Rede zur Gedenkveranstaltung an der „Säule der Gefangenen“ in Erinnerung an die Befreiung der Häftlinge des KZ-Außenlagers Lichterfelde, 8. Mai 2018

GEDENKFEIER AN DER „SÄULE DER GEFANGENEN“ IN ERINNERUNG AN DIE BEFREIUNG DER HÄFTLINGE DES KZ-AUSSENLAGERS LICHTERFELDE

 8.    Mai 2018

 

Prof. Dr. Günter Morsch

 

Sehr geehrte Frau, sehr geehrter Herr Pilecki,

Frau Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau,

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Richter-Kotowski,

sehr geehrte Frau Dr. Finckh-Krämer,

sehr geehrte Vertreter ausländischer Staaten,

liebe Petra Rosenberg

sehr geehrte, lieber Schülerinnen und Schüler der Lousie-Schroeder-Schule und des Beethoven-Gymnasiums,

lieber Herr Schleissing-Niggemann,

liebes Ehepaar Leutner,

liebe Mitglieder der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde,

sehr geehrte Gäste,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

ganz herzlich möchte ich mich zunächst bei der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde für die Einladung zur heutigen Gedenkveranstaltung bedanken. Sie, die Mitglieder ihrer Bürgerinitiative, geben seit vielen Jahren allen ein leuchtendes Beispiel in Berlin dafür, dass es möglich ist, gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen des Bezirkes sowie Schülerinnen und Schülern der örtlichen Schulen die Erinnerung an die Verbrechen wach zu halten, auch wenn die Zeitläufe darüber hinweg zu gehen scheinen.

73 Jahre sind inzwischen vergangen, seitdem am 8. Mai 1945 die deutsche Wehrmacht in Reims die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches unterschrieb, eine etwas kuriose Zeremonie, die einen Tag später in Berlin-Karlshorst wiederholt wurde. Kurios nenne ich diese Inszenierungen deshalb, weil die zur Unterzeichnung angetreten deutschen Generäle immer noch versuchten, der Welt das Theater von einer ganz normalen militärischen Niederlage nach einem verlorenen Krieg vorspielen zu müssen. An diesem Mythos hat die Bundesrepublik Deutschland lange unbeirrt und unbelehrbar festgehalten. Die mit militärischem Zeremoniell vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge organisierten Gedenkveranstaltungen zum Volkstrauertag mit anschließenden Kranzniederlegungen, teilweise an den Heldendenkmälern für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges inszeniert, galten, wie es hieß, allen Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft.

Auch wenn schon in den siebziger und achtziger Jahren gegen eine solche Missinterpretation und Verfälschung der Geschichte, die Täter und Opfer gleichermaßen in das Gedenken einschließt, gerade auch von einer wachsenden Bürgerbewegung aus Geschichtswerkstätten und Opferorganisationen, aus gewerkschaftlichen oder kirchennahen Gruppen entschiedener Widerspruch und Protest erhoben wurde, so hat erst die Rede von Bundespräsident Richard von Weizäcker am 8. Mai 1985 dieser Stahlhelm-bewehrten Tradition die politische Grundlage und Legitimation entzogen. Seitdem sprechen wir vom Tag der Befreiung. Damit verbinden wir nicht nur die Befreiung der Häftlinge der Konzentrationslager, der Zwangsarbeiter in den Fremdarbeiterlagern, der  politischen Gefangenen aus den Gefängnissen und Zuchthäusern, die Befreiung der untergetauchten Juden und Widerstandskämpfer aus Kellern, Kleingartenlauben und Katakomben, sondern auch die Befreiung der vielen Millionen Deutschen von ihrer nicht selten selbst gewählten Verstrickung, Beteiligung und fanatischen Identifikation mit dem verbrecherischsten System, das die Welt erlebt hat.

Wie nahe diese verschiedenen Motivlagen, vom Widerstand über das gleichgültige Wegsehen bis zur Tatbeteiligung, einander waren, das ist besonders eindrücklich dann nachzuvollziehen, wenn man den Blick auf das lokale Geschehen im „Dritten Reich“ lenkt. Das Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen, das am 23. Juni 1942 hier mitten im bürgerlich-kleinbürgerlichen Stadtbezirk Steglitz zwischen Teltowkanal und Wismarer Straße errichtet wurde, war nur eins von insgesamt 100 Satelliten des Konzentrationslagers bei der Reichshauptstadt. Etwa 30 davon befanden sich mitten in Berlin, zumeist bei großen Industrie- und Rüstungsbetrieben, wie Siemens, Krupp oder Mercedes,  aber auch bei zahlreichen Dienststellen der verschiedenen Verwaltungen des NS-Systems, wie z. B. dem Reichssicherheitshauptamt an der Prinz.-Albrecht-Straße, dem Reichsfinanzministerium an der Wilhelmstraße, dem SS-Rasse- und Siedlungshauptamt in Kreuzberg und vor allem dem SS-Wirtschaft- und Verwaltungshauptamt in Steglitz an der Straße „Unter den Eichen“. Viele der bei den verschiedenen Behörden eingesetzten KZ-Häftlinge waren im Außenlager Lichterfelde untergebracht. Von dort wurde ihr Einsatz gemeinsam mit dem SS-Arbeitseinsatzführer im Oranienburger Hauptlager koordiniert und geplant.

Wie kann man sich, so werden gerade junge Menschen fragen, das Nebeneinander von Konzentrationslager und Berliner Alltag, von Elend und Verbrechen an den KZ-Häftlingen einerseits, Arbeitsalltag, Wohnen und Freizeit der Berlinerinnen und Berliner andererseits vorstellen? Es ist sicherlich nicht zufällig, dass die verschiedenen Außenlager und –kommandos des Konzentrationslagers Sachsenhausen erst ab der Kriegsmitte, also ab 1942/43, die meisten sogar erst ab 1944, sich in der Reichshauptstadt auszubreiten begannen. Sachsenhausen war, obwohl von der Wehrmacht als ein großes Lager für potentiell Aufständische aus den stets unruhigen Vierteln der „roten Hauptstadt“ geplant, nicht innerhalb der Stadtgrenzen, sondern acht Kilometer davor, allerdings noch innerhalb des S-Bahn-Ringes, erbaut worden. Mauern umschlossen nun die Baracken. Zusätzliche Bretterzäune sollten den direkten Einblick in die verschiedenen Vernichtungsstätten verhindern, wo sich mehrere Galgen und Erschießungsanlagen befanden, eine Gaskammer installiert war und die vier Öfen des Krematoriums tagsüber im Dauerbetrieb brannten. Trotz aller halbherzigen Vertuschungsversuche konnten die Massenmorde auch den Einwohnern von Oranienburg, die nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt von SS-Männern begangen wurden, mit denen sie teilweise Tür an Tür wohnten, nicht unbekannt bleiben. Dafür gab es zu viele Indizien, wie der dicke schwarze, nach verbranntem Menschenfleisch übel riechende Rauch über den Krematorien, der dazu führte, dass an besonders schlimmen Tagen die zum Trocknen in den Gärten aufgehängte Wäsche sich schwarz färbte. Auch die täglichen Opfer von Mordlust und Misshandlungen, die von den KZ-Häftlingen am Ende ihrer in das Lager einrückenden Marschkolonnen auf einem Leiterwagen, nur mühselig von einer Plane bedeckt, an den wartenden Passanten bei der Rückkehr von den Arbeitskommandos vorbeigezogen wurden, waren kaum zu übersehen. Für einen Teil der Menschen reichte es bereits, wenn die Wachen ihre Gewehre auf allzu Neugierige richteten und barsch befahlen, sich umzudrehen und wegzusehen. Die Diktatur lieferte immer genügend Anlässe für ständige Ausreden, nicht-wissen zu wollen. So begannen die Menschen ihr Gesichtsfeld immer mehr einzuengen, sie schränkten die ganze Aufmerksamkeit auf ihren eigenen Alltag ein, der ihnen schwer genug zu sein schien. Sie wurden zu Monaden, die die Welt um sich herum auszublenden versuchten. Nicht wissen zu wollen, nicht sehen zu wollen, nicht hören zu wollen, wurde zu ihrer Überlebensmaxime.  So wollten nicht wenige entgegen ihren eigenen Wahrnehmungen lieber den ständig wiederholten Behauptungen der SS-Mörder glauben, in den Konzentrationslagern wären gefährliche Verbrecher interniert, vor denen man die anständigen Deutschen schützen müsse. Fast noch wichtiger aber war die schnelle Gewöhnung an die Gewalt und den Terror gegen Menschen, die seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten immer mehr um sich griff. Außenlager und Außenkommandos hatte es bereits in der ersten Phase des KZ-Terrors zwischen 1933 und 1935 gegeben, als die Opfer noch mitten in der Stadt, in leeren Fabrikhallen, in Hinterzimmern von Gasthäusern oder Kellern gefoltert und getötet wurden. Insoweit konnte der SS-Staat an eine Vorgeschichte anknüpfen, als Folterkeller und kleine Konzentrationslager selbst von der Berliner Bevölkerung hingenommen worden waren.

Mit dem Krieg lösten sich zunehmend alle zivilisatorischen Maßstäbe menschlicher Gesellschaft auf und der Gesichtskreis der Menschen engte sich immer mehr ein. Zunächst hatte das Regime noch davor zurückgeschreckt, die großstädtische Bevölkerung unverhohlen mit der Realität der großen Konzentrationslager zu konfrontieren. Die reinen Vernichtungslager gar, wie z. B. Treblinka oder Sobibor, waren nach den Protesten gegen die in reichsdeutschen Heilanstalten vollzogenen massenhaften Krankenmorde im Rahmen der sogenannten Euthanasie weit in den Osten verlegt worden. Das änderte sich jetzt unter dem Druck des totalen Krieges. Die zunehmende Abstumpfung der Menschen gegenüber Gewalt und Terror machte es möglich. Ganz sicher war sich das Regime trotzdem noch nicht. Vor allem deshalb transportierte die SS diejenigen Häftlinge des KZ-Außenlagers Lichterfelde,  die zu erschöpft und zu krank zum Arbeiten waren oder die bestraft werden sollten, zumeist zurück nach Oranienburg, wo sie durch die SS-Ärzte nach oberflächlicher Diagnose leichter getötet oder in den verschiedenen Einrichtungen des Lagers ungesehen gefoltert werden konnten. Die bisher bekannt gewordenen Hinrichtungen von Wilhelm Nowak sowie zweier weiterer KZ-Häftlinge, die in Lichterfelde vor den Augen ihrer Mithäftlinge erhängt wurden, scheinen eher die Ausnahme gewesen zu sein.

Diese furchtbare aber sorgsam überlegte Arbeitsteilung des Terrors zwischen den KZ-Außenlagern in Berlin und dem sogenannten Stammlager in Oranienburg darf nicht dazu führen, dass die Satelliten des Lagers, in denen, quantitativ betrachtet, sogar eine Mehrheit aller 200.000 Häftlinge von Sachsenhausen zur Zwangsarbeit interniert war, als eigenständige Orte der Erinnerung aus dem Gesamtkomplex des KZ-Kosmos herausgelöst werden. Sicher waren die Bedingungen in den jeweiligen Außenlagern sehr unterschiedlich: So konnten selbst in den jüdischen Außenlagern von Sachsenhausen, wie etwa bei Siemens in Haselhorst oder bei Argus in Reinickendorf,  nicht die gleichen lebensvernichtenden Arbeitsbedingungen und brutalen Massaker organisiert werden, wie sie z. B. in dem in der Nähe eines kleinen brandenburgischen Dorfs angesiedelten Außenlagers Lieberose stattfanden. Doch der Kommandant in Sachsenhausen und die zentrale Verwaltung aller Konzentrationslager in Oranienburg in dem bis heute original erhaltenen sogenannten T-Gebäude koordinierten und passten die Lebens- und Arbeitsbedingungen der KZ-Häftlinge den jeweiligen lokalen Erfordernissen und Umständen an.

Sachsenhausen ist daher, auch wenn das Hauptlager in Oranienburg acht Kilometer vor den Toren der Hauptstadt lag, ein leider in der Stadtgesellschaft immer noch viel zu wenig anerkannter, genuiner Erinnerungsort Berliner Geschichte. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl haben viele Berlinerinnen und Berliner über lange Jahre daran gehindert, ihn als solchen anzunehmen. Auch 28 Jahre nach der deutschen Einheit wirkt diese gewaltsame Trennung nach, zumal die 1961 nur wenige Monate vor dem Mauerbau von der DDR errichtete Mahn- und Gedenkstätte von beiden Hälften der Stadt zum Streitgegenstand zwischen den sich konfrontativ gegenüber stehenden politischen Systemen gemacht wurde.

Ich bin daher der Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde sowie allen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, allen Schülerinnen und Schülern sehr dankbar dafür, dass sie jährlich am Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus an die Opfer des Konzentrationslagers Sachsenhausen erinnern. Möge ihr Beispiel ausstrahlen auf andere Stadtbezirke, in denen die Präsenz von Außenlagern des Konzentrationslagers Sachsenhausen in der unmittelbaren Nachbarschaft kaum thematisiert wird und fast vergessen zu sein scheint. Und möge vor allem ihr Engagement und ihre Kraft nicht nachlassen, auch wenn sich die Stimmen mehren, die inzwischen selbst im Deutschen Bundestag die gegen erhebliche Widerstände in Jahrzehnten erkämpfte Erinnerungskultur in Deutschland wieder weit hinter die Entwicklung zurückwerfen wollen, die 1985 mit der Rede des Bundespräsidenten und ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Richard von Weizäcker, zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, begonnen hatte.

Denn die wirkliche Probe auf die Stärke und Nachhaltigkeit der Erinnerungskultur, sie kommt erst jetzt.

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Neujahrsansprache 2. Februar 2018

NEUJAHRSEMPFANG DES ARBEITSKREISES DER BERLIN-BRANDENBURGISCHEN NS-GEDENKSTÄTTEN
AM 2. Februar 2018
GRUSSWORT
Prof. Dr. Günter Morsch

Sehr geehrte Frau Dr. Kaminsky,
Exzellenz,
sehr geehrter Herr Staatssekretär,
lieber Herr Eppelmann,
sehr geehrter Herr Sello,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, des Berliner Abgeordnetenhausen und des Brandenburgischen Landtages,
verehrte Mitglieder des diplomatischen Corps,
sehr geehrte Vertreter der Opferverbände und der religiösen Gemeinschaften,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Namen der Mitglieder des Arbeitskreises I der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg möchte ich mich zunächst ganz herzlich bei denjenigen bedanken, die nun zum dritten Mal diesen Neujahrsempfang ermöglicht und organisiert haben. Ich danke vor allem der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ganz herzlich dafür, dass wir nach unserem turnusmäßigen Ausflug zur „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Ihren Räumen wieder zu Gast sein dürfen. Ich freue mich, dass so viele Kolleginnen und Kollegen zusammen mit unseren Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kultur die Chance nutzen wollen, um im zwanglosen Rahmen miteinander hoffentlich nicht nur über die Geschichte beider Diktaturen und ihre Darstellung ins Gespräch zu kommen.

