Belgische Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen 1940-45. Tag der Opfer des Nationalsozialismus 27. Januar 2016

 

TAG DER OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS

27.JANUAR 2016

 

 

BELGISCHE HÄFTLINGE IM KONZENTRATIONSLAGER SACHSENHAUSEN

1940-45

 

BEGRÜSSUNG UND EINFÜHRUNG

PROF. DR. GÜNTER MORSCH

 

 

 

Sehr geehrte Überlebende der Lager und Opfer des Nationalsozialismus

Sehr geehrte Frau Stark, Präsidentin des Brandenburger Landtages,

sehr geehrte Frau Schillhaneck, Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses

Sehr geehrte Frau Detaille, Gesandte  des Königreiches Belgien,

Herr Justizminister Dr. Markov,

Herr Staatssekretär Gorholt,

Sehr geehrter Herr Peeters,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen begrüße ich Sie ganz herzlich zu unserer heutigen Gedenkveranstaltung. 1996 hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog auf Anregung des unvergessenen Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, den Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz zum Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt. In dieser Proklamation heißt es: „Die Erinnerung darf nicht enden“, sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“

 

Inzwischen wird dieser Tag nach einem Beschluss der Vollversammlung der Vereinten Nationen in der ganzen Welt begangen. In Brandenburg richten die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und der Landtag diesen Tag seit seiner Einführung gemeinsam am authentischen Ort der Verbrechen aus, dort wo sich u. a. die Zentrale aller Konzentrationslager befand, in der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen. Dafür möchte ich Ihnen sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, dem Präsidium sowie allen Fraktionen des Brandenburgischen Landtages, die diesen Beschluss mittragen, ganz herzlich danken.

Es ist mir dabei eine große Freude, auch in diesem Jahr wieder die anwesenden Abgeordneten des Brandenburgischen Landtages sowie des Berliner Abgeordnetenhauses begrüßen zu dürfen. Ich begrüße ferner die Vertreter der Brandenburgischen Landesregierung und des Berliner Senats. Ich begrüße den Landrat des Kreises Oberhavel, den Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die Mitglieder des Kreistages sowie der Stadtverordnetenversammlung. Ganz besonders dankbar sind wir, dass erneut Angehörige und Repräsentanten ausländischer Botschaften und Mitglieder des diplomatischen Corps an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ich danke außerdem allen Vertretern der Parteien, der Gewerkschaften und der Wirtschaft, der Kirchen sowie der jüdischen Gemeinden. Ich begrüße die Vertreter von Hochschulen und Schulen sowie von Opferverbänden. Ganz besonders freuen wir uns auch über die Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler.

 

In der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen haben wir die Gedenkveranstaltung zum Tag der Opfer des Nationalsozialismus bisher immer einer speziellen Gruppe unter den zahlreichen Opfern des NS-Terrors im KZ Sachsenhausen gewidmet. Dabei ging und geht es uns zum einen darum, die große Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Gegner und Opfer des NS-Regimes deutlich werden zu lassen. Wir entsprechen damit vor allem auch dem Wunsch der Überlebenden, wie er immer wieder mit großem Nachdruck geäußert wurde. Zum anderen wollen wir den Anlass nutzen, um die besondere Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Gesellschaft auf Opfergruppen und historische Ereignisse zu lenken, die im Laufe der Jahre zumindest zeitweise aus dem Blick geraten sind, vergessen oder sogar verdrängt wurden oder für deren Auswahl es einen besonderen kalendarischen Anlass gibt.

 

Die Gedenkstätte Sachsenhausen hat sich in Abstimmung mit der Präsidentin des Brandenburgischen Landtages entschlossen, in diesem Jahr den Tag der Opfer des Nationalsozialismus den belgischen KZ-Häftlingen zu widmen. Ich freue mich daher sehr, unter uns die Angehörigen von Etienne van Ploeg, Louis Kiebooms und Prof. Dr. Florent Peeter willkommen zu heißen. Wir fühlen uns, verehrte Angehörige, durch Ihre Anwesenheit hoch geehrt und danken Ihnen ganz herzlich dafür, dass Sie aus Belgien hierhergekommen sind, um mit uns zusammen das Andenken an die belgischen Opfer des nationalsozialistischen Terrors im Konzentrationslager Sachsenhausen zu ehren.

 

 

Das Königreich Belgien gehörte wie schon im Ersten Weltkrieg zu einem der ersten Opfer des nationalsozialistischen Eroberungskrieges. Seine 1939 bei Beginn des Zweiten Weltkrieges erklärte Neutralität hinderte die Nationalsozialisten nicht daran, das im Vergleich zu Deutschland oder Frankreich relativ kleine Land gemeinsam mit Luxemburg und den Niederlanden militärisch zu unterwerfen. Als die deutschen Truppen am 10. Mai 1940 die Grenzen überschritten, erinnerten sich viele Einwohner des neuralen Königreiches sofort an das brutale Besatzungsregime, das das Deutsche Kaiserreich während des „Grande Guerre“ zwischen 1914 und 1918 dort errichtet hatte. Doch der Terror, mit dem die deutsche Militärverwaltung in der Zusammenarbeit mit Gestapo und SD Belgien überzog, war ungleich brutaler. Trotzdem war, darin ist sich die wissenschaftliche Literatur einig, die Erfahrung der Besatzungsherrschaft im Ersten Weltkrieg bei der Herausbildung des belgischen Widerstandes 25 Jahre später von entscheidender Bedeutung. Am 28. Mai, nach achtzehn Tagen militärischem Widerstand, kapitulierte der belgische König. Während das „Dritte Reich“ Teile Ostbelgiens, insbesondere in Eupen-Malmedy, annektierte, wurden die übrigen Teile zusammen mit zwei Départements Frankreichs unter Militärverwaltung gestellt. Obwohl auch in Belgien in den dreißiger Jahren faschistische, antisemitische und nationalistische Bewegungen erstarkt waren, entstanden die ersten Widerstandsbewegungen schon wenige Wochen danach. Sie kamen aus bürgerlich-patriotischem Milieu, aus dem Kreise monarchistischer Anhänger ebenso wie aus den Reihen der Sozialisten und Kommunisten. Französischsprachige Wallonen waren in den zunächst eher kleinen Widerstandsgruppen ebenso vertreten wie niederländisch sprechende Flamen und Angehörige deutsch sprechender Bevölkerungsteile, die die Annexion von Teilen Ostbelgiens ablehnten. Auch wenn es mehrere Versuche gab, den Widerstand zu einen, so blieb er bis zum Kriegsende ein sehr heterogenes Phänomen.

