der Situation der Häftlinge änderte sich daher zunächst nichts Grundlegendes, bis im Frühsommer 1948 die ersten Gefangenen entlassen wurden.  12.000 Häftlinge, vor allem ältere Männer aber auch Frauen sowie Jugendliche und sogar Kinder, das sind zwanzig Prozent aller Gefangenen des sowjetischen Speziallagers in Sachsenhausen, überlebten diese von Stalin und Geheimdienstchef  Berija persönlich und bewusst getroffene verbrecherischen Entscheidungen  nicht. Aber auch diejenigen, die das Massensterben überlebten, litten und leiden bis heute noch unter den Folgeerscheinungen der Haft. Die kommunistischen Machthaber in der Sowjetunion und in der DDR verweigerten darüber hinaus jahrzehntelang den Angehörigen genauere Informationen über das Schicksal ihrer Ehegatten, Väter, Mütter oder Kinder. Erst nach der deutschen Einheit konnten das Deutsche Rote Kreuz und die Gedenkstätte Sachsenhausen ihre Fragen nach Todesdaten und Sterbeursachen beantworten. Selbst heute noch erreichen die Gedenkstätte viele solcher Auskunftsersuchen.

 

Nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen konnten Überlebende und Angehörige endlich auch an die großen Gruben treten, wo die Toten nackt und zumeist ohne jegliches individuelle Kennzeichen hineingeworfen worden waren. Seitdem stehen wir jedes Jahr vor den drei Massengräbern, hier am ehemaligen Kommandantenhof, an der Düne sowie im Schmachtenhagener Forst. Dass wir dies seit vielen Jahren gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft sowjetisches Speziallager Sachsenhausen 1945-1950 tun, dafür bin ich allen Vereinsmitgliedern, insbesondere ihrem Vorsitzenden, Herrn Joachim Krüger, außerordentlich dankbar. Ich wünsche mir sehr, dass diese bewährte Gemeinsamkeiten im Trauern und im Gedenken auch in den nächsten Jahren weiter bestehen bleiben und wachsen.