In den ersten Wochen des neuen Jahres haben die Gedenk- und Dokumentationsstätten zur Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen eine besondere und unerwartete Aufmerksamkeit in Politik und Medien erfahren. Anlass dafür gaben Äußerungen der Berliner „Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales“ Sawsan Chebli. Auf dem Hintergrund skandalöser Vorkommnisse in der Mitte Berlins, als im Rahmen einer Protestaktion gegen die Beschlüsse der amerikanischen Regierung zur Verlegung ihrer Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem israelische Fahnen verbrannt wurden, forderte sie, dass jeder, der in diesem Land lebt, verpflichtet wird, mindestens einmal in seinem Leben eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Obwohl die in Berlin geborene Tochter palästinensischer Flüchtlinge, die für ihren Kampf gegen Antisemitismus bekannt ist, ihre Anregung auf alle Teile der in Deutschland lebenden Bevölkerung ausgedehnte hatte, rückten schnell Migranten und Geflüchtete in den Fokus der Diskussion.

Grundsätzlich müssen wir Frau Chebli dafür dankbar sein, dass sie den Anstoß zu einer danach schon sehr bald intensiv geführten Debatte gab, die auf dem Hintergrund der Veranstaltungen zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus bis in bekannte Talk-shows-Formate des Deutschen Fernsehens hinein reichte. Einige von uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind in diesem Zusammenhang von Journalisten und Politikern nach unserer Meinung zu den Forderungen der Berliner Staatssekretärin befragt worden. Auch mich hat das große Medieninteresse gerade auch ausländischer Journalisten überrascht. Glaubten wir doch in den vergangenen Jahren uns schon des Öfteren mit der immer wieder von unterschiedlicher Seite aktualisierten Forderung nach verpflichtenden Gedenkstättenbesuchen auseinandergesetzt und dabei mehrheitlich eine sorgfältig erwogene und diskutierte, kritische Haltung dazu formuliert zu haben.

Nun ist nicht zu leugnen, dass es zahlreiche Anlässe gibt, um diese aufgeworfenen Fragen erneut zu diskutieren. Denn es scheinen, wie nicht nur vielfach Beobachtungen und Stimmungen, sondern auch repräsentative Umfragen bestätigen, antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen erneut zu wachsen. Die erschreckend hohe Anzahl von zumeist rechtsextremistisch motivierten Anschlägen auf Leben und Gesundheit von Geflüchteten und Asylbewerbern, fremdenfeindliche Demonstrationen wie Pegida und vor allem auch die Ergebnisse der letzten Bundestagswahlen geben, wie auch ich meine, allen Grund zur Besorgnis. Dass nun sogar im Deutschen Bundestag eine Partei fast einhundert Sitze einnimmt, aus deren Reihen offen und unverblümt die mühselig in vielen Jahrzehnten vorwiegend bürgerschaftlichen Kampfes errungene Erinnerungskultur in Deutschland in ihren Grundüberzeugungen in Zweifel gezogen und nationalistische, revisionistische sowie negationistische Forderungen nach einer Neubewertung der Geschichte des Nationalsozialismus erhoben werden, habe ich mir, wie ich zugeben muss, nicht mehr vorstellen können.

Auch wir müssen daher, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, manche scheinbare Gewissheiten der vergangenen Jahre erneut auf den Prüfstand stellen. Wir müssen die Rolle und Bedeutung der Gedenk- und Dokumentationsstätten im Kontext historisch-politischer Bildung auf dem Hintergrund gewandelter Einstellungen und politischer Bedingungen kritisch hinterfragen. Sicher können wir auch in der Zukunft nur ein Mosaikstein im Gesamtbild der Erziehung zu einem demokratischen Geschichtsbewusstsein sein. Trotzdem sollten wir uns selbstkritisch fragen, inwieweit in den genannten gesellschaftlichen und politischen Abirrungen auch ein partielles Scheitern unserer Bildungsarbeit zum Ausdruck kommt? Haben wir uns rechtzeitig auf neue Herausforderungen eingestellt? Erreichen wir mit unseren Veranstaltungen, Ausstellungen und pädagogischen Konzepten noch unser Zielpublikum? Auch wenn der enorme Zuwachs an Besucherinnen und Besuchern von NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten, der seit Jahren anhält, eine andere Sprache zu sprechen scheint, so wissen wir, wie auch die meisten anderen Bildungseinrichtungen, im Grunde wenig über die pädagogischen Effekte und die Nachhaltigkeit unserer Arbeit.

Immer wieder begegnen uns besorgte Fragen und Behauptungen, wonach es vor allem das Ende der Zeitzeugenschaft sei, das die Bedeutung der NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten in der gesellschaftlichen Debatte verändert. Das ist zweifellos nicht falsch, denn wir können die emphatischen und emotionalen Begegnungen mit den Überlebenden des NS-Terrors nicht ersetzen. Gerade deshalb aber haben die Gedenkstätten seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen grundsätzlichen Wandel von Orten in erster Linie des Gedenkens und Trauerns sowie emotionaler Betroffenheit und Erschütterung einerseits hin zu zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben andererseits in Gang gesetzt. Historisches Lernen, das sich unter Zuhilfenahme überkommener Relikte, Artefakte und Zeugnisse selbständig eine konkrete Vorstellung von Geschichte und ihrer Bedeutung für die Gegenwart erarbeitet, scheint uns nachhaltiger zu wirken als eine Didaktik, die die Lernenden zur Replikation eines vorab festgeschriebenen Lehrstoffs verpflichtet. Doch dafür brauchen unsere Pädagogen nicht nur Zeit und Freiräume, wir brauchen vor allem auch mehr Personal. Insoweit irritiert es mich schon, wenn bei der breit geführten Debatte über die Verbesserung historisch-politischer Bildung in den Gedenk- und Dokumentationsstätten die personellen und logistischen Voraussetzungen, die für eine nachhaltige Bildungsarbeit unverzichtbar sind, kaum mit reflektiert, sondern vielfach sogar schlicht ausgeblendet werden.

Das Forum für zeitgeschichtliche Bildung, das die beiden Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten im vergangenen Jahr zum vierzehnten Mal durchführten, ist zweifellos eine wichtige und unbedingt beizubehaltende Veranstaltung, auf der ein Teil der genannten selbstkritischen Fragen reflektiert werden kann. In der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen, die im vergangenen Jahr Gastgeber des Forums sein durfte, haben wir in kontinuierlicher Aufnahme der Kontroversen und Debatten über die richtigen Wege zur Vertiefung und Verbesserung historisch-politischer Bildung und in Zusammenarbeit mit Schulen und Schulverwaltungen versucht, verschiedene Methoden zu diskutieren, um die Brücke zwischen der Vergangenheit und der Lebenswelt der Jugendlichen immer wieder neu zu befestigen. Ich meine, dass wir diese Diskussionsplattformen, auf denen NS- und SED-Gedenkstätten zusammen mit Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sowie mit der Wissenschaft und den Einrichtungen der Kultur- und Bildungseinrichtungen exemplarische Projekte vorstellen und diskutieren, angesichts der genannten neuen Herausforderungen eher noch vertiefen, intensivieren und verstetigen sollten. Gerade in unserer dezentralen Gedenkstättenlandschaft kommt es darauf an, den kontinuierlichen Dialog zwischen allen Beteiligten zu organisieren.

Dabei sollten sich die NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten auch noch stärker als bisher bewusst und aktiv in die Debatten um die zukünftige Erinnerungspolitik einbringen. Wir dürfen den Parteien, den Medien und gesellschaftlichen Organisationen nicht den sich verschärfenden Diskurs um die Bedeutung historischer Bildung über den Nationalsozialismus überlassen. Viele Äußerungen aus diesen Bereichen belegen, wie wenig manchen Protagonisten der Erinnerungspolitik unsere tägliche Arbeit bekannt ist. Wenn wir nicht von vermeintlichen Sachzwängen oder Vorurteilen, bewussten Verfälschungen oder politischen Zielsetzungen und Instrumentalisierungen bestimmt werden wollen, dann müssen wir den Mut haben, uns auch öffentlich zu äußern, selbst wenn wir dadurch möglicherweise in schwierige Konflikte mit Mittelgebern und Entscheidungsträgern geraten. Denn anders als die meisten Museen befinden sich die Gedenkstätten an einer sensiblen Nahtstelle zwischen Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit einerseits sowie Aufgabenerfüllung und Alltag andererseits. Dieser eminente Bedeutungszuwachs ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels, wie er z. B. von Pierre Nora oder Hermann Lübbe schon in den achtziger Jahren beschrieben wurde. Er erreichte die NS-Gedenkstätten zwar erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, er hält seitdem aber an. Die NS-Gedenk- und Dokumentationsstätten sind daher selbst politische Akteure, die sich bei gesellschaftlichen Debatten nicht verstecken dürfen.

Das Jahr 2018 und erst recht das darauf folgende Jahr 2019 ermöglichen uns, im Rückblick auf entscheidende historische Wegmarken der Jahre 1938 und 1939, als der Terror gegen politische, soziale und sogenannte rassische Feinde des NS-Regimes erheblich ausgeweitet und erste militärische Interventionen und Gewaltakte der geplanten Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch das „Dritte Reich“ den Weg bereiteten, das historische Bewusstsein für gegenwärtige innen- und außenpolitische Bedrohungen und Probleme zu schärfen. Zugleich können wir auf das weit verbreitete Versagen einer Weltgemeinschaft hinweisen, die die meisten vom Terror Betroffenen im Stich ließ und keine Hilfe leistete. Das Bewusstsein für den notwendigen und aus der Erfahrung der historischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges erwachsenen Zusammenhalt vor allem auch in Europa zu stärken, das ist nicht nur eine Aufgabe, sondern eine Chance für die NS-Gedenkstätten. Es gilt das in der Geschichte ihrer Orte eingeschlossene Potential zu entfalten, denn wir sind nicht allein deutsche Einrichtungen, sondern von europäischer und internationaler Bedeutung. Denn nicht nur die Geschichte Europas zwischen 1933 und 1945, sondern gerade auch die europäische Nachkriegsgeschichte ist an unseren historischen Orten eingeschrieben.

In seinem vor kurzem mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Roman „Die Hauptstadt“ schildert der österreichische Schriftsteller Robert Menasse das Scheitern eines auf die Gründungsgeschichte der Europäischen Union rekurrierenden Projekts. Um die allmählich sich auflösende Europa-Begeisterung zu stärken, plant die europäische Kommission anlässlich ihres fünfzigsten Gründungstages einen Festakt in Auschwitz. Dabei soll ein KZ-Überlebender noch einmal an das Vermächtnis und den Schwur der Häftlinge erinnern, den Frieden durch die europäische Einigung herzustellen und auf Dauer zu sichern. Das Vorhaben scheitert schließlich, weil den unterschiedlichen Repräsentanten der EU-Staaten die Verteilung der Quoten für Schweinefleisch wichtiger und präsenter ist als die Befestigung europäischer Einheit auf dem Hintergrund historischer Erfahrung. Dieser deprimierende Schluss des Romans, der m. E. weniger fiktional als realistisch ist, sollte uns Ansporn sein, um unseren kleinen, aber, wie ich meine, nicht unmaßgeblichen Teil dazu beizutragen, dass aus der Geschichte die richtigen Schlüsse gezogen werden.

Die Neujahrsempfänge der beiden Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten sind auch eine gute Gelegenheit, um allen unseren Mitstreiterinnen und Mitstreitern, um unseren Verbündeten in Politik und Verwaltung, in den Medien ebenso wie in den verschiedenen Bildungseinrichtungen, in den Opfer- und Interessenverbänden ebenso wie in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen den herzlichen Dank von allen Gedenkstätten und Dokumentationsorten auszusprechen. Wir wissen um ihre steten Anstrengungen und sind ihnen dankbar dafür. Wir ahnen oder kennen die Herausforderungen und Probleme, denen sie begegnen müssen, um unsere Interessen und Bedürfnisse zu vertreten. Umso dankbarer sind wir nicht nur für Ihre Unterstützung und Hilfe, sondern auch für Ihre Empathie und Sympathie, aus denen nicht selten Freundschaften entstanden sind. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns ein gutes und erfolgreiches Jahr 2018.