 

Im Laufe des Krieges wuchsen Opposition und Widerstand in Belgien immer mehr an, insbesondere nachdem die deutschen Besatzer im Herbst 1942 die allgemeine Arbeitspflicht einführten. Streiks und Arbeitsverweigerungen weiteten sich aus, auch gewaltsame Anschläge nahmen zu. Was vereinzelt begonnen hatte, weitete sich aus. Die Deutschen antworteten mit einer blutigen Repressionswelle.

 

Die Verfolgung der Juden sowie der Sinti und Roma setzte ebenfalls sofort nach der militärischen Niederlage des Königreiches ein. So wie die allermeisten westeuropäischen Juden wurden sie zunächst nicht in die Konzentrationslager verschleppt. Nach Stigmatisierung und Ausgrenzung mussten die Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns entweder direkt aus Sammellagern in Belgien, wie z. B. aus Mechelen, oder auf den Umweg über französische Internierungslager wie Gurs die Züge besteigen, die sie den großen Tatorten des Völkermordes vornehmlich in Polen zuführte. Erst als diese durch die Rote Armee befreit zu werden drohten, verschleppte die SS die wenigen überlebenden Juden sowie Roma und Sinti im Rahmen grausamer Todesmärsche auch in die Konzentrationslager des Altreiches, so eine bisher unbekannte Zahl belgischer Juden auch nach Sachsenhausen.

 

Ganz ähnlich wie die allgemeine Entwicklung des politischen Widerstandes in Belgien, so stellt sich auch der Verlauf der Einlieferungen belgischer Häftlinge in das KZ bei der Reichshauptstadt dar. Schon wenige Wochen nach der Kapitulation des Königreiches registrierte die Lagerverwaltung am 22. Juni 1940 die ersten 23 belgischen Bürger als sogenannte Neuzugänge; sechs weitere Belgier folgten im weiteren Verlauf des Jahres. Die meisten von ihnen waren unmittelbar nach der Besetzung von den Deutschen nach offenbar vorbereiteten Listen verhaftet worden. Das galt sicherlich auch für Henri Michel, den damaligen Chefredakteur der Zeitung „Grenz-Echo“ aus Eupen-Malmedy. In seiner deutschsprachigen Zeitung, die stark von der katholischen Kirche beeinflusst war, hatten er und seine Redakteure sich eindeutig und immer wieder gegen eine Angliederung Eupen-Malmedys an das Deutsche Reich ausgesprochen. Ähnlich wie er waren die 1940 nach Sachsenhausen über verschiedene Gefängnisse verschleppten Belgier, wie der Bürgermeister von Malmedy, Josef Werson, der Polizeikommissar von Eupen, Fritz Hennes sowie Leo Krafft aus Eupen, Josef Potelle aus Malmedy, Gemeindesekretär Herbert Rütten sowie der Heimatdichter Henri Bragard in erster Linie wegen ihres belgischen Patriotismus nach Sachsenhausen transportiert worden.

 

An dieser Einlieferungspraxis scheint sich auch in den beiden folgenden Jahren 1941 und 1942 wenig geändert zu haben. Die Anzahl der belgischen Häftlinge in Sachsenhausen blieb in dieser Zeit relativ klein, wahrscheinlich waren es insgesamt weniger als 50 Personen, die in der Masse der 10.-15.000 Häftlinge fast untergingen. Trotzdem scheinen sie sich nicht aus den Augen verloren zu haben, wie die Erinnerungen, die einige von den ersten belgischen Häftlingen schon bald nach ihrer Befreiung publizierten, vermuten lassen. Das lag nicht zuletzt daran, dass unter den Neuankömmlingen Persönlichkeiten waren, die den Zusammenhalt der wenigen, über das Lager verstreut inhaftierten Belgier stärkten. Dazu zählten sicherlich die beiden 1941 nach Sachsenhausen verschleppten katholischen Geistlichen, Pfarrer Maurice de Backer und Pater Jacques Magnée. Sie fielen den wenigen belgischen Landsleuten, die die sogenannten Neuen genau beobachteten, bei ihrer Einlieferung auf dem Appellplatz, auf dem die Konzentrationslager-SS die sogenannten Neuzugänge zumeist über viele Stunden stehen ließen und sie misshandelte, durch den Schnitt ihrer Soutane gleich als belgische Priester auf. Sie wurden zu heimlichen Seelsorgern der kleinen Gruppe belgischer Katholiken, bevor die SS sie, wie alle Geistlichen in das KZ Dachau weiter transportierte.

 

Ein ähnlicher, den Zusammenhalt der Belgier verstärkender Effekt bewirkte auch die Einlieferung von drei verantwortlichen Journalisten der flämisch-katholischen Zeitung „Gazet van Antwerpen, Dr. Louis Kiebooms, Alfred Somville und Verwaltungspräsident Joseph de Hasque. Bereits seit Januar 1941 befand sich außerdem der Publizist und Doktor der Philosophie Florent Peeters im KZ Sachsenhausen. Auch er war, wie die anderen genannten Personen, ein bekennender konservativer belgischer Patriot. Er konnte sich, wie die meisten anderen Genannten, in mehreren Sprachen gut verständigen und interessierte sich stark für Kultur, Theologie und Geschichte. Es kann nicht verwundern, dass die zumeist katholischen, patriotischen und intellektuellen belgischen Häftlinge trotz ihrer geringen Anzahl offenbar zueinander fanden, obwohl die SS sie zunächst auf unterschiedliche Kommandos verteilte. Der Hauptschriftleiter der heute noch erhältlichen Zeitung „Gazet von Antwerpen“, Louis Kiebooms, soll sogar, das berichtet Henri Michel, am 21. Juli 1941 auf einer Bank im Lager vor belgischen Häftlingen eine „Festansprache zum belgischen Nationalfeiertag“ gehalten haben. Er habe dabei, das stellt sein Kollege des „Grenz-Echos“ fest, keinen Unterschied zwischen Wallonen und Flamen gemacht. Umgekehrt würdigte Louis Kiebooms den verstorbenen Michel am 24 Juni 1976 in einer Grabrede mit folgenden Worten: „Während der gesamten Dauer unserer Gefangenschaft gehörte Henri Michel nicht nur zur Gemeinschaft der Belgier,…,  sondern auch zu einem engeren Kreis von Freunden, die durch vielerlei Bande miteinander verbunden waren….Er genoss früh das Vertrauen der gesamten internationalen Gemeinschaft von Sachsenhausen, die von den Häftlingen selbst organisiert und geleitet wurde… Dank seiner Hilfe und der vieler Belgier, die sich in einer vaterländischen Solidarität einander beistanden, konnten wir überleben.“

 

Mit der Zunahme von Repression und Terror durch die deutsche Besatzungsmacht sowie dem immer stärkeren Aufleben des Widerstandes nahmen 1943, 1944 und 1945 die Transporte von Belgiern nach Sachsenhausen enorm zu. Am 31. Dezember 1943 verzeichnete die Lagerverwaltung von Sachsenhausen bei einer Gesamtzahl von fast 29.000 Häftlingen bereits 185 Belgier, genau ein Jahr später notierte sie bei einer Verdoppelung der Anzahl aller Häftlinge eine Verzehnfachung der Belgier. Maßgeblich dafür waren vor allem drei größere sogenannte Sammeltransporte: im April 1944 kamen aus dem Strafgefangenlager der Justiz in Esterwegen zunächst 40 Belgier; im August und September 1944 verschleppte die SS auf Befehl der Oranienburger KZ-Inspektion etwa 1.100 belgische Häftlinge aus dem in Holland bei Vught liegenden Konzentrationslager Herzogenbusch nach Sachsenhausen und zwei Monate später, im November 1944 trieb die SS noch einmal mehr als 300 belgische Gefangene auf den Appellplatz. Letztere waren im letzten Augenblick bei Küstrin liegenden Zuchthaus Sonnenburg per Eisenbahn nach Oranienburg transportiert worden, wenige Wochen bevor im Januar 1945 dort mehr als 800 Justizgefangene von Polizisten und SS-Männern in einem Massaker grausam ermordet wurden.

 

Die Herkunft der Häftlinge, vor allem aus den Justizstrafanstalten Esterwegen und Sonnenburg, aber auch aus dem KZ Herzogenbusch, läßt erkennen, um welche Gruppe von Inhaftierten es sich bei der großen Mehrheit der Neuankömmlinge handelte, nämlich um sogenannte „Nacht- und Nebel-Gefangene. Diese politischen Gegner und Widerstandskämpfer ließ die deutsche Besatzungsmacht durch Sondergerichte verurteilen und verschleppte sie dann häufig, selbst bei Freisprüchen, in die Strafanstalten und Lager der Nazi-Justiz, ohne dass die Angehörigen auch nur den geringsten Hinweis über ihren Verbleib erhielten und daher lange Zeit mit quälender Ungewissheit auf ein Lebenszeichen warteten. Zwei Beispiele will ich nennen: Eugène Soumenkoff, geboren 1921 in Brüssel, wurde im Herbst 1941 wegen seiner Beteiligung an der belgischen Widerstandsbewegung verhaftet und im April 1942 zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde nicht vollstreckt und der Medizinstudent wurde anstatt dessen im Zuchthaus Sonnenburg inhaftiert. Dort betätigte er sich als Dolmetscher, wodurch er vielen seiner Kameraden helfen konnte. Am 14. November 1944 transportierte die SS ihn in das KZ Sachsenhausen, wo Soumenkoff, der nach dem Krieg als Arzt praktizierte, im Krankenrevier des Lagers vielen Häftlingen mit seinen medizinischen Kenntnissen helfen konnte. Leon Messein, geboren 1900 in Brüssel, schloss sich dagegen der französischen Widerstandsbewegung an und schleuste geflohene Kriegsgefangene in die nicht besetzte Zone Frankreichs. Die Gestapo verhaftete ihn 1943 und transportierte den Hotelbesitzer in das Zuchthaus Sonnenburg. Er kam mit dem gleichen Transport wie Soumenkoff nach Sachsenhausen, wo er während eines alliierten Bombardements umkam. Außer den N-N-Häftlingen verschleppten die Nazis auch weiterhin zahlreiche Belgier direkt nach Sachsenhausen. So erging es auch Etienne van Ploeg, der wegen Arbeitsverweigerung verhaftet worden war.  Die allermeisten belgischen N-N-Häftlinge, insbesondere die aus dem aufgelösten KZ Herzogenbusch, überstellte die Lagerverwaltung in das Außenlager Heinkel, wo sie Zwangsarbeit beim Bau von Bomben- und Jagdflugzeugen leisten mussten.

 

Zur gleichen Zeit, im Spätherbst 1944, und verstärkt Anfang 1945, müssen auch belgische Juden sowie Roma und Sinti in den weit gespannten KZ-Kosmos von Sachsenhausen gelangt sein. Sie kamen zumeist auf Todesmärschen aus den aufgelösten Vernichtungslagern des Ostens oder aus anderen Zwischenlagern, wie Buchenwald, und wurden häufig auf Außenlager des KZ Sachsenhausen verteilt. Leider wissen wir über diese Gruppe von Häftlingen kaum etwas, da die Lagerverwaltung es nicht für erforderlich hielt, die überlebenden Opfer der rassistischen Vernichtungspolitik des „Dritten Reiches“ namentlich zu erfassen. Etwas anders verfuhr die SS dagegen mit den insgesamt ca. 20.000 Häftlingsfrauen der KZ-Kommandos und -Außenlager, die zunehmend ab 1944 auch Sachsenhausen unterstellt wurden. Leider sind die Unterlagen der zahlreichen Frauenkommandos, von Auer in Oranienburg, über Siemens in Berlin bis zu Pertrix in Schöneweide, gleichfalls verloren gegangen. Wir kennen aber aus dem allerdings nur sehr unvollständigen Totenbuch immerhin die Namen von 23 Belgierinnen, die Sachsenhausen nicht überlebten. Wenige Wochen vor der Befreiung trafen schließlich im Februar 1945 zwei große Transporte mit jeweils ca. 130 Belgiern aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Mauthausen ein. Inwieweit in diesen Häftlingsverschiebungen von einem KZ zum anderen, die in der Endphase nicht untypisch waren, besondere Gruppen von belgischen Häftlingen waren, können wir jedoch derzeit nicht sagen.

 

Schon mit den zunehmenden Transporten 1943 kamen vermehrt auch Belgier, die aus den Widerstandsorganisationen der belgischen Arbeiterbewegung stammten. Darunter befanden sich z. B. der Sozialist Gaston Hoyaux sowie der Kommunist Xavier Relecom. Während Hoyaux bis 1938 Bürgermeister einer flandrischen Kleinstadt war, gehörte Relecom als Generalsekretär in Brüssel zum Führungskreis der kommunistischen Widerstandsbewegung. Das größte Aufsehen nicht nur unter den belgischen Häftlingen erregte die Inhaftierung des ehemaligen belgischen Ministers für Arbeit Arthur Vanderpoorten. Der knapp sechzigjährige liberale Politiker kam in einem sehr schlechten Gesundheitszustand im September 1943 nach Sachsenhausen. Die Lager-SS wies ihn in das Krankenrevier ein, wo ihn Häftlingsärzte langsam gesund pflegten. Auch Vanderpoorten gehörte zu den N-N-Häftlingen und durfte daher weder Briefe schreiben noch Pakete empfangen. Es mag sein, dass der selbstbewusste und politisch ungebrochene ehemalige Minister mehr und mehr Belgier, unter ihnen vor allem die Intellektuellen, Journalisten, Schriftsteller und Ärzte, um sich herum im Krankenrevier versammelte. Auf diese Weise wurde das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen, wie Florent Peeters in seinen Erinnerungen schreibt, immer mehr zu einer Art „belgischer Kolonie“. In den Krankenbaracken, in die sich die SS aus Angst vor Ansteckungsgefahr nur selten hinein traute, entstand auf diese Weise um Vanderpoorten herum ein kleiner politischer Diskussionszirkel, dem sich gelegentlich auch der im Krankenrevier inhaftierte spanische Ministerpräsident Largo Caballero sowie dort ebenfalls gefangene ehemalige holländische Wirtschaftsminister Timotheus Verschuur anschlossen.