Tag der Opfer des Nationalsozialismus 27. Januar 2018: Norwegische Häftlinge im KZ Sachsenhausen

TAG DER OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS
27. JANUAR 2018

NORWEGISCHE HÄFTLINGE IM KONZENTRATIONSLAGER SACHSENHAUSEN 1940-45

BEGRÜSSUNG UND EINFÜHRUNG
PROF. DR. GÜNTER MORSCH

„Unser Land ist von feindlichen Mächten belagert
Wir selber sind deportiert worden und gehen in Häftlingskleidung
Hier kriegen wir Schweinefutter und brennen vor Hass
Wir schmieden den Stahl für Germaniens Rüstung

Wir stehen auf dem Appellplatz im eiskalten Wind
Wir ziehen unsere Lumpen an
Die stinken wie die Pest
Wir schlafen zu zweit in einem Bett
Wir werden schwach mit allen Sklaven in unserer Buchte
Und der Tod schlägt uns oft

Es wird ein Tag kommen, und der ist nicht fern
Dann sprengen wir das Tor, obwohl es von Eisen ist
Denn hinter dem fernen Horizont und hinter dem Meer und dem Strand
Ist unser Norwegen unser wieder gewonnenes Land.“

Mit diesen drei Strophen aus dem 1943 verfassten Lagerlied der norwegischen Häftlinge möchte ich Sie alle, sehr geehrte Gäste unserer heutigen Gedenkveranstaltung, ganz herzlich begrüßen. Der Liedtext wurde von dem bekannten Schriftsteller Arnulf Överland geschrieben, der wegen seines Widerstandes gegen die deutsche Besatzungsmacht seit 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert war. Ganz besonders freuen wir uns darüber, dass Bernt Lund zum wiederholten Mal die beschwerliche Reise von Oslo nach Oranienburg auf sich genommen hat, um heute als Zeitzeuge zu uns zu sprechen. Lieber Herr Lund, seien Sie herzlich willkommen! Ich begrüße den Vizepräsidenten des Brandenburger Landtag Dieter Dombrowski, den Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhausen Herr Wieland und den Botschafter des Königreichs Norwegen Petter Ölberg. Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen sowie der Landtag in Brandenburg begehen gemeinsam den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus seit seiner Einführung im Jahre 1996 am historischen Ort, dem ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen, dort wo sich auch die Verwaltungszentrale des KZ-Terrors befand. Dafür möchte ich Ihnen sehr geehrter Her Landtagsvizepräsident, dem Präsidium sowie allen Fraktionen des Brandenburgischen Landtages, die diesen Beschluss mittragen, ganz herzlich danken.
Es ist mir dabei eine große Freude, auch in diesem Jahr wieder die anwesenden Abgeordneten des Brandenburgischen Landtages sowie des Berliner Abgeordnetenhauses begrüßen zu dürfen. Ich begrüße ferner die Mitglieder der Brandenburgischen Landesregierung und des Berliner Senats. Ich begrüße die Vertreterin der Staatsministerin für Kultur, den Landrat des Kreises Oberhavel, den Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die Mitglieder des Kreistages sowie der Stadtverordnetenversammlung. Ganz besonders dankbar sind wir, dass erneut zahlreiche Angehörige und Repräsentanten ausländischer Botschaften sowie Angehörige von Verfolgten des Nationalsozialismus an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ich danke außerdem allen Vertretern der Parteien, der Gewerkschaften und der Wirtschaft, der Kirchen sowie der jüdischen Gemeinden. Ich begrüße ferner die Vertreter von Hochschulen und Schulen sowie der verschiedenen Opferverbände, insbesondere den Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausenkomitees, Dik de Boef, und die Mitglieder des internationalen Beirates der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Ganz besonders freuen wir uns auch über die Anwesenheit von Schülerinnen und Schülern. Schon jetzt danke ich den Schülerinnen und Schülern des Georg-Mendheim-Oberstufenzentrums sowie des Gymnasiums Panketal, die an der Ausgestaltung unserer Gedenkveranstaltung mitwirken.

Am 9. April 1940 überfielen deutsche Wehrmachtstruppen das Königreich Norwegen. Während die norwegischen Soldaten einen tapferen aber aussichtlosen Kampf gegen die deutschen Invasoren führten, gelang König Haakon VII die Flucht nach Großbritannien. Dort baute er eine Exilregierung auf. Die Herrschaft im Land übernahmen der ehemalige NSDAP-Gauleiter des Ruhrgebietes, Josef Terboven, sowie der Befehlshaber der Wehrmacht Nikolaus von Falkenhorst. Obwohl das „Dritte Reich“ sich um eine enge Zusammenarbeit mit dem sogenannten „Nordischen Brudervolk“ bemühte, blieb der Erfolg gering, da der eingesetzte Ministerpräsident Vidkun Quisling kaum Rückhalt in der norwegischen Bevölkerung fand. Im Lauf der Besatzungszeit nahmen daher der Widerstand aus der norwegischen Bevölkerung einerseits und der Terror der deutschen Besatzungsmacht andererseits immer mehr zu. Nicht nur aus ideologischen, sondern vor allem auch aus wirtschaftlichen Gründen gingen die Deutschen in den skandinavischen Staaten vorsichtiger als anderswo vor. Trotzdem kam es vielfach zu offenem Terror. Standrecht, Hinrichtungen, Deportationen und Verhaftungen .
Während die meisten Norweger in Polizeihaftlagern und Gefängnissen auf norwegischen Boden inhaftiert wurden, verschleppte die SS mehr als 9.000 ganz überwiegend politische Widerstandskämpfer in Konzentrationslager. Fast 800 Juden wurden vor allem nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dass die meisten Norweger, mehr als 2.500, in das Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt transportiert wurden, lag wohl am wenigsten in der geographischen Lage Oranienburgs begründet. Vielmehr war wohl die schon 1939 vorgenommene Einstufung des KZ Sachsenhausen als ein, wie es die SS nannte, Lager für besserungsfähige Häftlinge entscheidend. Möglicherweise nahm darauf auch der kurz davor abgelöste Kommandant von Sachsenhausen Hans Loritz Einfluss, der im September 1942 die Führung der SS-Inspektion in Norwegen übernahm. Denn schon bald nach seiner Ernennung wuchs die Anzahl der mit Schiffen und Eisenbahnen hauptsächlich aus dem Polizeihaftlager Grini bei Oslo verschleppten Norweger stark an.
Der erste Häftlingstransport aus Norwegen war bereits am 24. August 1940 von der Lagerverwaltung erfasst worden. Im weiteren Verlauf des Jahres sowie auch im darauf folgenden Jahr 1941 blieb es bei vereinzelten Transporten. Erst am 27. Mai 1942 erreichte ein neuer Großtransport mit 113 Norwegern das Konzentrationslager Sachsenhausen. Unter ihnen befanden sich 66 Männer aus der kleinen Fischersiedlung Telavag[Telawohg] im Westen Norwegens. Aus Rache für die Unterstützung der westlichen Alliierten und die Erschießung zweier Gestapobeamter ließ Reichskommissar Terboven das gesamte Dorf in Schutt und Asche legen und verschleppte am 30. April 1942 alle Kinder und Frauen sowie ältere Männer nach Bergen. Die zwischen 15 und 65 Jahre alten Männer dagegen transportierte die SS fast alle über Grini nach Sachsenhausen. Nicht einmal die Hälfte von ihnen überlebte.
Ende 1942 verstärkten die Nationalsozialisten angesichts der an allen Fronten sich abzeichnenden militärischen Niederlagen ihre Rüstungsanstrengungen. Die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen bekam dadurch einen völlig neuen Stellenwert. Aus allen besetzten Ländern, so auch aus Norwegen, verschleppten die Nationalsozialisten Hundertausende von Menschen in das sich explosiv ausweitende und verzweigende Lagersytem. Zeitweise erreichten 1943 fast täglich große Häftlingstransporte aus Norwegen das Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt. Diese großen Transporte dauerten auch im ersten Halbjahr 1944 an. Dadurch erhöhte sich die Anzahl der norwegischen Häftlinge, die zur gleichen Zeit im Oranienburger Hauptlager sowie in den Nebenlagern, vor allem in den Außenlagern Falkensee, Heinkel sowie Bad Saarow, inhaftiert waren, auf über 2.000.
Die ganz überwiegende Anzahl der Norweger mussten im KZ Sachsenhausen das rote Dreieck der politischen Häftlinge an ihre Kleidung nähen. Über norwegische Häftlinge mit anderen Winkelfarben ist kaum etwas bekannt; nur vereinzelt waren auch Juden unter ihnen. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge kam aus den verschiedenen Organisationen der norwegischen Arbeiterbewegung, insbesondere aus den Jugendorganisationen. Da der vom britischen Exil aus angeleitete Widerstand in Norwegen sehr straff militärisch organisiert war, gehörten auch zahlreiche Polizisten, wie z. B. der Polizeidirektor von Kristiansand, Kristian Wilhelm Rynning-Tönnessen, sowie ehemalige Soldaten der norwegischen Armee zu den Inhaftierten. Auch zahlreiche Intellektuelle, wie z. B. der Rektor der Osloer Universität Didrik Arup Seip, der eingangs zitierte Schriftsteller Arnulf Överland, der Sohn des Nobelpreisträges und Polarforschers Odd Nansen sowie evangelische Geistliche, wie Pedder Scheie, befanden sich unter den norwegischen Häftlingen.
In Sachsenhausen erwartete die Norweger zunächst das übliche demütigende und grausame Aufnahmeritual. In den ersten zwei bis drei Wochen wurden sie in den Quarantäneblocks zusammen gepfercht. Die meisten von ihnen mussten in dieser Zeit die Qualen des sogenannten Schuhelaufens auf der über den Appellplatz herumführenden, von der deutschen Schuhindustrie eingerichteten Teststrecke erdulden. Die übermenschlichen Anstrengungen und sadistischen Quälereien auf dem täglichen, etwa 40 Kilometer langen Marsch über unterschiedliche Bodenbeläge, häufig in zu engen und kleinen Stiefeln, haben sich in das Gedächtnis der Überlebenden besonders stark eingegraben. Himmlers auf die Giebel des ersten Barackenrings angebrachten Sinnspruch, wonach die Freiheit angeblich von der Befolgung der Sekundärtugenden, also Fleiß, Ordnungssinn, Ehrlichkeit und Vaterlandsliebe, abhing, haben viele Norweger auch noch nach ihrer Befreiung als Ausdruck einer typisch deutschen Mentalität interpretiert.
Solange die Lagerverwaltung die norwegischen Häftlinge aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl auf die 58 Baracken des Häftlingslagers verteilte, teilten sie das Schicksal aller übrigen Häftlinge. Überdurchschnittlich viele Norweger starben daher in diesen ersten beiden Jahren. Spätestens nach der Ankunft der Massentransporte im Jahre 1943 gelang es ihnen, die Zusammenlegung in eigenen Blocks, den sogenannten Norweger-Baracken, zu erreichen. Der dadurch bewirkte Zusammenhalt stärkte die Identität der norwegischen Häftlingsgruppe, die sich durch eine starke Heimatorientierung auszeichnete, die nicht selten mit einem ausgeprägten nationalen Stolz sowie einem starken antideutschen Widerstandsgeist einherging. Alle erhaltenen Erinnerungsberichte der Überlebenden zeugen von einem intensiven kulturellen Leben der Norweger in diesen Baracken. Mindestens genauso wichtig für das Überleben der norwegischen Häftlinge war die im Dezember 1942 erteilte Erlaubnis zum Paketempfang. Monatlich konnten danach privilegierte Häftlingsgruppen Pakete mit Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten empfangen. Nicht nur die Angehörigen der Häftlinge, sondern vor allem auch das norwegische, dänische und schwedische Rote Kreuz sandten von 1943 an bis zu 5 Kilogramm schwere Pakete, die den meisten Empfängern die Chancen des Überlebens im Lager auf vielfache Weise entscheidend verbesserten.
Da die Pakete nur an namentlich bekannte Häftlinge verschickt werden durften, partizipierten zunächst nicht alle Norweger an dieser wichtigen Hilfsaktion. Es ist der seinerzeit mit ihrer Familie in Groß-Kreuz internierten, damals 21-jährigen Wanda Heger vor allem zu verdanken, dass diese Aktion sich auf fast alle skandinavischen Häftlinge ausdehnen konnte. Der genau heute vor einem Jahr leider verstorbenen Norwegerin nämlich gelang es, mit norwegischen Häftlingen, die in den Außenkommandos des Lagers arbeiteten, zum Teil unter den Augen des SS-Wachen Kontakt aufzunehmen und über sie die Namen weiterer Landsleute zu ermitteln, die sie an das Rote Kreuz weitergab.
Aus der Paketaktion der Skandinavier entwickelte sich eine der größten Solidaritätsaktionen, die auch in den Erinnerungen anderer Häftlingsgruppen, eine wichtige Rolle spielen. Denn vielfach verteilten die Norweger einen Teil des Inhalts der Pakete vorwiegend an die Kranken und die sogenannten Muselmänner. Mark Tilevic, der im Sommer diesen Jahres leider verstorbene langjährige Präsident des russischen Sachsenhausenkomitees, schreibt darüber in seinen Erinnerungen: „Die Tatsache, dass sich Norweger in unserem Lager befanden, war eine enorme Stütze, besonders für uns Russen, denn sie gaben sich große Mühe, uns jede erdenkliche Hilfe zu leisten, da wir die Elendsten von allen waren…Wir hatten mit ihnen eine äußerst herzliche und warme Freundschaft, die sich das Leben über fortsetzte.“
In dankbarer Erinnerung vieler Häftlinge blieben vor allem auch die verschiedenen Hilfsaktionen, mit denen sich norwegische Häftlingsärzte in den Revieren des Lagers um die Kranken bemühten. So organisierte Dr. Sven Oftedal gemeinsam mit seinem norwegischen Kameraden Dr. Per Graesli eine Blutspendeaktion im Lager, an der sich rund einhundert Häftlinge beteiligten. Beiden sowie dem norwegischen Pfleger Per Roth war es wohl auch in der Hauptsache zu verdanken, dass die elf jüdischen Kinder, die im Krankenrevier II für medizinische Experimente missbraucht wurden, nicht als Zeugen der NS-Verbrechen wie andere ermordet, sondern auf den Todesmarsch geschickt wurden, den alle überlebten.
Die allermeisten norwegischen Häftlinge im KZ Sachsenhausen empfanden sich nicht nur gegenüber den anderen Häftlingsgruppen als privilegiert, sie waren es zweifellos in vieler Hinsicht auch. Das wurde wahrscheinlich durch die Rettungsaktion des dänischen und schwedischen Roten Kreuzes am sichtbarsten, die unter dem Namen „Aktion Bernadotte“ weltweit bekannt ist. Zwischen dem 18. und dem 30. März 1945 gelang es, mehr als 2.000 skandinavische Häftlinge mit weiß gestrichenen Bussen und Lastwagen aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen zu befreien. Zurück blieb, folgt man der Lagerregistratur, nur ein einziger norwegischer Häftling, der offenbar todkrank im Revier lag. Es handelte sich um Johannes Christopher Telle, ein im Rahmen der erwähnten kollektiven Sühnemaßnahme verschleppter Fischer aus Telavag [Telawohg]. Er verstarb am 2. April 1945. Insgesamt kehrten wohl etwa 200 der mehr als 2.500 nach Sachsenhausen verschleppten Norweger nicht mehr nach Hause zurück. Die meisten verstarben in den ersten beiden Jahren infolge der katastrophalen Lebensbedingungen. Eher eine, allerdings bezeichnende Ausnahme scheint der norwegische Jude Moritz Rabinowitz zu sein. Er wurde, so erinnern sich verschiedene norwegische Häftlinge, von der SS am 27. Februar 1942 zu Tode gefoltert.
Nach Hause zurückgekehrt, versuchten viele der norwegischen Überlebenden an ihre Tätigkeiten vor dem Krieg anzuknüpfen. Norwegische Sachsenhausen-Überlebende bestimmten bis in die siebziger Jahre hinein maßgeblich die Politik dieses skandinavischen Landes. Noch im Konzentrationslager, so erinnert sich Finn Kleppe, sei die erste Nachkriegsregierung Norwegens gebildet worden: Am 9. Mai 1944 habe der spätere Ministerpräsident Einar Gerhardsen eine Reihe von norwegischen Häftlingen aus Anlass seines Geburtstages in seine Baracke eingeladen. Dort am Tisch habe er seine Kameraden Halvard Lange zum Außenminister, Nils Langhelle zum Verkehrsminister, Sven Oftedahl zum Sozialminister, Lars Moen zum Kirchenminister und Johan Johansen zum Arbeitsminister ernannt. Es kann von mir nicht entschieden werden, inwieweit der Bericht von Finn Kleppe die Vergangenheit doch etwas zu sehr verklärt. Richtig bleibt aber, dass nicht nur die Genannten, sondern auch viele weitere Sachsenhausen-Überlebende, so auch unser Ehrengast Bernt Lund, noch über viele Jahrzehnte wichtige politische Ämter in Norwegen bekleideten und dadurch auch die Politik Europas maßgeblich mitprägten.