 

Im Januar 1945 begann die Konzentrationslager-SS mit Vorbereitungen zur Evakuierung des Lagers. Vor allem das Krankenrevier war ein bevorzugter Ort der Selektionen durch die SS-Ärzte, die einen Teil der Kranken entweder direkt in den speziellen Tötungseinrichtungen Sachsenhausens ermordeten oder aber auf die Transportliste nach dem Sterbelager Bergen-Belsen setzten, wo sie, wie Arthur Vanderpoorten und nicht wenige andere Belgier, noch kurz vor der Befreiung den Tod fanden. Die belgische Gruppe jedoch scheint auch nach den Selektionen im Wesentlichen ihren Zusammenhalt bewahrt zu haben. Sie bereitete sich auf den Ausmarsch aus dem Lager vor, der am 21. April begann. Um 17.00 Uhr marschierte auch ein Block von 500 überwiegend belgischen Häftlingen aus dem Lager und ging auf den Todesmarsch, auf dem sie sich gegenseitig stützten und halfen. Darüber berichtet Georges Odou in seinen Erinnerungen wie folgt: „Von nun an beobachteten wir immer häufiger, dass der Zugführer alle diejenigen per Genickschuss tötete, die zurückblieben, weil sie dem Marschtempo nicht mehr folgen konnten. Ich hatte Glück, dass ich in guter körperlicher Verfassung war, mich zudem zwischen den Belgiern Relecom und Dubocq befand. Wir stützten und unterstützten uns gegenseitig so gut es ging.“  Der junge, in Brüssel geborene Arzt Dr. Michel Goffart, der als Nacht- und Nebel-Häftling im Juni 1944 nach Sachsenhausen kam und dort im Krankenrevier als Häftlingsarzt arbeitete, begründet diesen Zusammenhalt in seinen 1948 erschienen Erinnerungen auf ganz unprätentiöse Weise, wie folgt: Durch den engen Kontakt im Lager mit den vielen anderen Nationen haben die belgischen Häftlinge gelernt, dass sie trotz der unterschiedlichen Sprachen, die sie trennte, einfach nur Belgier waren und sich dadurch näher standen als zu den Holländern oder zu den Franzosen.

 

Den Zusammenhalt auch nach der Befreiung aus den Lagern nicht zu verlieren, das mag einer der entscheidenden Gründe dafür gewesen sein, warum die belgischen Überlebenden schon im September 1945, viel früher als andere Nationen, die „Amicale Nationale des Prisonniers Politique de Sachsenhausen-Oranienburg“ als eingetragenen Verein gründeten. Unter den Gründungsmitgliedern sowie im Vorstand der Vereinigung waren alle politischen Richtungen des belgischen Widerstandes und auch alle Sprachengruppen vertreten. In einer Broschüre, die KZ-Überlebende 1954 publizierten, verlegten sie sogar das Gründungsdatum ihrer Organisation auf den Herbst 1944. Die Amicale, so führten sie darin aus, entstand im Konzentrationslager als illegales Komitee, gegründet von acht Belgiern, die verschiedenen politischen Richtungen angehörten. Denn ein großes Konzentrationslager, so heißt es dort weiter, ist eine Gemeinschaft von kriegführenden Staaten. Belgien war in Sachsenhausen einer dieser Staaten. In nahezu allen der schon früh erschienenen Erinnerungsschriften belgischer Überlebender kommt der ernste Wille zum Ausdruck, aus den Erfahrungen im Konzentrationslager für die politische Zukunft nicht nur Belgiens, sondern ganz Europas zu lernen. Der Sozialist Gaston Hoyeaux, den die SS im letzten Kriegsjahr von Sachsenhausen nach Buchenwald , das anders als Sachsenhausen schon am 11. April befreit wurde, verschleppt hatte, nahm bereits am 24. April 1945 an einer Gedenkfeier zu Ehren der Opfer des Nationalsozialismus in Belgien teil. Zu einer Zeit, als seine Sachsenhausener Kameraden noch auf dem Todesmarsch um ihr Leben fürchten mussten, appellierte er in einer sehr bewegenden und bis heute aktuellen Rede, die ich deshalb im Original zitieren will, mit folgenden Worten an alle Bürger Europas: „Là bas, dans les camps de concentration, nous nous disions: si nous rentrons au pays, nous continuerons à lutter pour la défense des institutions démocratique, pour la défense de la démocratie, car pour nous la démocratie n’est pas seulement un ensemble des textes. La démocratie, c’est la foi d’un peuple qui croit aux liberté et qui les applique dans toutes les circonstances.”

 

Bevor ich nun das Wort an Sie, sehr geehrte Frau Gesandte Detaille, übergebe, möchte ich Ihnen, liebe Angehörige der Familien Kiebooms, Peeters und van Ploeg, ganz herzlich dafür danken, dass Sie wertvolle Teile des Nachlasses Ihrer Familie der Gedenkstätte übergeben haben. Ein Teil davon zeigen wir in der heute im Zusammenhang mit unserer Gedenkveranstaltung eröffneten und im Eingangsbereich unseres Versammlungsraumes präsentierten Sonderausstellung. Danken möchte ich dafür auch unserer Mitarbeiterin Agnes Ohm, die nicht nur zusammen mit den Kolleginnen und den Kollegen aus den Abteilungen „Sammlung“ und „Technik“ der Gedenkstätte die Ausstellung konzipiert und realisiert hat. Sie hat auch die heutige Veranstaltung organisiert, zu der nach unseren Reden der Schauspieler Tilmar Kuhn sowie der Musiker Jaspar Libuda ein Arrangement aus Texten von belgischen Überlebenden, Bildern Etienne van Ploegs und Eigenkompositionen vortragen werden. Auch ihnen danke ich schon jetzt ganz herzlich.