Als Ignaz Bubis sel. Ang. 1996 dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog den Tag der Befreiung der im Lager Auschwitz verbliebenen Häftlinge als Gedenktag vorschlug, war er sich sicherlich der Singularität des Völkermords an den europäischen Juden bewusst. Kein anderer der vielen Feinde des Nationalsozialismus und kein anders Zielobjekt ihres Rassenwahns sollte vollständig, vom Baby bis zum Greis, Männer ebenso wie Frauen, in Gänze und weltweit ausgerottet werden. Trotzdem wollte Bubis den Gedenktag allen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet wissen. Denn allen überlebenden Opfern des Nationalsozialismus stand bis zum Ende ihres Lebens die den inneren Kern der NS-Ideologie bestimmende generelle Menschenfeindlichkeit vor Augen, die sich gegen Kranke und Schwache ebenso wie gegen politische Gegner, gegen Angehörige angeblich minderwertiger Rassen ebenso wie gegen soziale Außenseiter, gegen sexuelle Minderheiten ebenso wie gegen Unangepasste richtete. Es ist gerade heute, da die Stimmen der Zeitzeugen weitgehend verstummt sind und Feindbilder von Rechtspopulisten und -extremisten fast nach Belieben ergänzt, aktualisiert und verändert werden, immer wichtiger, sich dieser generellen antihumanen Bedrohung bewusst zu bleiben. Noch sind es nur wenige, die sogar den Holocaust abstreiten oder relativieren. Bedenklicher scheint mir dagegen die sich, teils aus Unbedacht und teils aus Kalkül, ausbreitende Gewohnheit zu sein, die Verbrechen des Nationalsozialismus auf den Holocaust an den Juden zu beschränken und die generelle Menschenfeindlichkeit auszublenden.
Im Konzentrationslager Sachsenhausen waren Menschen aus über vierzig Nationen inhaftiert. Sie waren aus den verschiedensten Gründen in das Konzentrationslager bei Reichshauptstadt und seine Außenlager verschleppt worden, aus rassischen, politischen, religiösen, sozialen, biologischen und ökonomischen Gründen. Auch wenn die Todesbedrohungen unterschiedlich ausgeprägt waren, so befanden sich unter den vielen zehntausenden von Opfern Angehörige aller Haftgruppen. Dieser Nationen, Schichten und Gruppen überwölbenden Gemeinsamkeit sollten wir uns bewusst bleiben. Sie war eine der zentralen Anliegen der überlebenden KZ-Häftlinge. Nicht zuletzt deshalb versäumte es keiner der drei inzwischen leider verstorbenen Präsidenten des Internationalen Sachsenhausen Komitees, in ihren Reden immer wieder auf die aus ihrer Erfahrung im KZ heraus wichtigste und unverzichtbare Grundlage humanen Zusammenlebens hinzuweisen, auf die „solidarité“, wie Charles Désirat, Pierre Gouffault und Roger Bordage als Franzosen formulierten. Im Vermächtnis der Überlebenden, das zehn Präsidenten der Häftlingsverbände der großen Konzentrationslager 2009 verfassten und zahlreichen hohen Repräsentanten europäischer Staaten überreichten, heißt es in eben diesem Sinn: „Aber auch Europa hat seine Aufgabe: Anstatt unsere Ideale für Demokratie, Frieden, Toleranz, Selbstbestimmung und Menschenrechte durchzusetzen, wird Geschichte nicht selten benutzt, um zwischen Menschen, Gruppen und Völkern Zwietracht zu säen…“
Wie stark gerade auch norwegische KZ-Überlebende von Sachsenhausen mit dem Gedanken der europäischen Einigung verbunden waren, beweist u. a. das Verhalten des vielfachen Ministers und zweifachen Ministerpräsidenten Norwegens Trygve Bratelli. Der engagierte Jugendpolitiker der Arbeiterpartei war schon vor seiner Inhaftierung im Juni 1942 und seiner Deportation nach Sachsenhausen freundschaftlich mit dem deutschen Emigranten Willy Brandt verbunden. Nach dem Krieg pflegten sie diese Freundschaft weiter und trafen sich oft zu Gesprächen über Deutschland und Europa. Konsequenterweise trat er als Ministerpräsident zurück, als die Norweger sich in einer Volksabstimmung gegen den von ihm bereits unterschriebenen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aussprachen. Doch seine Überzeugung, dass Europa auf Dauer nur Frieden finden könne, wenn es auch zwischen Ost und West einen inneren Zusammenhang herstellt, holte ihn aus seinem zwischenzeitlichen Ruhestand zurück. „Je stärker Europa eine Zusammenarbeit zwischen den Nationen entwickelt, desto weniger muss man sich vor den Quellen der Unruhe fürchten, die zweimal zu meinen Lebenszeiten zu Weltkriegen geführt haben.“ Dieses Bekenntnis zu Europa formulierte der ehemalige „Nacht und Nebel-Häftling“, in dessen Wohnzimmer ein Gemälde des bekannten norwegischen Künstlers Reider Aulie mit dem Titel „KZ-Häftlinge beim Appell“ im Wohnzimmer der Familie hing, im Jahre 1971. Vier Jahre später unterzeichnete Bratelli als norwegischer Ministerpräsident die berühmte Schlussakte von Helsinki, die nicht nur als ein Meilenstein der Entspannungspolitik, sondern als entscheidende Wegmarke zum Fall der Mauer und zur Auflösung des Warschauer Pakts angesehen wird.

In dem kürzlich mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Roman von Robert Menasse, „Die Hauptstadt“ verfolgt eine Projektgruppe der Europäischen Kommission die Idee, das gegenwärtig schwindende Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa durch den Verweis auf die Entstehungsgeschichte der europäischen Einigung wiederzubeleben. Im Zentrum einer geplanten Jubiläumsveranstaltung sollte daher das Vermächtnis von KZ-Überlebenden stehen. Das Vorhaben scheitert schließlich am kleinlichen und bornierten Egoismus der unterschiedlichen nationalen Repräsentanten, denen die Quoten für Schweinefleisch wichtiger und präsenter sind als die historische Verantwortung. Diese fiktionale Handlung ist keinesfalls unrealistisch. Vergleichbares haben die zehn Präsidenten der Häftlingsverbände in Brüssel schmerzlich erfahren müssen, als sie ihr Vermächtnis möglichst vielen europäischen Abgeordneten übereichen wollten. Wir sind daher heute auch hier, um dieses Vermächtnis der KZ-Überlebenden zu bekräftigen. Es ist aktueller denn je.

Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1945. Ausstellungseröffnung am 75. Jahrestag des Überfalls, 21. Juni 2016

ERÖFFNUNG DER Sonderausstellung „Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1945“
Der Ständigen Konferenz der Leiter NS-Gedenkorte im Berliner Raum
21. Juni 2016

Begrüßung: Staatsministerin Frau Prof. Grütters,
Exzellenz, Herr Botschafter Grinin,
Damen und Herren,
Kolleginnen und Kollegen

STäKO: HdW, GuMS, Denkmal Juden, GdW, Topographie,

Verweis auf Ausstellung zum 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges mit Überfall auf Polen 2014 auf Pariser Platz, große Aufmerksamkeit

Der Krieg gegen die Sowjetunion, der vor 75 Jahren begann, war ein rassistisch, antislawisch und antisemitisch motivierter Weltanschauungs-, Vernichtungs- und Eroberungskrieg. Brutalität und Grausamkeit, mit der Vernichtungskrieg und Völkermord durchgeführt wurden, waren und sind beispiellos. Die Einzelheiten und Details entziehen sich fast jeder Vorstellung. Sie lassen selbst den Historiker, der mit den Quellen, den amtlichen Dokumenten ebenso wie mit den Berichten der Zeitzeugen, vertraut ist, immer wieder erschaudern. Die Wurzeln von Vernichtungskrieg und Völkermord lassen sich mindestens bis in die ersten Jahre der Weimarer Republik zurückverfolgen. Ihre große Breitenwirkung, die nicht nur fanatische Nationalsozialisten, sondern auch die Träger von Wehrmacht, Staat und Wirtschaft sowie zweifellos auch einen Großteil der deutschen Soldaten erfasste, lässt sich gerade aus dem Zusammenwirkung der in ihren Anfängen unterschiedlichen Ursachen erklären. Das furchtbare, spätestens nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 immer wieder durch die Propaganda eingeübte Amalgam von Antislawismus, Antisemitismus, Antibolschewismus und imperialen Eroberungs- und Herrschaftsplänen lieferte für jede Gruppe, jede Institution und jede Organisation des „Dritten Reiches“ die den jeweiligen entweder lange tradierten oder neu erzeugten Feindbildern gemäße Rechtfertigung zum geplanten Massenmord an Millionen von Menschen.
Für Hitler und die allermeisten seiner Anhänger, aber auch für einen Großteil der deutschnationalen Eliten in Staat, Wirtschaft und Wehrmacht galt schon lange das Dogma, dass Deutschland seinen Lebensraum im Osten suchen müsse. 1933, nur vier Tage nach dem Beginn seiner Kanzlerschaft, kündigt Hitler daher vor den höchsten Offizieren der Reichswehr die rücksichtslose Germanisierung des neu zu gewinnenden Lebensraumes im Osten an. Zuvor allerdings müsse er den „Marxismus“ in Deutschland ausrotten, was den Schluss nahe legt, dass die Ausrottung des Bolschewismus darauf unmittelbar folgen soll. Zur gleichen Zeit debattiert man in führenden Wirtschaftskreisen über die angeblich unendlich großen Chancen und Möglichkeiten eines deutschen Großwirtschaftsraumes, der sich vom Baltikum über die Ukraine bis in den Kaukasus erstrecken soll. Polen ist zunächst die Rolle eines Glacis zugedacht, von dessen Boden aus der entscheidende Kampf beginnen soll. Mit dem deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag 1934 verknüpft die NS-Diktatur die Hoffnung auf eine mit mehr oder wenig Druck erreichte einvernehmliche Lösung, um den Durch- und Aufmarsch der hochgerüsteten deutschen Armeen zu ermöglichen. Im Antikominternpakt will man alle anti-bolschewistischen Kräfte sammeln, um die Sowjetunion einzukreisen. Ein „Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus“ wird proklamiert. Bekanntlich scheitern diese Pläne, obwohl Frankreich und Großbritannien Hitler im Münchener Abkommen weit entgegen kommen. Deutschland vollzieht mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt eine taktische Kehrtwende, die alle Gegner Hitlers, sowohl im deutschen Widerstand als auch im Ausland, in tiefe Ratlosigkeit und Resignation stürzt.
Die Spitzen des NS-Regimes sind sich jedoch darin einig, dass die Realisierung ihrer Vorstellungen vom Lebensraum im Osten nur aufgeschoben und nicht aufgehoben ist. Schon im November 1939 deutet Hitler an, dass er eine große Operation gegen Rußland plane. Indes üben vor allem SS und Polizei im besetzten Polen bereits die Methoden des Vernichtungskrieges ein, vor allem polnische Intellektuelle, Militärs und Lehrer aber auch psychisch Kranke und Juden sind die Hauptopfer.

Die konkreten Vorbereitungen der Wehrmacht für den großen Ostkrieg setzen bereits im Frühsommer 1940 ein. Mit dem Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941, verfasst vom Chef des OKW Wilhelm Keitel, wird der Truppe weitgehend freie Hand bei Gewalttaten gegen Zivilisten gelassen, ein Freibrief für den Vernichtungskrieg.
Nach dem Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941, unterzeichnet von Alfred Jodl, gleichfalls OKW, sollen alle politischen Kommissare sofort hinter der Front ermordet werden. In den Bestimmungen des Befehls kommt die Vermischung von antijüdischen und antibolschwistischen Feindbildern, wie sie auch von der Wehrmacht geteilt werden, klar und deutlich zum Ausdruck. Etwa zur gleichen Zeit arbeiten Wissenschaftler der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft an gigantischen Plänen zur Besiedlung der durch Hunger, Massenmord und Vertreibungen leer gesäuberten neuen Siedlungsgebiete für deutsche Bauern und Kriegsgewinnler, von ca. 30 Millionen Opfern auf Seiten der sowjetischen Bevölkerung gehen die Wissenschaftler dabei aus. SS und Polizei bereiten sich darauf vor, im Rücken der Front eine schon in Polen eingeübte und noch zu steigernde Terrorherrschaft aufzubauen.

Die allumfassende Gewalt beginnt schon in den ersten Tagen nach dem Angriff. In Litauen verüben die Deutschen mit Unterstützung der örtlichen Bevölkerung die ersten Massaker an Juden. Schon im Sommer 1941 gehen diese vereinzelten Massaker in die Praxis der systematischen Judenvernichtung, den Holocaust, über. Zusammen mit den Juden werden, ohne dass es eines besonderen Befehls bedurft hätte, Roma sowie Kranke in psychiatrischen Anstalten und Pflegeheimen ermordet. Der Krieg gegen die SU beseitigt jegliche möglicherweise noch existierende Skrupel. Die unvergleichlichen Völkermordverbrechen beginnen zwar in der Sowjetunion, sie dehnen sich aber bald von dort auf das ganze besetzte Europa aus.
In den Kriegsgefangenlagern setzt die geplante Vernachlässigung der sowjetischen Soldaten ein mit der Folge, dass bis zum Ende des gleichen Jahres bereits etwa 1,4 Millionen Rotarmisten, das sind fast 60 Prozent aller sowjetischen Kriegsgefangenen, unter erbärmlichsten Bedingungen an Hunger und Seuchen sterben. Die dem Kommissarbefehl folgenden, vielfach willkürlichen Selektionen, die immer häufiger auch einfache Soldaten erfassen, führen auch schon im Juli zu ersten Massenmordaktionen. Am 1. September 1941, also nur 10 Wochen nach Kriegsbeginn, werden auch die reichsdeutschen Konzentrationslager zu Tatorten der Massenmorde an den sowjetischen Kriegsgefangenen. In der zentralen Verwaltung des KZ Terrors, im sogenannten T-Gebäude von Oranienburg, wird von den KZ-Kommandanten über die Tötungsmethoden an Zehntausenden Rotarmisten diskutiert. 13.000 von ihnen werden mit Hilfe einer Genickschußanlage, nur 30 Kilometer entfernt von hier im KZ Sachsenhausen innerhalb von zehn Wochen ermordet. Zur gleichen Zeit füllen sich die Massengräber, die neben den zahlreichen Stalags der Wehrmacht in der Nachbarschaft deutscher Städte und Dörfer ausgehoben werden.
Als sich im besetzten Hinterland nicht zuletzt aufgrund der großen Brutalität des Vernichtungskrieges der erste Widerstand regt, steigern sich auch die Anti-Partisanen-Aktionen zu einem massenhaften Gemetzel. Wir wissen bis heute nicht, wie viele Dörfer zusammen mit ihren Bewohnern, mit Kindern, Frauen und Männern, völlig zerstört, niedergebrannt und von der Landkarte getilgt werden. Sind es Hunderte, sind es Tausende? Vor allem in Weißrußland tobt der als Anti-Partisanenkampf verharmloste und bis in unsere Tage hinein als unvermeidliche Repressalie gerechtfertigte Vernichtungskrieg,
Gemäß den schon 1941 formulierten ausgearbeiteten Plänen, wie sie der Generalplan Ost oder der Kahlfraß- und Hungerplan von Staatssekretär Herbert Backe vorsehen, rauben die deutschen und die mit ihnen verbündeten Truppen der Bevölkerung in der SU nicht nur jegliche Lebensgrundlagen, sondern zerstören sie auch langfristig. Viele Privatbilder der Soldaten, die sie in die Heimat zurückschicken, zeigen die Männer unter den Stahlhelmen, wie sie lachend Schweine und Kühe aus den Ställen heraustreiben, wohl wissend, dass sie die Bauern und ihre Familien damit dem Hungertod überantworten. Das völlige Aushungern ganzer Städte, wie Leningrad, gehöre zum Monate zuvor kühl kalkulierten Schlacht- und Kriegsplan der Wehrmacht, wie Panzerangriffe und Luftterror. Besonders schwer betroffen von der Hungerpolitik sind u. a. die Städte in der Nordostukraine.

Nach dem Scheitern des Blitzkrieges vor Moskau im Winter 1941 erkennen die Spitzen von Staat, Wehrmacht, Partei und Wirtschaft, dass sie den Krieg nur weiter führend können, wenn sie Millionen von Zwangsarbeitern nach Deutschland verschleppen. Für viele Männer, Frauen und sogar Kinder, die die die systematischen Menschenjagden, veranstaltet u. a. von Beamten deutscher Arbeitsämter, überleben, bedeutet der Arbeitseinsatz jedoch keinesfalls, dass sich ihre Situation entscheidend verbessert. Die als Ostarbeiter stigmatisierten Menschen leben unter den Deutschen vielmehr wie Parias, erhalten kaum Nahrung und sterben auch weiterhin in großer Zahl an Misshandlungen, Hunger und Krankheiten und werden bei der geringsten Widersetzlichkeit an Ort und Stelle oder in Konzentrationslagern hingerichtet. Besonders schlimm ist z. B. die Situation der sowjetischen Kriegsgefangenen in den Kohlengruben des Ruhrgebietes, in denen Krupp und andere Unternehmer die Arbeitskräfte der Zwangsarbeiter bis zum Tod durch völlige Erschöpfung skrupellos auspressen. Das Leben eines „Russen“, wie man die vor sich hin taumelnden Skelette abfällig nennt, ist keines Aufhebens wert. So beteiligt sich nicht nur die Front, sondern auch die Heimat am Vernichtungskrieg.
Mit dem Vormarsch der Roten Armee und der sich abzeichnenden Niederlage des „Dritten Reiches“, das jetzt an allen Fronten harte militärische Abwehrkämpfe führt, sind nicht etwa die Massenmorde an den Zivilisten rückläufig, sondern sie steigern sich erneut. Die Politik der verbrannten Erde hinterlässt kein lebendiges Wesen mehr. Die Menschen werden vor den sich zurückziehenden Truppen her getrieben und, wenn sie den Rückzug behindern, ohne große Umstände getötet. Das unermessliche Ausmaß der Rückzugsverbrechen liegt weitgehend immer noch im Dunkeln. Die Sicherheitspolizei richtet eigene Sonderkommandos ein, um die über alle vorhandenen Massengräber auszuheben und die Leichen zu verbrennen.
Auch in Deutschland steigert sich die Politik der allgemeinen Lebensvernichtung immer mehr, je näher die Fronten rücken. Selbst wenn der Geschützdonner der alliierten Armeen schon zu hören ist, werden die Opfer zusammen getrieben und auf die unterschiedlichste Art und Weise grausam ermordet, so z. B. in Zuchthäusern und in den verschiedensten Lagern. Dabei fällt auf, dass neben den Juden vor allem die sogenannten Ostarbeiter als erste selektiert und getötet werden.

Es hat in Deutschland sehr lange gedauert, bis die schrecklichen Dimensionen des Vernichtungskrieges in der SU zumindest in groben Zügen anerkannt wurden. Eine Strafverfolgung fand wenn überhaupt dann ab dem Ende der fünfziger Jahre nur gegen SS- und Polizeieinheiten statt. Schon im Nürnberger Prozess hatte die Wehrmachtsführung alle Schuld auf Hitler, Himmler und seine SS-Einheiten geschoben. Trotz zahlloser Wehrmachtsverbrechen kam es vor deutschen Gerichten nur in ganz wenigen Ausnahmefällen zur Anklageerhebung gegen Offiziere und Soldaten. Die Lüge von der „sauberen Wehrmacht“ ermöglichte es vielmehr, dass jemand wie Adolf Heusinger, der für die Koordination des Anti-Partisanen-Kampfes zuständig gewesen war, zum ersten Generalinspekteur der Bundeswehr ernannt wurde. Zahlreiche Kasernen trugen noch in den achtziger und neunziger Jahren die Namen von ranghohen Wehrmachtsoffizieren, wie z. B. die in Füssen nach Generaloberst Eduard Dietl benannte Unterkunft der Bundeswehrsoldaten. Der von Hitler sehr geschätzte Wehrmachtsoffizier hatte sich aktiv an den Massenmorden im Rahmen des Kommissarbefehls beteiligt. Erst 1995 wurde die Kaserne gegen den heftigen Widerstand der Traditionsverbände umbenannt. Über viele Jahrzehnte wurden die geplanten und mit großer Grausamkeit begangenen Massenmorde und Verbrechen des Vernichtungskrieges gegen die SU entweder verharmlost oder relativiert, indem man auf die Übergriffe und Verbrechen von Soldaten der Roten Armee bei der Besetzung Deutschlands hinweist.
Zwar hat sich seit der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mitte der neunziger Jahre die Beurteilung des Vernichtungskrieges gegen die SU und insbesondere die Einschätzung der Rolle der Wehrmacht geändert, aber nach wie vor liegen die im Rahmen des Barbarossa-Feldzuges begangenen, heute hier nur in Ansätzen zu beschreibenden Verbrechen im Erinnerungsschatten, wie Bundespräsident Joachim Gauck im vorigen Jahr zurecht gesagt hat. Immer noch begegnet man nicht selten einer irritierenden Reserviertheit bei nicht wenigen Deutschen, wenn nicht sogar einer von starken Vorurteilen gegenüber Rußland geprägten Ablehnung, obwohl sich diese nur noch bei ganz wenigen Menschen mit eigenen möglicherweise schlimmem Erfahrungen begründen läßt. Daher ist es an der Zeit, nein es ist lange überfällig, dass endlich hier im Zentrum Berlins ein Gedenkort und ein Erinnerungszeichnen für die Millionen Opfer der geplanten Lebensvernichtung im Osten errichtet werden.
Hinweis auf Beschluss des Arbeitskreises I der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten auch deshalb den Schwerpunkt der Veranstaltungen in diesem Jahr auf die Erinnerung an die Millionen Opfer des Vernichtungskrieges gegen die SU zu legen. Bis Dezember werden mindestens 15 Veranstaltungen in den Berlin.-Brandenburgischen Gedenkstätten dazu stattfinden, Lesungen, Zeitzeugengespräche, Ausstellungen, Filmvorführungen und Gedenkveranstaltungen. Damit wollen die NS-Gedenkstätten die besondere Bedeutung dieses 75. Jahrestages würdigen.

Dank an:
– Kulturstaatsministerin für Finanzierung der Ausstellung
– An das Bezirksamt Mitte für die Erlaubnis die Ausstellung am Potsdamer Platz zu zeigen,
– An Frau Dagmar von Wilcken für die Gestaltung
– An Frau Breithoff, der Koordinatorin der Ausstellung

Roger Bordage, Président du Comitee international des Sachsenhausen, est décédé, 10.08.2017 Paris, Cimitière Père Lachaise

Chère Beatrice Bordage, chère famille, chèrs amis de Roger Bordage,

Le mémorial de Sachsenhausen et la fondation des memoriaux Brandenbourgoise pleurent notre président et notre ami Roger Bordage.

Roger Bordage était un ami exceptionnel qui avait accompagné de près le développement du Mémorial depuis les années 90. En sa qualité d’ancien fonctionnaire international de l’UNESCO il a, comme aucun autre, soutenu en particulier la signification internationale du Mémorial de Sachsenhausen et la culture allemande du souvenir en général. C’est principalement à son initiative que le Parlement européen a adopté en janvier 1993 une résolution qui fut novatrice pour les mémoriaux des camps de concentration en Allemagne. Il s’agissait, selon ce texte, de conserver les lieux authentiques et de se prémunir des confusions des diverses phases historiques. En tant que membre du Comité international de la Fondation Roger Bordage aidait toujours et par tous les moyens le Mémorial de Sachsenhausen. Pour ses mérites il fut promu Commandeur de la Légion d’honneur en 2014 et distingué également par la médaille du mérite du Land de Brandebourg.

À la fin de sa carrière professionnelle le survivant des camps s’engagea davantage dans l’Amicale française. Son expérience internationale, sa maitrise parfaite de l’espagnol et de l’anglais et ses connaissances politiques étaient d’un grand secours pour ses deux prédécesseurs à la présidence du Comité international Charles Désirat et Pierre Gouffault. Quand son vieil ami Pierre Gouffault mourut Roger Bordage fut élu Président du Comité international de Sachsenhausen par les différents présidents des comités nationaux de Sachsenhausen. Cette année encore, en avril, il a présidé avec brio la séance annuelle du Comité et animé entre autres la discussion avec la nouvelle secrétaire d’État du ministère de la Culture Dr. Gutheil. Ses excellents contacts avec les ambassadeurs étrangers à Berlin, et particulièrement avec les ambassadeurs de France, ont permis de mettre davantage en valeur aussi la signification du souvenir des crimes nazis. Au cours de l’été 2016 il accompagna, en fauteuil roulant, les ambassadeurs de France et d’Espagne lors d’une visite du Mémorial de Sachsenhausen malgré des températures de plus de 40 degrés. Bien que déjà marqué par sa grave maladie Roger Bordage est venu le 5 mai de cette année à la dernière réunion du Comité international. Il s’engagea surtout pour l’agrandissement du Mémorial de Lieberose et pour ces camarades juives.

Roger Bordage était un Européen convaincu qui s’inquiétait de la montée des mouvements nationalistes et de `droite´ non seulement en France. Cela ne le fit pourtant pas dévier de son fort optimisme historique et de sa grande confiance en la démocratie. Son conseil inspirait les autres présidents des associations internationales. Et pour moi Roger Bordage n’était pas qu’un précieux conseiller et interlocuteur mais également un ami auquel je pense avec chaleur et une immense gratitude. La Fondation des Mémoriaux du Brandebourg et le Mémorial de Sachsenhausen pleurent Roger Bordage, un grand ami, un ami sympathique, un interlocuteur qui inspirait, un soutien cosmopolite, généreux et doué d’une expérience internationale, un combattant fortement déterminé des mémoriaux et un conseiller fin politique, qu’elles ne pourront pas remercier suffisamment. Le Mémorial de Sachsenhausen continuera toujours d’honorer sa mémoire.

Permettez moi de parler à ma fin les derniere mots que je pouvai encore lui dire sur son lit de mort : we had togehter a strong fight to beware the memory of the victims of Sachsenhausen, but we succeeded at last. We both had a lot of interesting discussions since more than twenty years and I think we agree totaly in the future of the memorial. But also we laughed a lot togehter. I will say thank you very much for your friendship, for your support, for your inspiration, for your advice. It was for the memorial and for me a great luck, that you, our president was on our side to each time. We all love you !