 

Im KZ Sachsenhausen waren, meine sehr geehrten Damen und Herren, zwischen 1940 und 1945 mehr als 2.200 Belgier inhaftiert. In dem aufgrund von Aktenvernichtungen durch die SS unvollständigen Totenbuch der Gedenkstätte finden sich die Namen von 193 Belgiern, die die vielfältigen Torturen des Konzentrationslagers nicht überlebten. Einen Teil der Namen werden später an der „Station Z“ von Schülerinnen und Schülern des Berliner Alexander von Humboldt-Gymnasiums verlesen.  Ihrer wollen wir heute, am Tag der Opfer des Nationalsozialismus,  ganz besonders gedenken.

„Jetzt kommt die Nagelprobe“ Interview ND

»Jetzt kommt die Nagelprobe«

 

Günter Morsch, Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, über die Erinnerung ohne Zeitzeugen

 

 

Professor Morsch, was wird aus der Erinnerung an die Nazidiktatur und den Widerstand gegen sie, wenn es es keine Zeitzeugen mehr gibt, die Auskunft geben können?

 

Die Gedenkstätten haben sich darauf schon seit geraumer Zeit eingestellt. Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre haben wir uns darauf in vielfältiger Weise vorbereitet. Zum einen durch aufwendige Oral-History-Projekte. Tausende Zeitzeugen sind befragt worden. Zum anderen durch die systematische Sammlung von Nachlässen aller Art, die konservatorisch korrekt aufbewahrt und sukzessive akribisch erschlossen werden. Archive wurden angelegt; das betraf weniger die Gedenkstätten in den neuen Bundesländern, denn da waren solche bereits vorhanden, sondern vielmehr die Gedenkstätten in den alten Bundesländern. Und drittens wurde mit einer intensiven Erforschung der Geschichte der Konzentrationslager begonnen. Denn bis dato haben sich die professionellen Historiker – und das gilt für beiden deutschen Staaten sowie die internationale Community – gar nicht oder wenig um die Konzentrationslager gekümmert. Deren Geschichte haben sie lange Zeit den Zeitzeugen allein überlassen, beispielsweise einem Eugen Kogon.

 

Aber es erschienen doch schon in der zeit deutscher Zweitstaatlichkeit wissenschaftliche Monografien über das KZ-System?

 

Sie blieben vereinzelte Ausnahmen. Die universitäre Geschichtswissenschaft ist erst durch selbstbewusste Gedenkstätten herausgefordert worden, die ab Mitte der 1990er Jahre eigene Studien betrieben, und dies sehr erfolgreich. Um ein Beispiel zu nennen: Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätte hat in ihren Publikationsreihen bis dato 70 Bände publiziert, darin ein riesiger Forschungsertrag.

Der vierte Pfeiler ist die pädagogische Arbeit. Und da muss man sagen, waren die westdeutschen Gedenkstätten in den 1980er Jahren schon weiter entwickelt als die ostdeutschen. Daran konnte man anknüpfen. Und auch hier galt es, eine Pädagogik zu entwickeln, die ohne Zeitzeugen auskommen müssen.

 

Es gibt ein geflügeltes Wort, vom Antisemitismusforscher Wolfgang Benz geprägt, aber meines Erachtens eher scherzhaft und nicht in bieder-ernster Art, wie von einigen Publizisten gebraucht: »Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers.« Ohne jene, die es erlebten und erlitten, wüssten wir eigentlich nichts. Oder würden der Sicht der Täter auf den Leim gehen.

 

Zweifellos: Zeitzeugen sind nicht zu ersetzen und bleiben unersetzbar. Es gibt aber auch Gedenkstätten, die schon immer ohne Zeitzeugen auskommen mussten. Denken Sie an die Euthanasie-Gedenkstätten; das T 4-Mordprogramm hat keiner überlebt, nur die Täter. Da wurden also schon Methoden entwickelt, wie man pädagogisch ohne Zeitzeugen arbeiten kann. Kurzum: Wir sind schon seit Längerem darauf eingestellt, unseren humanitären Aufgaben als Gedenkstätte – Aufklärung, Erinnerung, Mahnung und Bewahrung – auch ohne Zeitzeugen wahrzunehmen. Die Frage geht also nicht zuerst an die Gedenkstätten, sondern eher an die Gesellschaft. Und da mache ich mir auch Sorgen.

 

Inwiefern?

 

Der Paradigmenwechsel in den 1990er Jahren kam ja nicht von selbst. Viele im Ausland waren aufgrund der Geschichte, insbesondere des Zweiten Weltkrieges, gegenüber der deutschen Einheit sehr skeptisch eingestellt, denken Sie an François Mitterrand, an Margret Thatcher, an Polen, Russen oder Israelis. Bundeskanzler Helmut Kohl war das klar, und nicht nur ihm: Das vereinte Deutschland einen offenen und ehrlichen Umgang mit seiner Geschichte beweisen und das Vertrauen im Ausland dafür schaffen, dass der Terror, mit dem das „Dritte Reich“ fast ganz Europa überzog auch in der Zukunft Teil deutscher Identitäten bleibt. Insofern waren die Gedenkstätten auch außenpolitisch bedeutsam, um dieses Vertrauen zu schaffen.

Nicht zuletzt deshalb wurden daraufhin die großen NS-Gedenkstätten, was in der alten Bundesrepublik bis dahin nicht geschehen war, institutionell gefördert, zunächst jene im Osten, dann auch im Westen. Der Grund: Man hat erkannt, wie wichtig moderne, international anerkannte Gedenkstätten sind, um das Ausland zu überzeugen, dass dieses neue Deutschland, die Berliner Republik, wie man damals sagte, die Vergangenheit nicht vergisst. Auch auf Dauer nicht vergisst. Die Gedenkstätten sind von marginalen Rändern, in denen sie sich in der alten Bundesrepublik befanden, inzwischen in die Mitte der Gesellschaft gerückt.

 

Sie meinen, das heutige Deutschland ist zugepflastert mit Gedenkstätten?

 

Nein, das meine ich nicht. Was ich befürchte ist: Politik könnte die Gedenkstätten mitunter als Foren nutzen, um tagespolitische Ziele zu verfolgen.

 

Geschichte wird instrumentalisiert.

 

Diese Entwicklung, die man vor allem bereits in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern beobachten kann, halte ich für ein großes Problem,  Dagegen müssen wir Dämme bauen. Die mittlerweile auch schon fünf Jahre alte Ethik-Charta des International Committee of Memorial Sites (ICMemo), der internationalen Gedenkstätten, war schon eine Reaktion darauf. Für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die weitere Erhaltung der historischen Orte des Terrors in Deutschland kommt erst jetzt die Bewährungsprobe. Wenn es den außenpolitischen Druck nicht mehr gibt, den bisher vor allem die internationalen Überlebendenverbände organisiert haben, wird sich zeigen, ob Deutschland seine Geschichte wirklich angenommen hat.

 

Was verstehen Sie unter Druck? Die Karikaturen in polnischer oder griechischer Presse, die deutsche Politiker in SA- oder SS-Uniformen zeigen?

 

Nein, diese sind nur unpassend und geschmacklos. Ihre Unangemessenheit entlarvt sich, wenn man sich den gegenwärtigen Stand deutscher Erinnerungskultur anschaut. Wir begrüßen in Sachsenhausen oft auch viele diplomatische Vertreter des Auslandes. Und da bekommt die deutsche Erinnerungskultur häufig viel Lob. Wobei man vergisst, dass es lange Jahre große Lücken und heftige Widerstände gegen die Erinnerung an den NS-Terror gab.

 

Welchen Druck meinen Sie dann? Den seitens ehemaliger KZ-Häftlingen und Zwangsarbeiter, die dank vor allem der US-amerikanischen Presse Mitte der 1990er Jahre deutsche Konzerne zwangen, sich endlich ihrer braunen Vergangenheit zu stellen und in einen Entschädigungsfonds einzuzahlen?

 

Das ist wieder ein anderes Thema. Mir geht es um eine außenpolitische Problemlage. Man hört ja momentan immer wieder: Die Deutschen sollten endlich ihre Fixierung auf die NS-Vergangenheit ablegen und europäische oder gar weltpolitische Verantwortung auch militärisch mittragen. In Büchern von wissenschaftlichen Beratern der Bundesregierung kann man lesen, Deutschland sei der neue Hegomon Europas. Da scheint also etwas umgeschlagen zu sein. Deshalb sage ich: Jetzt wird es sich zeigen, wie stark die deutsche Gesellschaft die Erinnerung an den Nationalsozialismus internalisiert hat. Jetzt kommt die Nagelprobe. Wie werden sehen, wie sich die Erinnerungskultur in Deutschland weiter entwickelt.

 

Haben Sie eine Vermutung?

 

Es gibt Anzeichen, die einen positiv stimmen, zweifelsohne. Kürzlich fand im Bundestag wieder eine Anhörung zur Evaluierung der 1999 beschlossenen und seitdem immer wieder bestätigten Gedenkstättenkonzeption des Bundes statt. Es scheint momentan niemanden zu geben, der die Notwendigkeit einer Fortsetzung in Zweifel ziehen will. Aber mittelfristig bin ich mir nicht so sicher. Denn diese historischen Orte, an denen negative Geschichte gelehrt werden muss, erfordern einen konstant hohen Aufwand, personell und finanziell, um das international anerkannte, hohe Niveau von historischer Forschung, moderner Ausstellungen und anspruchsvoller Pädagogik halten zu können.

Wir zählen in Sachsenhausen inzwischen jährlich 660 000 Besucher; als ich 1993 angefangen habe, waren es 168 000. Im gleichen Zeitraum aber ist das Personal um ca. 20 Prozent reduziert worden. Die Ansprüche an die Gedenkstätten sind nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ enorm angewachsen. Der Erfolg wurde, wenn Sie so wollen, zum Handicap. Zwar wurde allgemein anerkannt, dass Gedenkstätten heute moderne zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben sind. Doch der auch von der Gedenkstättenkonzeption des Bundes proklamierte Wandel ist teilweise auf der langen Wegstrecke stecken geblieben.

 

Weil die meisten Gelder in Gedenkorte und Museen zur »zweiten deutschen Diktatur« fließen?

 

Ganz so ist es nun auch wieder nicht. Ich komme persönlich aus dem Museumsbereich und war in einem Industriemuseum, was hinsichtlich vieler Aspekte durchaus vergleichbar ist. Es gibt denkmalgeschützte Originalgebäude, die man mit nicht geringem Aufwand erhalten und pflegen muss, ein riesiges, über dutzende von Hektar verteilte Gelände und verschiedene Ausstellungen. Und man hat nicht wenige, neugierige Besucher, die aber bei manchen Industriemuseen bei weitem nicht das Niveau der großen Gedenkstätten erreichen.

Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Überwindung der Folgen der DDR-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ hat dankenswerterweise den Begriff der Gedenkstätten als zeithistorische Museen aufgenommen und das dahinter stehende Konzept ist, wie ich bereits sagte,  auch in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999 eingeflossen. Nur, in den letzten Jahren sind wir nur noch mühsam vorangekommen – bei stark gestiegenem Besucherinteresse und immer höheren, berechtigten Forderungen an die Qualität der Gedenkstättenarbeit. Die Topographie des Terrors in Berlin z. B. hat jährlich 1,2 Millionen Besucher, die KZ-Gedenkstätte Dachau ca. 800.000 und die Gedenkstätten in Bergen Belsen und Buchenwald meines Wissens jeweils 500.000. Das sind Besucherzahlen, die man sich vor wenigen Jahren nicht hat vorstellen können. Der mit viel Aufwand und Kraft in den neunziger und zweitausender Jahren betriebene Modernisierungs- und Professionaliserungsprozess in den Gedenkstätten war, nicht zuletzt aufgrund der Unterstützung von Bundes- und Landesregierungen sowie vieler Organisationen und Personen der Zivilgesellschaft, außerordentlich erfolgreich. Aber die finanzielle und personelle Ausstattung der Gedenkstätten ist nicht adäquat mitgewachsen. Es sind daher auch in den nächsten Jahren einige Herausforderungen zu bestehen, denn es fehlt vielerorts immer noch an der sogenannten Hardware, die unverzichtbare Voraussetzung für eine qualitativ hochwertige und international konkurrenzfähige Gedenkstättenarbeit ist.

 

Denken Sie da an beängstigende Entwicklungen, wie sie sich in den Attacken gegen Flüchtlingen und Verbalangriffen gegen die »Lügenpresse« oder auch auch Forderungen nach Wiedereröffnung der Baracken in Buchenwald und Auschwitz zeigen?