Günter Morsch, 10. August 2017

Laudatio Reinhard Strecker 28. September 2017 im Auswärtigen Amt

Veranstaltung aus Anlass des 75. Jahrestages des „Generalplans Ost“ im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland am 28. September 2017
Laudatio zu Ehren von Herrn Reinhard Strecker
Günter Morsch
Sehr geehrter Herr Staatsminister Roth,
sehr geehrter, lieber Herr Strecker,
sehr geehrte Frau Strecker,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen und vor allem auch liebe Angehörige, Freundinnen und Freunde von Reinhard Strecker,
[Dank an AA]
Die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen sowie die Stiftung Topographie des Terrors haben gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland die heutige Veranstaltung aus Anlass des 75. Jahrestages des „Generalplan Ost“ organisiert und ausgerichtet. Ich danke zunächst Dr. Peter Jahn ganz herzlich für seinen wissenschaftlichen Vortrag, in dem er die Entstehung und Bedeutung dieses wichtigen und in der breiten Öffentlichkeit leider noch immer viel zu wenig bekannten „Drehbuchs des Vernichtungskrieges“ herausgearbeitet hat. Mit der heutigen Veranstaltung wollen wir aber auch Reinhard Strecker für seine zahlreichen Verdienste um die Erinnerungskultur in Deutschland und in Europa ehren. Die Idee, beide Anlässe miteinander zu verbinden, verdanken wir Matthias Burchard. Der an der Berliner Humboldtuniversität ausgebildete Diplomlandwirt hat mit seinem von ihm gegründeten „Verein zur Völkerverständigung mit Mittel-, Süd- und Osteuropa“ viel dazu beigetragen hat, dass dieser gigantische, von namhaften Wissenschaftlern ausgedachte und ausgearbeitete Genozid nicht in Vergessenheit gerät. Leider kann Herr Burchard aufgrund einer schweren Erkrankung heute nicht bei uns sein.
Wer jedoch das vielfältige Lebenswerk von Reinhard Stecker kennt, dem wird die Verbindung beider Anlässe sofort einleuchten. Denn im Wissen um die zahllosen Verbrechen des NS-Regimes an den aus rassistischen Gründen für minderwertig erachteten Slawen baute Strecker schon spätestens seit dem Ende der fünfziger Jahren zahlreiche Brücken der Verständigung und der menschlichen Beziehungen vor allem in Polen und in der Tschecheslowakei auf. So war es ihm auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gelungen, als Westdeutscher und West-Berliner über die Militärmission der Volksrepublik Polen in Deutschland Kontakt zu Professor Jerzy Sawicki aufzunehmen. Der damalige Generalstaatsanwalt und Chefankläger für alle polnischen NS-Verfahren leitete zugleich die Hauptkommission zur Ermittlung von NS-Verbrechen. Diese sammelte zehntausende von Dokumenten und anderen Unterlagen, die den seit dem 1. September 1939 geführten Vernichtungskrieg Deutschlands gegen das östliche Nachbarland dokumentieren. Hier und auch in anderen mittel- und osteuropäischen Archiven fand der hartnäckige und akribische Forscher viele der Beweise und Belege für die Verbrechen des NS-Regimes, die ihm die bundesdeutschen Archive und Institutionen über lange Jahre beharrlich verweigerten.
Weitere Verdienste um die Beziehungen zu den Staaten hinter dem Eisernen Vorhang erwarb sich Strecker als Mitinitiator der bis heute tätigen deutsch-polnischen Schulbuchkommission. Aus Vorträgen, die Strecker an der Evangelischen Akademie hielt, entstand ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Polen – ein Schauermärchen oder Gehirnwäsche für Generationen“. Darin wiesen die Autoren nach, dass in deutschen Schulbüchern nach wie vor das durch die rechtsradikale Propaganda von Vertriebenenverbänden bestimmte, verzerrte Polen-Bild des „Dritten Reiches“ weiter unter den Kindern und Jugendlichen verbreitet wurde. Zahlreiche Kontakte unterhalb der Regierungsebene zu polnischen Kollegen und Freunden ergaben sich daraus. Auch ein Einreiseverbot nach Polen, das in der Stimmung der damaligen Jahre gegen den vermeintlichen „zionistischen Agenten“ erlassen worden war, hielt den Mitbegründer der im Sozialistischen Studentenbund (SDS) 1959 an der Freien Universität Berlin entstandenen Deutsch-israelischen Studiengruppe nicht davon ab, dieser Kommission über viele Jahr treu zu bleiben und seine Arbeit der Völkerverständigung fortzusetzen.
In der Absicht, das für manche von Ihnen nicht sich selbst erklärende Konzept unserer Veranstaltung zu begründen, bin ich natürlich sowohl in der Biographie von Reinhard Strecker als auch, was die Entwicklung seiner vielfältigen Initiativen und Aktionen anbetrifft, zumindest chronologisch etwas vorausgeeilt. Doch obwohl es im Rahmen meiner Laudatio weder möglich noch sinnvoll ist, einen auch nur annäherungsweise vollständigen Überblick zu geben, will ich einige Stationen seines Lebensweges skizzieren: Der 1930 geborene Berliner stammt aus einer Juristenfamilie, was sicherlich zum Teil sein persönliches Interesse am Verhalten und der Einstellung der Richter und Staatsanwälte im „Dritten Reich“ erklärt. Darüber hinaus gehörte sein Vater zur Bekennenden Kirche und lehnte die Nationalsozialisten ab. Trotzdem trat Reinhard Strecker nicht in die Fußstapfen seines Großvaters und Vaters, sondern verließ schon bald nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und einer aufgrund der materiellen Entbehrungen schwierigen Übergangszeit Deutschland, um im Ausland, zuerst in Italien und danach in Frankreich, in Distanz zu dem nach wie vor im Schatten nationalsozialistischer Vergangenheit wieder aufgebauten Deutschland frei zu leben. „Es war eine sehr gute Zeit“, wie Reinhard Strecker in einem Interview sein Leben in Paris schilderte, „Die deutsche Angst war weg“ – die Furcht vor der nie vorhersehbaren Willkür.
Doch schon 1954 kehrte der damals 24 Jahre alte, nicht zuletzt vom französischen savoire vivre beeindruckte und überzeugte Europäer auf Wunsch seiner Eltern in ein Deutschland zurück, wo inzwischen unter Bundeskanzler Adenauer die alten Eliten immer unbefangener an die Schalthebel der Macht, in der Wirtschaft, im Staat und in der Gesellschaft, zurück gerufen wurden. Von Niedersachsen führte ihn sein Weg schon bald in seine Geburtsstadt, wo er an der gerade erst gegründeten Freien Universität das Studium der Judaistik begann. Inwieweit bei der Wahl des Studienfachs auch die Geschichte seiner Familie eine Rolle spielte, in der es auch berühmte jüdische Vorfahren gegeben hatte, darüber kann nur er selbst Auskunft geben. Jedenfalls war sich Strecker viel stärker als das bei der Mehrzahl seiner damaligen Kommilitonen der Fall war, der ungeheuren Dimensionen und der Singularität der Schoah, des Holocaust, des Völkermords an den Juden unter den zahlreichen Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten bewusst. Bis heute empfindet er deshalb mit Israel eine tiefe Verbundenheit. Das ist dann auch die Zeit, in der der junge Student begann, umfangreiches Material gegen bekannte NS-Verbrecher, die wieder in ihre alten Positionen und Stellungen eingerückt waren, zu suchen, auf eigene Kosten zu kopieren und zusammen zu tragen. Das führte zu einer hohen Verschuldung von Strecker, die er über Jahrzehnte zurückzahlen musste.
Im Jahr 1959 bündeln sich schließlich unterschiedliche von ihm initiierte, organisierte oder mit getragene Initiativen, die alle die Skandalisierung dieser unheilvollen personellen und strukturellen Kontinuitäten in der Bundesrepublik zum Ziel hatten. In zwei auf Initiative u. a. von Reinhard Strecker vom Konvent der FU Berlin beantragten Petitionen an den deutschen Bundestag verlangten mehr als 10.000 Studentinnen und Studenten die Überprüfung von NS-belasteten Juristen und Medizinern. In Frankfurt veranstaltete der SDS im Mai des Jahres einen Kongress „Für Demokratie – gegen Militarismus und Restauration“. Erstmals konnte er dort einen Teil seines von ihm und weiteren ca. 30 Studenten gesammelten Aktenmaterials ausbreiten. Schließlich gelang es ihm, die in jahrelanger intensiver und kostspieliger Vorarbeit zusammengetragenen und aufbereiteten in über 100 Heftern akribisch verzeichneten Personendokumente , die die Justizverbrechen zahlreicher ehemaliger NS-Richter, – Staatsanwälte und Justizbeamten zweifelsfrei bewiesen, in einer im November des Jahres eröffneten Ausstellung zu präsentieren. Die Stadt, in der die später an vielen in- und ausländischen Standorten gezeigte und bis heute bekannte Ausstellung mit dem Titel „ungesühnte Nazijustiz und NS-Medizin“ erstmals präsentiert wurde, war gezielt ausgewählt worden. In Karlsruhe befanden sich die beiden höchsten bundesdeutschen Gerichte, das Bundesverfassungsgericht sowie der Bundesgerichtshof. Allerdings musste die Ausstellung schon bald auf den Protest von Bonner Politikern hin von der Stadthalle in ein kleines Lokal mit dem Namen „Krokodil“, einem Treffpunkt Karlsruher Journalisten, verlegt werden, wo sie nur zeitweise gezeigt werden konnte. Zum großen Erfolg der Ausstellung trug sicherlich auch bei, dass nach der Eröffnung in der Stadthalle eine große, mehrere Stunden dauernde Pressekonferenz stattfand, an der auch Journalisten überregionaler Medien in großer Zahl teilnahmen. Mehrere, überwiegend positive Rezensionen der Ausstellung erschienen daraufhin bundesweit. Positiv sieht Strecker heute noch die Rolle, die seinerzeit Generalbundesanwalt Max Güde dabei einnahm. Güde, der 1933 gegen die Verhaftung und Ermordung eines sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten intern protestiert hatte, empfing den SDS-Aktivisten in seinen Karlsruher Amtsräumen und äußerte sich kritisch über die Durchsetzung der bundesdeutschen Justiz mit belasteten NS-Verbrechern.
Dass die von Strecker, dem SDS und anderen bewusst inszenierten Skandale zündeten und zu heftigen Gegenreaktionen bis hin zu persönlichen Angriffen führten, kann man nur verstehen auf dem Hintergrund der sich Ende der fünfziger Jahre immer deutlicher zeigenden Risse im Verschweigekartell des Adenauer-Staates. Denn im Rahmen des immer heftiger und schärfer tobenden Kalten Krieges entfachte die DDR eine Kampagne gegen die aus ihrer Sicht faschistoide Bundesrepublik, um die eigene Bevölkerung von der Massenflucht aus der kommunistischen Diktatur abzuhalten. Unter dem Druck der größtenteils unwiderlegbaren Dokumente über die Verstrickungen bundesdeutscher Eliten in die Verbrechen des „Dritten Reiches“, die auch von den westlichen Bündnispartnern in der NATO aufgegriffen wurden, begann die bundesdeutsche Justiz langsam wieder damit, Strafverfahren gegen NS-Täter vorzubereiten.
Der erste größere Prozess gegen SS-Mörder aus dem KZ Sachsenhausen fand 1958 in Bonn statt und erregte vergleichsweise große Aufmerksamkeit in den Medien und der Öffentlichkeit. Der etwa zur gleichen Zeit durchgeführte Ulmer Einsatzgruppenprozess gab schließlich den Anstoß zur Bildung der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Während einflussreiche Regierungspolitiker und Juristen eiligst an neuen Gesetzen zur Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen in den Hinterzimmern der Parlamente und Behörden arbeiteten, protestierten Neonazis auf ihre Weise gegen die ganz langsam sich entwickelnde „Wiederentdeckung“ der nazistischen Vergangenheit. Es kam zu hunderten von Anschlägen und Propagandadelikten, darunter auch auf die neu errichteten Synagogen in Köln, in Bonn und auch in Wien.
In dieser von heftigen politischen Debatten und Hasskampagnen geschaffenen, von Angst vor der Aufklärung und berechtigter Sorge vor einer Restauration nazistischer Gewalt geprägten, nervösen und konfrontativen Stimmung erreichte die Ausstellung „ungesühnte Nazijustiz“ eine in Medien und Öffentlichkeit bis dahin kaum zu erwartende Aufmerksamkeit. Strecker und seine Mitstreiter ließen dem unerwarteten Erfolg der Ausstellung im In- und Ausland schon bald Strafanzeigen gegen namentlich bekannte Nazijuristen folgen. In einer weiteren Publikation legte er Dokumente über den zur Symbolfigur personeller Kontinuität zwischen NS-Diktatur und Bundesrepublik stilisierten Chef des Kanzleramtes und Verfasser des maßgeblichen Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 Hans Globke vor. Die heftigen Gegenreaktionen aus Politik und Gesellschaft waren allerdings so stark, dass Strecker seine Kinder in das benachbarte Ausland bringen musste, um sie vor angedrohten Angriffen zu schützen.
Mit dem im bundesdeutschen Fernsehen teilweise übertragenen Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und dem von Fritz Bauer initiierten Auschwitz-Prozess begann sich die auf Abwehr, Unschuld und Verschweigen orientierte dominante Stimmung und Einstellung in einem kleinen Teil der Bevölkerung, vornehmlich in der jüngeren Generation, zu ändern. Zugleich wehrte sich nach wie vor die große Mehrheit des, wie es damals hieß, „Establishments“ gegen jegliche Formen der Aufarbeitung und Darstellung der nationalsozialistischen Verbrechen. In dieser gesellschaftlichen und kulturellen Krise der Vergangenheitspolitik der sechziger Jahre war es die sogenannte Studentenrevolte von 1968 die die Waagschale allmählich zugunsten der kritischen Aufarbeitung hinsinken ließ.
Reinhard Strecker hat jedoch die in dieser Zeit sich im akademischen Milieu ausbreitende vorwiegend marxistische Gesellschaftskritik, die, einem Diktum von Max Horkheimer folgend, über den Faschismus nur im Zusammenhang mit der Analyse kapitalistischer Strukturen reden wollte, zurecht nicht als Fortsetzung seiner eigenen Aufklärungsarbeit verstanden. „Mir ist allerdings zunächst wichtig zu betonen“, so führte er in einem Interview aus, „dass ich mit ‚1968‘ nichts zu tun habe, sondern mich eher als ‚58er‘ bezeichnen möchte. Vor allem habe ich den 68ern immer diese Banalisierung der NS-Vergangenheit übel genommen, die Gleichsetzung der Zustände vor ‚45 und nach ‚45.“ Tatsächlich standen im Vordergrund der Thematisierung des deutschen Faschismus durch die studentische und akademische Linke, wie der Nationalsozialismus damals bezeichnenderweise hieß, weniger die Opfer der Massenverbrechen als die vermeintlich entdeckten strukturellen Kontinuitäten. Die Verharmlosung des NS-Regimes erreichte ihren stärksten Ausdruck mit der Gleichsetzung des Vietnam-Krieges und der nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzüge. Trotzdem animierten die heute kaum noch verständlichen, reichlich abgehobenen akademischen Debatten z. B. über das Primat der Politik oder das Primat der Ökonomie im „Dritten Reich“ zweifellos auch eine wachsende Minderheit von jungen Menschen nicht nur in den Universitäten, sondern auch in Schulen und in Betrieben sowie vor allem auch in den Familien dazu, nach den nationalsozialistischen Wurzeln in ihrem Lebensalltag zu graben und zu forschen.
Gerade in dieser von Strecker selbst scharf formulierten Abgrenzung zwischen den 58igern und den 68igern werden Hauptmotive seiner auch in den darauf folgenden Jahrzehnten unermüdlichen Aufklärungsarbeit deutlich: ihm geht es vor allem um die Opfer des NS-Regimes, die über lange Jahre keine Gerechtigkeit erfahren haben, wohingegen die Täter fast ausnahmslos weder Reue empfanden noch für ihre Taten bestraft wurden. Tief gehende Empathie mit den Opfern und andauernde Empörung über den Skandal des Verschweigens und des Verharmlosens das – so scheint es mir – sind bis heute wichtige Motive seines Handelns und seiner Überzeugungen. Dafür ist es bezeichnend, dass er über viele Jahre als Referent des Goethe-Instituts die ausländischen Journalisten und Multiplikatoren immer wieder an die historischen Orte der NS-Verbrechen, so auch in die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen, führte. Er hat sich in dieser Zeit andauernder und intensiver Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen ein enzyklopädisches Wissen angeeignet, das immer wieder Staunen auslöst. Referenten, die wie ich häufig auf Veranstaltungen vortragen, kennen ihn als engagierten Diskussionsteilnehmer, dessen fundierte Beiträge – Fragen sind es weniger – immer auch die Sorge aufkommen lassen, bei Wissenslücken ertappt zu werden. Schließlich ist er auch ein unersetzbarer Zeitzeuge, der die Geschichtsschreibung über die Entwicklung der Vergangenheitspolitik und der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik und in der DDR mit seinem großen, m. E. nach wie vor unausgeschöpften Erfahrungsschatz nicht nur bereichert, sondern auf hohem Niveau reflektiert und kommentiert.