 

Das sind extreme Äußerungen, die man nur mit Entschiedenheit zurückweisen kann, die aber meines Erachtens noch keine breite gesellschaftliche Zustimmung finden. Das bedeutet jedoch nicht, dass man sie nicht ernst nehmen muss. Die Frage ist, ob Politik und Gesellschaft auch weiterhin bereit sind, die vielfältige Erinnerungskultur und Gedenkstättenlandschaft in Deutschland zu erhalten oder versucht man, die bisherige, dezentrale Erinnerungskultur auf wenige, herausgehobene Orte zu konzentrieren. Solche Überlegungen sind jeder Verwaltung immanent, das Modewort dafür lautet „Synergien schaffen“. Es wäre aber für die deutsche dezentrale Erinnerungskultur ein großer Verlust, wollte man die Darstellung des NS-Terrors auf wenige Gedenkstätten oder Museen konzentrieren und die authentischen Orte der Opfer des NS-Terrors auf ihre Rolle als internationale Friedhöfe reduzieren, wo nicht mehr geforscht und gelernt wird, sondern nur noch gedacht und getrauert wird und Besucher mittels elektronischer Hilfsmittel oder durch touristisch ausgebildete Guides über das Gelände geleitet werden. Im Moment vermag ich solche Tendenzen noch nicht zu erkennen. Doch kann sich das schnell ändern, wenn andere Länder, wie z. B. demnächst Polen, große Museen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges eröffnen. Leider hat sich auch meine lange gehegte Hoffnung, dass moderne Regional- und Stadtmuseen die Geschichte der NS-Herrschaft entsprechend ihrer großen historischen Bedeutung in ihren neuen Dauerausstellungen behandeln, überwiegend als falsch herausgestellt. Zwölf Jahre, so hört man oft als Begründung, waren eben nur ein ganz kleiner Zeitraum der Geschichte.

Eine andere Entwicklung dagegen, die mir ebenfalls Sorgen bereitet, zeichnet sich bereits deutlicher ab. Mit dem zeitlichen Abstand zum zwanzigsten Jahrhundert scheint die Neigung zu wachsen, alle Kriege und staatliche Verbrechen unter dem Begriff des „Zeitalters der Extreme“ zu entkontextualisieren, zu relativieren und zu vermischen. Unterschiedliche Ursachen und Gründe, Ideologien und Motive, Strukturen und Prozesse lösen sich auf in einem Einheitsbrei moralischer Betroffenheit. Daraus lernen könnte man nur, dass die Natur des Menschen das nicht mehr näher zu begründende „Böse“ zulässt. Ich denke, die meisten Kolleginnen und Kollege, nicht alle leider, würden einer solchem Ansinnen vehement widersprechen. In dem von beiden Arbeitskreisen der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten…

 

Arbeitskreis I umfasst Institutionen, die sich mit der Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur in Berlin und Brandenburg befassen, Arbeitskreises II widmet sich der deutschen Nachkriegsgeschichte, insbesondere der DDR.

 

ausgerichteten Forum für zeitgeschichtliche Bildung wird darüber zumeist offen, konstruktiv und sachlich diskutiert. Zu meiner großen Verwunderung warf ein nicht geringer Teil der Mitglieder einer Enquete-Kommission der Landestages Brandenburg, die sich mit der Aufarbeitung der Geschichte der DDR-Diktatur beschäftige, dem sogenannten Beutelsbacher Konsens, der seit Anfang der siebziger Jahre wichtige Grundsätze für die politische Bildung formulierte, „Werterelativismus“ vor. Das in dieser Vereinbarung der Kultusministerkonferenz erklärte Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot stellten manche Mitglieder dieser parlamentarischen Kommission grundsätzlich in Frage. Das hat uns alle damals sehr beunruhigt. Auf einem der von beiden Arbeitskreisen veranstalteten Foren für zeitgeschichtliche Bildung, welches nicht ohne Grund in der Gedenk- und Begegnungsstätte Potsdam-Leistikowstraße stattfand, bekräftigten die allermeisten Vertreter der Gedenkstätten beider Diktaturphasen diese grundlegenden didaktischen Prinzipien. Wir haben uns sehr gefreut, dass diese einvernehmliche Diskussion zwischen Gedenkstättenexperten auch bei manchen Politikern einen Umdenkungsprozess initiierte.

 

Wie schätzen sie das historische Wissen der Schüler heute ein?

 

Obwohl es dazu Untersuchungen gibt, die manche übertriebene Befürchtungen aufkommen ließen, haben wir darüber nach wie vor kein gesichertes Wissen. Ich kann Ihnen nur die Eindrücke schildern, die wir in unserer pädagogischen Arbeit sammeln. Dabei muss natürlich voraus geschickt werden, dass es große Unterschiede gibt. Trotzdem meinen wir ganz allgemein einen Rückgang des historischen Grundlagenwissens festgestellt zu haben. Ein Drittel unserer leider häufig viel zu eng bemessenen Zeit an den außerschulischen Lernorten müssen wir inzwischen auf die Vermittlung von Basiswissen verwenden, z. B. welcher Art politisches System der Nationalsozialismus war, wie lange er über Deutschland und Europa herrschte, was ein Konzentrationslager ist und was dieses von einem Vernichtungslager unterscheidet. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Ich habe den Eindruck, dass viele Schülerinnen und Schüler glauben, es seien im „Dritten Reich“ fast ausschließlich Juden verfolgt worden.

 

Der 27. Januar ist jetzt auch wieder fast ausschließlich als Gedenktag für die ermordeten Juden wahrgenommen worden.

 

Leider müssen wir das immer wieder feststellen, dass trotz unserer Anstrengungen auch in Deutschland teilweise nur noch vom Holocaust-Tag gesprochen wird. Seit der Einführung des Tages der Opfer des Nationalsozialismus widmen wir in Sachsenhausen den 27. Januar regelmäßig unterschiedlichen Opfergruppen, in diesem Jahr waren es die belgischen Häftlinge, im vorigen Jahr die Opfer der Endzeitverbrechen 1944/45 und im Jahr davor die ungarischen Juden, denen in besonderer Weise gedacht wurde.

 

In Israel ist er ein solcher.

 

Ja, aber in Deutschland ist 1996 dieser Tag auf Vorschlag des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und Ignaz Bubis, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden ausdrücklich als ein Tag zum Gedenken an alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt worden. Das war gerade Ignatz Bubis, der eine hohe Sensibilität für die Empfindungen anderer Opfergruppen hatte, ein ernstes Anliegen. Die UNO hat dann 2005 den 27. Januar zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt. Ich bin dankbar, dass im Bundestag Bundestagspräsident Norbert Lammert diese plurale Offenheit des Opferbegriffes sehr bewusst ist. Denken Sie daran, dass im vorigen Jahr ein Überlebender der Leningrader Hungerkatastrophe im Bundestag gesprochen hat. Und ich freue mich auch sehr, dass auf Betreiben des Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses Ralf Wieland in der Gedenkstunde im Berliner Abgeordnetenhaus am 20. Januar ein Schwerpunkt auf dem Völkermord an den Sinti und Roma lag.

 

Die sowjetischen Kriegsgefangenen scheinen nach wie vor vergessen.