Die meisten von Ihnen, sehr geehrte Gäste, kennen inzwischen die etwas peinliche Situation, wenn Ausländer die heutige Erinnerungskultur in Deutschland loben und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätten ihre große Anerkennung aussprechen. Gelegentlich kann man inzwischen bereits von einer Art Aufarbeitungsstolz sprechen, der sich in bestimmten Kreisen vor allem der Regierungspolitik äußert. Dabei wird häufig vergessen, wie hart, mühselig, frustrierend, aufreibend und langwierig, der von vielen Skandalen und Rückschlägen geprägte Kampf um die Erinnerung über mehr als fünf Jahrzehnte in der Bundesrepublik war. Nicht wenige Engagierte sind wahrscheinlich daran zerbrochen oder haben große private Opfer gebracht. Letzteres gilt gerade auch für Reinhard Strecker. Besondere Bitternis bereiten daher dann neuere wissenschaftliche Studien, in denen behauptet wird, die wenigen Pioniere der Aufarbeitung der NS-Verbrechen hätten sich nicht ernsthaft mit den Tätern auseinandergesetzt, sondern lediglich die bequeme Identifikation mit den Opfern angestrebt. Dieser lange und harte Kampf um die Erinnerung droht über dem Lob vergessen zu werden. Man vergegenwärtige sich nur, dass die von Strecker schon Ende der fünfziger Jahre erhobene Forderung nach einer Überprüfung der personellen Kontinuitäten zwischen NS-Regime und Bundesrepublik erst mehr als fünfzig Jahre später erfolgt. Die inzwischen von nahezu allen Ministerien und staatlichen Einrichtungen in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Forschungen zur Frühgeschichte ihrer Einrichtungen in der Bundesrepublik, wohl erstmals auf Anregung des damaligen Außenministers Fischer für das Auswärtige Amt entstanden, kommen bezeichnenderweise zu einer Zeit, in der kaum noch Täter leben konnten.
In der Geschichtswissenschaft und in der Publizistik macht sich darüber hinaus eine Wiederbelebung der alten „Volksgemeinschaftsthese“ breit, deren Grundzüge nach 1945 die Hauptargumente für die Restauration der alten Eliten lieferten. Man habe, so argumentierten in den fünfziger und sechziger Jahren viele bundesdeutschen Politiker fast aller Parteien, keine andere Wahl, als die alten Nazis wieder einzustellen und ihre Karrieren weiter zu fördern. Da mehr oder weniger alle ehemalige Volksgenossen zur Mitarbeit in der NS-Diktatur gezwungen waren oder sich dazu bereit erklärte hatten, gäbe es, so wurde argumentiert, keine Alternativen, wolle man nicht die Funktionstüchtigkeit von Verwaltung, Wirtschaft und Justiz gefährden. Die aggressive Bedrohung der Bundesrepublik durch die kommunistischen Diktaturen jenseits des Eisernen Vorhangs ließ, so wurde auch gesagt, darüber hinaus keine andere Wahl zu. Als 1983 Herrmann Lübbe im Reichstag ausgerechnet auf einer Veranstaltung zum 50. Jahrestag der Machtübernahme, diese apologetischen Thesen der Vergangenheitspolitik in der Bundesrepublik erstmals wieder belebte, war der Protest unter den anwesenden Historikern noch sehr groß. Inzwischen jedoch scheint sich diese Behauptung, die den Umgang der Bundesrepublik mit den NS-Verbrechern als alternativlos hinstellt, zu einem von vielen Publizisten und Verfassern dickleibiger Werke über die Geschichte Deutschlands nach 1945 als einheitliche kanonische Sichtweise heraus gebildet zu haben. Aber trifft das wirklich zu? Musste z. B. das Bundeskriminalamt mit ehemaligen Gestapoleuten und Kommandeuren von SD-Einsatzgruppen aufgebaut werden? Mussten tatsächlich verantwortliche Massenmörder in den Bundesnachrichtendienst eingestellt werden. Gab es keine andere Möglichkeit, als die vieltausendfachen Krankenmörder der Euthanasieaktion zu Oberärzten und Leiter psychiatrischer Kliniken zu ernennen? War es unumgänglich, dass Richter und Staatsanwälte der NS-Justiz, die nahezu 30.000 Todesurteile gefällt hatten, als Land- oder Amtsgerichtsdirektoren ihre Karrieren fortsetzen konnten? Wenn tatsächlich der Aufbau der Bundesrepublik, von Demokratie und Rechtsstaat, ohne die Integration von Nationalsozialisten nicht möglich war, wird dann nicht der unter großen persönlich Opfern geführte Kampf von Reinhard Strecker und anderen um die Aufdeckung personeller Kontinuitäten zum Kampf gegen Windmühlen abgewertet? Dieser, wie mir scheint, neuen Art von akademischer Kollektivschuldthese, hinter der sich schon die Täter versteckten, gilt es m. E. nach wie vor den Satz des ehemaligen Buchenwald-Häftlings Eugen Kogon entgegen zu halten: „Wer alle unterschiedslos auf die Anklagebank setzt, setzt niemand auf die Anklagebank“. Das Maß an Verantwortung für staatliche Verbrechen leitet sich eben vor allem auch aus Funktion und Hierarchie ab. Nach diesem funktionalen Prinzip verfuhren auch die Alliierten in den Nürnberger Prozessen, wohingegen die bundesdeutsche Justiz die nur schwer feststellbare subjektive Einstellung zur Tat zum entscheidenden Kriterium der Schuldzumessung erhob.
Auf die inzwischen teilweise so hoch gelobte Erinnerungskultur in der Bundesrepublik kommt deshalb nach meiner Meinung wahrscheinlich jetzt eine entscheidende Bewährungsprobe zu. Dabei denke ich nicht nur an den Einzug von Demagogen in den Bundestag, die die soldatischen Leistungen der Wehrmacht gelobt haben wollen und den angeblichen deutschen Schuldkult bekämpfen. Ich bin mir darüber hinaus nicht sicher, welche Auswirkungen das Ende der Zeitzeugenschaft haben wird, waren es doch zu allererst die Opfer selbst die über viele Jahre allein das Gedenken an ihre ermordeten Kameradinnen und Kameraden wach hielten. Ebenso können der von Teilen des Auslandes bestärkte Aufarbeitungsstolz oder das wieder aus der Versenkung heraus geholte Rot = Braun-Theorem, mit dem Relativierung und Entkontextualisierung einher gehen, das Abgleiten der erkämpften Erinnerungskultur in einen leblosen ritualisierten Kanon von Strategien und Lehrsätzen staatlicher Politik bewirken. Bei allen Unterschieden zur rigiden Aufarbeitungsverweigerung der ersten Jahrzehnte in der Geschichte der Bundesrepublik, gibt es manche déja-vue- Erfahrungen ebenso wie völlig neue Herausforderungen Sie werden Deutschland in den nächsten Jahren auf die Probe stellen, wie ernst die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Diktatur auch in der Zukunft genommen wird.
Reinhard Strecker kann uns bei der Bewältigung dieser alten und neuen Herausforderungen in der Erinnerungspolitik ein Vorbild sein. Sie, lieber Herr Strecker, haben durch Ihre Zivilcourage, durch Ihre Beharrlichkeit, durch Ihre Empathie mit den Opfern, durch Ihren anhaltenden Zorn über die ungehinderten Karrieren der NS-Täter, durch Ihr enzyklopädisches Wissen und mit Ihren Mut gegen Mehrheitsmeinungen, gegen Schmutzkampagnen und Verleumdungen Ihren eingeschlagenen Weg beharrlich und über viele Jahre zu gehen, einen ganz wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass der viele Jahrzehnte dauernde Kampf um die Erinnerung in Deutschland schließlich in vielerlei Hinsicht erfolgreich war. Dafür sind wir alle Ihnen zu großem Dank verpflichtet.

Dank und Literaturhinweis

Ganz herzlich danke ich allen, die mir zu meinem 65. Geburtstag in Briefen, mit Karten, durch ihr persönliches Erscheinen und in Telefongesprächen gratuliert haben.

Ganz besonders habe ich mich über die Publikation „Vom Monument zur Erinnerung. 25 Jahre Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in 25 Objekten“ gefreut,  die zu meinem Geburtstag erschienen ist. Ich danke allen 27 Autoren für ihre interessanten und überaus lesenswerten Beiträge ebenso wie Ministerpräsident Dr. Dietmar Woidke und dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller für ihre Grußworte. Das Konzept der Publikation, die Geschichte zwischen 1939 und 2017 in Objekten zu erzählen, ist ebenso innovativ wie spannend. Ines Reich, die Leiterin unserer Gedenk- und Begegnungsstätte in der Leistikowstraße in Potsdam, von der das Konzept stammt, hat sich mit der ihr typischen Energie und Begeistungsfähigkeit der Mühe der Sammlung und der Herausgeberschaft der verschiedenen Beiträge unterzogen. Sie hat dazu auch eine sehr nachdenkenswerte Einleitung geschrieben. Dafür bin ich der ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Gedenkstätte Sachsenhausen, mit der zusammen ich u. a. das Museum zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers errichten und mit einer Dauerausstellung einrichten durfte, sehr dankbar. Der Förderverein der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen hat die Publikation finanziert und sein Vorsitzender Professor Dr. Jürgen Kocka ein Vorwort beigesteuert. Allen Mitgliedern unseres Fördervereins, der seit seiner Gründung ein wichtiger Unterstützer und kluger Ratgeber der Gedenkstätte ist, danke ich ebenso ganz herzlich. Die Publikation ist unter der ISBN-Nummer 978-3-86331-357-9 im Jahre 2017 in Berlin im „Hausverlag“ der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten bei Metropol erschienen. Dessen Verleger Friedrich Veitl und seine Mitarbeiterin Nicole Warmbold unterstützen die Gedenkstätte Sachsenhausen seit vielen Jahren tatkräftig und großzügig.

Die Publikation kann entweder über den Buchhandel oder aber im Buchladen der Gedenkstätte erworben werden. Seinen Mitgliedern bietet der Förderverein der Gedenkstätte die Festschrift zu einem Vorzugspreis an. Ggf. wenden Sie sich bitte direkt an den Förderverein der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen, Alle Adressen und Telefonnummern finden Sie im Internet

72. Jahrestag der Verlegung des sowjetischen Speziallager Nr. 7 nach Sachsenhausen

  1. Jahrestag der Errichtung des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 in Sachsenhausen

 

Begrüßung

 

Prof. Dr. Günter Morsch

 

 

Sehr geehrte Überlebende der sowjetischen Lager,

sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Gutheil,

Sehr geehrter Herr Krüger,

sehr geehrter Herr Ruczinski

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

 

 

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen begrüße ich Sie ganz herzlich zu unserer heutigen Gedenkveranstaltung aus Anlass des 72. Jahrestages der Errichtung des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 in Sachsenhausen. Wir freuen uns sehr, dass Sie erschienen sind, um gemeinsam mit uns an die Qualen und Leiden von etwa 60.000 Häftlingen zu erinnern, die zwischen 1945 und 1950 in den Baracken des Lagers von der sowjetischen Geheimpolizei eingesperrt worden waren. Ganz besonders herzlich begrüße ich unter ihnen die  Überlebenden der sowjetischen Speziallager und Gefängnisse, die trotz mancher Beschwernisse und gesundheitlicher Probleme teilweise von weither zum wiederholten Mal in die Gedenkstätte gekommen sind, um vor allem ihrer 12.000 verstorbenen Kameradinnen und Kameraden zu gedenken. Ich begrüße außerdem die Abgeordneten des Brandenburger Landtages, den Bürgermeister von Oranienburg Herrn Laesicke, die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur Frau Poppe,  die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur  Frau Dr. Kaminsky sowie die Vertreter und Mitglieder der verschiedenen Opferverbände der kommunistisch Verfolgten.

 

Am 16. August 1945, also vor etwa 72 Jahren, wies der Kommandant des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 in Weesow bei Werneuchen die verbliebenen etwa 5.000 Häftlinge an, zu Fuß über schmale Brandenburger Landstraßen und durch kleine Dörfer nach Oranienburg zu marschieren. Die seit Mai 1945 in fünf ehemaligen Bauernhöfen zusammen gepferchten Menschen waren schon nach wenigen Wochen ihrer Haft aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen völlig erschöpft und ausgezehrt. Nicht wenige von ihnen waren in den knapp vier Monaten seit seiner Einrichtung im Mai 1945 gestorben. So schleppten sich die Tausenden in lang gezogenen Marschkolonnen seit dem frühen Morgen des 16. August nur mühsam über die Pflasterstraßen in Richtung Oranienburg, das sie am Abend endlich erreichten. Die meisten Häftlinge, die unter den äußerst primitiven und menschenunwürdigen Bedingungen in den halb zerfallenen ehemaligen Bauernhäusern von Weesow gelitten hatten, empfanden die alten KZ- Holzbaracken, in die man sie nach ihrer Ankunft pferchte, zunächst eher als eine Verbesserung ihrer Lage. „Wir hatten nach wenigen Stunden der Anwesenheit in Sachsenhaus das Gefühl“, so schreibt die als BDM-Führerin inhaftierte Margarete Graßmann in ihren Erinnerungen1953, „der Hölle entkommen zu sein.“  Inwieweit ihr allerdings  bewusst war, dass in diesem Lager nur wenige Wochen, Monate und Jahre zuvor mehrere zehntausende KZ-Häftlinge durch die SS im Erschießungsgraben, an der Erschießungslatte, in der Gaskammer oder in den Baracken ermordet und zu Tode gefoltert worden waren, das erfahren wir leider nicht.

 

Doch dem ersten oberflächlichen Eindruck der Verschleppten folgte schnell die große Enttäuschung. Dem sowjetischen Geheimdienst war nämlich weniger an einer Änderung der katastrophalen Lebensbedingungen für die Häftlinge gelegen, sondern hauptsächlich an einer besseren Überwachung ihrer Gefangenen Denn aus dem hastig improvisierten Lager in Weesow waren nicht wenige geflüchtet. Die von den Nazis errichteten und fast bis zur Perfektion ausgebauten Sicherheitsanlagen der Konzentrationslager dagegen hatten auch in den Besatzungszonen der Westalliierten dazu geführt, dass fast alle ehemaligen KZ-‚s als Lager für Internierte und Verurteilte im Zuge der gemeinsam verabredeten Entnazifizierungsmaßnahmen weiter genutzt wurden. Dabei mag bei den Siegern des Zweiten Weltkrieges durchaus auch das von Gefühlen der moralischen Empörung  über die unvergleichlichen Verbrechen des „Dritten Reiches“ bestimmte Kalkül eine Rolle gespielt haben, Deutsche an den Orten des Terrors einzusperren, die sie selbst für ihre Feinde errichtet hatten.  Für die sowjetische Geheimpolizei aber waren solche Lager ohnehin nichts Besonderes und Außergewöhnliches , über deren Berechtigung es sich in ihren Augen nachzudenken lohnte. Viele der in blaue Uniformen gekleideten Soldaten und Offiziere des berüchtigten sowjetischen Geheimdienstes, so auch der Kommandant des sowjetischen Speziallagers Nr. 7, Alexei Kostjuchin, brachten ihre Erfahrungen aus den stalinistischen Lagern des GuLag, in denen Millionen von Menschen ihr Leben verloren hatten, mit in die sowjetisch besetzte Zone. Kalte Gleichgültigkeit gegenüber menschlichen Schicksalen war ein immanenter Bestandteil dieses Terrorsystems genauso wie blinder Gehorsam gegenüber den Befehlen Stalins und seiner Schergen.

 

Als sich in ganz Europa die kriegsbedingte Versorgungs- und Lebensmittelkrise immer mehr zuspitzte und der Hungerwinter 1946/47 viele Tausende von Toten auch unter der normalen Zivilbevölkerung in Deutschland forderte, während zugleich in dem durch die Nationalsozialisten mit ihrer Politik der verbrannten Erde verwüsteten Mittel- und Osteuropa  Millionen verstarben, breitete sich in den sowjetischen Lagern in der SBZ ein schockierendes Massensterben aus. Die stalinistische Bürokratie brauchte ein Vierteljahr, um auf  das schnelle Aussterben der Lager zu reagieren. Doch durch die in ganz kleinen Schritten verfügte Erhöhung der Rationen gelang es nur langsam, die Katastrophe

einzudämmen. Seuchen und Krankheiten, wie Tuberkulose und Ruhr,  grassierten weiter.  Es ist geradezu charakteristisch für die allgemeine Menschenfeindlichkeit der stalinistischen Herrscher, dass sie anders als die westlichen Alliierten ihre Gefangenen angesichts der Unmöglichkeit, sie in Lagern zu ernähren, nicht entließen, sondern ihre Unwilligkeit zynisch hinter neuen bürokratischen Regelungen versteckten. An der Situation der Häftlinge änderte sich daher zunächst nichts Grundlegendes, bis im Frühsommer 1948 die ersten Gefangenen entlassen wurden.  12.000 Häftlinge, vor allem ältere Männer aber auch Frauen sowie Jugendliche und sogar Kinder, das sind zwanzig Prozent aller Gefangenen des sowjetischen Speziallagers in Sachsenhausen, überlebten diese von Stalin und Geheimdienstchef  Berija persönlich und bewusst getroffene verbrecherischen Entscheidungen  nicht. Aber auch diejenigen, die das Massensterben überlebten, litten und leiden bis heute noch unter den Folgeerscheinungen der Haft. Die kommunistischen Machthaber in der Sowjetunion und in der DDR verweigerten darüber hinaus jahrzehntelang den Angehörigen genauere Informationen über das Schicksal ihrer Ehegatten, Väter, Mütter oder Kinder. Erst nach der deutschen Einheit konnten das Deutsche Rote Kreuz und die Gedenkstätte Sachsenhausen ihre Fragen nach Todesdaten und Sterbeursachen beantworten. Selbst heute noch erreichen die Gedenkstätte viele solcher Auskunftsersuchen.

 

Nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen konnten Überlebende und Angehörige endlich auch an die großen Gruben treten, wo die Toten nackt und zumeist ohne jegliches individuelle Kennzeichen hineingeworfen worden waren. Seitdem stehen wir jedes Jahr vor den drei Massengräbern, hier am ehemaligen Kommandantenhof, an der Düne sowie im Schmachtenhagener Forst. Dass wir dies seit vielen Jahren gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft sowjetisches Speziallager Sachsenhausen 1945-1950 tun, dafür bin ich allen Vereinsmitgliedern, insbesondere ihrem Vorsitzenden, Herrn Joachim Krüger, außerordentlich dankbar. Ich wünsche mir sehr, dass diese bewährte Gemeinsamkeiten im Trauern und im Gedenken auch in den nächsten Jahren weiter bestehen bleiben und wachsen.

Expertenanhörung Deutscher Bundestag Kulturausschuss 31. Mai 2017

Fachgespräch „Aufarbeitung der NS-Diktatur: Stärkung der NS-Gedenkstättenarbeit und Würdigung aller NS-Opfergruppen“

Bundestagsausschuss für Kultur und Medien, 31. Mai 2017

 

Prof. Dr. Günter Morsch, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und Leiter von Gedenkstäte und Museum Sachsenhausen

 

Ad Frage 1.-3.:

Die Entwicklung der NS-Gedenkstätten hat nach der deutschen Einheit eine nicht unbedingt vorhersehbare, sehr positive Entwicklung genommen. Damit hat sie in einem kaum zu überschätzenden Maße dazu beigetragen, dass der Prozess der Vereinigung trotz vieler, hauptsächlich historisch begründeter Bedenken allmählich auch im Ausland breite Zustimmung gefunden hat. Dies ist umso erstaunlicher, da die NS-Gedenkstätten in der Bonner Republik ganz überwiegend ein randständiges Dasein führten. Sie waren hauptsächlich zivilgesellschaftlich gegen enorme Widerstände erkämpft worden und mussten daher aufgrund weitgehend fehlender staatlicher Unterstützung ihre wichtige Arbeit zumeist ehrenamtlich organisieren. In der DDR dagegen waren die nationalen Mahn- und Gedenkstätten Instrumente des durch die SED einseitig definierten staatlichen Antifaschismus. Allerdings verfügten sie über wesentlich größere Potentiale als vergleichbare westdeutsche NS-Gedenkstätten. Die organisatorischen Strukturen der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR orientierten sich prinzipiell an den klassischen Aufgabenfeldern von Museen, auch wenn selbst diese den politischen Restriktionen der SED-Diktatur und der allgemeinen Mangelwirtschaft unterworfen waren.

Es ist in den neunziger Jahren weitgehend gelungen, die Vorteile beider Modelle miteinander zu verschmelzen. Die 1999 beschlossene und seitdem nur wenig veränderte Gedenkstättenkonzeption des Bundes sollte deshalb in ihren Grundprinzipien beibehalten und eher gestärkt werden. Folgende Grundsätze möchte ich daher herausstellen. Dabei verweise ich auch auf die Ethikcharta, die sich das International Comittee of Memorial Museums 2013 gegeben hat und die auch von der Task Force for international Cooperation on Holocaust Education übernommen wurde:

a)Staatliche Finanzierung einerseits und inhaltliche Autonomie der Gedenkstätten stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Das ist im Breich der Kultur nicht ungewöhnlich. Aber gerade wegen der großen außen- und innenpolitischen Bedeutung der Erinnerungskultur sind Politik und Verwaltung versucht, die inhaltliche Ausgestaltung der Gedenkstätten nicht nur dem freien Diskurs von Gedenkstättenpersonal,  Wissenschaft und Gesellschaft zu überlassen, sondern stärker in eine präsentistisch orientierte Zweckbestimmung einzubinden. Dem ist auf Dauer nur durch klare, strukturelle und organisatorische Regelungen zu begegnen, die die inhaltliche Autonomie der Gedenkstätten gegenüber staatlichen Eingriffen sichern.

b) Die dezentrale Struktur der NS-Gedenkstättenlandschaft ist Spiegel ihrer zivilgesellschaftlichen Fundierung und daher prinzipiell positiv zu bewerten. Doch es kann nicht übersehen werden, dass mit dem Generationenwechsel und dem Ende der Zeitzeugenschaft diese Basis nicht mehr überall aufrecht erhalten werden kann. Gleichzeitig nehmen die Herausforderungen an die Qualität der Gedenkstättenarbeit im internationalen Maßstab immer mehr zu. Wenn wir aber die dezentrale Gedenkstättenlandschaft grundsätzlich beibehalten wollen, dann kommen wir angesichts der weiter wachsenden Anforderungen nicht darum herum, bestimmte Gedenkstätten in bestimmten Aufgabenfeldern als Leiteinrichtungen zu stärken.

c) Institutionelle und projektbezogene Finanzierung der Gedenkstätten haben sich als Instrumente grundsätzlich bewährt. Allerdings sollte angesichts der historisch begründeten, stark ungleichen Verteilung von Gedenkstätten beider Diktaturen in den Bundesländern dringend ein finanzieller Ausgleich gefunden werden. Ich verweise dabei auf meine Ausführungen bei der letztmaligen Anhörung am 27. Januar d. J.

d) Das durch die beiden Enquete-Kommissionen sowie das Gedenkstättenkonzept festgeschriebene Konzept von Gedenkstätten als moderne zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben muss als Leitbild konsequent weiterentwickelt werden. Nach wie vor sind dafür die den Gedenkstätten zur Verfügung gestellten materiellen und personellen Ressourcen nicht ausreichend. Obwohl die Gedenkstätten jährlich Millionen von Besucherinnen und Besuchern verzeichnen, hinken sie den Standards großer vergleichbarer Museen immer noch hinterher. Die trotz aller anerkennungswerter Fortschritte prinzipiell defizitäre Ausstattung betrifft sowohl die sogenannte Hardware als auch die Software, also z. B. sowohl die Mittel zur Erhaltung der historischen Baurelikte als auch für ausreichende pädagogische Kapazitäten. Insbesondere gilt es die Durchdringung von Gedenkstättenarbeit und wissenschaftlicher Forschung auszubauen und auf Dauer zu sichern, wozu die Einrichtung einer der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vergleichbaren Förderinstitution wohl das beste Instrument wäre, da universitäre Forschung diese Anwendungs-bezogenen Forschungslücken nicht ausfüllt.

 

Zum zweiten Fragenkomplex verweise ich auf die ausführliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Dagmar Lieske, die die Ursachen und Gründe für die Leerstellen in der deutschen Erinnerungskultur hinsichtlich der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher ausführlich begründet und hergeleitet hat. In Ergänzung dazu rege ich an, künftig nur noch von Opfern sozialbiologischer und kriminalbiologischer Generalprävention des NS-Regimes zu sprechen. Da die historischen Begriffe selbst heute noch allzu sehr belastet sind, stigmatisieren sie in unzulässiger Weise diese Zehntausende von Menschen, die gleichwohl als Opfer des nationalsozialistischen Terrorsystems angesehen werden müssen.

Auch wenn die Grundzüge der nationalsozialistischen Politik gegenüber den Opfern sozialbiologischer und kriminalbiologischer Generalprävention inzwischen zum großen Teil bekannt sind, so besteht doch nach wie vor ein großer Forschungsbedarf hinsichtlich der genauen Zusammensetzung dieser beiden sehr heterogenen Gruppen, ihres konkreten Schicksals in den verschiedenen Haftstätten des NS-Terrorsystems und vor allem auch in Bezug auf die Nachkriegsgeschichte, in der die Diskriminierung nur allzu häufig fortbestand. Darunter leiden viele Familien der Opfer bis heute. Gerade die Gedenkstätten können mit Ausstellungen, Publikationen und pädagogischen Projekten viel tun, um die gesellschaftlichen Vorurteile und Tabus zu korrigieren und abzubauen. Ein kollektives, allgemeines, Gruppenbezogenes ehrendes Gedenken halte ich allerdings für die Opfer kriminalbiologischer Generalprävention derzeit nicht für möglich, wohl aber kann und sollte ihr Verfolgungsschicksal und das dadurch verursachte Leiden in der Darstellung von einzelnen Biographien herausgestellt und gewürdigt werden.

Obwohl in den vergangenen Jahren viele lange Zeit diskriminierte Opfergruppen gesellschaftliche Anerkennung gefunden haben, gibt es nach wie vor große Verfolgtengruppen, deren Schicksal, wie Bundespräsident Gauck formuliert hat, immer noch im Erinnerungsschatten liegt. Die weitaus größte und wichtigste vergessene bzw. verdrängte Gruppe von NS-Verfolgten sind m. E. die Opfer der Lebensvernichtung im Osten. Ich bin allen Fraktionen des deutschen Bundestages dankbar dafür, dass sie den vordringlichen Bedarf für die Errichtung eines Erinnerungszeichens an diese mehrere Millionen Menschen in Gesprächen mit den Initiatoren anerkannt haben und würde mir wünschen, dass noch dieser Bundestag die Weichen für die Realisierung stellt.