 

Diese nicht akzeptable Lücke wollen und müssen wir sicherlich schließen. Ein Schritt dazu war die Erklärung von Bundespräsident Joachim Gauck am 8. Mai vorigen Jahres in der Gedenkstätte Stukenbrok. In diesem Gedenkjahr 2016, in dem sich der Überfall auf die Sowjetunion zum 75. Mal jährt, wird die Ständige Konferenz der NS-Gedenkorte im Berliner Raum am 22. Juni eine Open-Air-Ausstellung an einem zentralen Ort in Berlin zeigen. Sie wird die wichtigsten Aspekte dieses antisemitisch und rassistisch motivierten Eroberungs- und Vernichtungsfeldzuges thematisieren. Zu den viele Millionen sowjetischen Opfern zählen nicht nur kriegsgefangene Soldaten und Offiziere, wie sie z. B. im Herbst 1941 im KZ Sachsenhausen zu Tausenden erschossen wurden. Vielmehr rotteten die deutschen Aggressoren die Bewohner ganzer Dörfer und Städte aus, überließen sie dem Hungertod, erschossen sie in Wäldern und brannten die Häuser nieder. Es ist an der Zeit, dass auch den Opfern der NS-Lebensraumpolitik im Osten ein Gedenkzeichen gewidmet wird.

 

Der Holocaust war lange vor der Wannsee-Konferenz von 1942 in den okkupierten Gebieten der Sowjetunion im Gange.

 

Spätestes im Hochsommer 1941 gingen immer mehr deutsche Einsatzgruppen dazu über, in Abstimmung und mit der Hilfe deutscher Wehrmachtseinheiten jüdische Männer, Frauen und Kinder unterschiedslos grausam zu ermorden. Diese Entwicklung ist zu einem großen Teil bekannt. Dagegen wird der Massenmord an Slawen selbst heute noch eher als eine Folge des Eroberungskrieges angesehen, als eine Art „Kollateralschaden“ verharmlost. Was in der Geschichtswissenschaft größtenteils unumstritten ist, nämlich dass der Krieg gegen die Sowjetunion ein lange geplanter Feldzug zur Ermordung von vielen Millionen Menschen war, sollte Teil eines breiten gesellschaftlichen historischen Bewusstseins werden. Deshalb werden wir dieses Jahr in den Gedenkstätten einen Schwerpunkt darauf legen. Gerade in einer Zeit zunehmender Renationalisierungen und ernsthafter Konflikte zwischen europäischen Staaten, zwischen Russland und vielen anderen europäischen Staaten nicht zuletzt mit Polen, den baltischen Ländern und der Ukraine, müssen die Gedenkstätten ein wachsames Auge darauf haben, dass Geschichte nicht instrumentalisiert wird, um gegenseitige Vorbehalte und Vorurteile durch den Rekurs auf Geschichte anzufachen und zu schüren.

 

Wie verhielt es sich wirklich mit dem Tod von Stalins ältestem Sohn im KZ Sachsenhausen?

 

Die Erschießung von Jacow Dschugaschwilli ist relativ gut erforscht und unstrittig, weil zwei historische Quellen völlig unterschiedlicher Provenienz weitgehend übereinstimmen, nämlich die Berichte einer Untersuchungskommission des Reichssicherheitshauptamtes mit den Zeitzeugenberichten von britischen Häftlingen, die mit Stalins Sohn zusammen in der gleichen Baracke inhaftiert waren und den Hergang genau beobachten konnten. Die SS hat Stalins Sohn verhöhnt. Die Nazis waren durchaus bereit, ihn auszutauschen, z. B. gegen Generalfeldmarschall Paulus. Stalin wollte das aber nicht. Er sagte, er habe keinen Sohn mehr. Das hat Jacow Dschugaschwilli verständlicherweise sehr deprimiert. Am 14. April 1943 ging er am elektrischen Stacheldrahtzaun entlang, auf einen SS-Mann zu und sagte: »Du bist ein Feigling. In meiner Heimat hätte man jetzt geschossen« Daraufhin nahm der SS-Mann das Gewehr von der Schulter und schoss. Jacow fiel in den elektrisch geladenen Stacheldraht. Es gab zwei NS-Institutionen, die den Vorfall untersuchten: der Gerichtsoffizier des KZ und eine Kommission des Reichssicherheitshauptamtes, und es gibt die Darstellung der britischen Häftlinge, die sofort nach der Befreiung des Lagers eine ganz ähnlich Schilderung des Hergangs gaben Der Tod von Stalins Sohn war eine Verquickung von Selbstmord und Mord. Er forderte sein Ende heraus. Das ist tragisch.

 

Tragisch ist auch, dass sowjetische Kriegsgefangene nach der Befreiung aus deutschen Konzentrationslagern gleich in Stalins Lager »wanderten«.

 

Neuere Forschungen legen eine Zahl von mindestens 15 Prozent nahe, die vom KZ in den Gulag verschleppt wurden. Die Deportation in den Gulag betraf vor allem Offiziere und einige Mannschaftsgrade. Viele einfachen Soldaten sowie die sowjetischen Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge mussten jedoch zumeist sogenannte Filtrationslager durchlaufen, wie sich eines auch in Sachsenhausen befand. Dort befragte der sowjetische Geheimdienst, vor allem der Anti-Spionagedienst Smersch die von den Deutschen aus der UdSSR verschleppten Menschen und suchten durch Befragungen, angebliche Kollaborateure oder Spione ausfindig zu machen. Das ist schlimm genug – vom KZ in den Gulag. Für mich beschämend war: Die Veteranen der Roten Armee oder die ehemaligen KZ-Häftlinge kommen zu uns in großer Dankbarkeit, preisen die Deutschen, die ihnen jetzt nach langen Jahren endlich für ihre Zwangsarbeit Entschädigung zahlen, und schimpfen auf ihren eigenen Staat: »Bei euch haben wir so viel Jahre gesessen, bei uns noch mal so viele. Und die Unsrigen geben uns nichts.« Das ist natürlich für unsereins schwer auszuhalten, wissend um die Dimensionen deutscher Verbrechen und die lange Zeit, die es gedauert hat, bis Entschädigungen für Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge gezahlt wurden.

 

Ich danke für das Gespräch.

Neujahrsempfang des Arbeitskreises der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten 2016

NEUJAHRSEMPFANG DES ARBEITSKREISES DER BERLIN-BRANDENBURGISCHEN GEDENKSTÄTTEN
AM 22. Januar 2016
GRUSSWORT
Prof. Dr. Günter Morsch

Sehr geehrte Frau Dr. Kaminsky,
lieber Herr Gutzeit,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Berliner Abgeordnetenhausen,
verehrte Mitglieder des diplomatischen Corps,
sehr geehrte Vertreter der Opferverbände und der Kirchen,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Namen der Mitglieder des Arbeitskreises I der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg möchte ich mich zunächst ganz herzlich bei denjenigen bedanken, die nun zum dritten Mal diesen Neujahrsempfang ermöglicht und organisiert haben. Ich danke vor allem auch der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, namentlich Frau Dr. Kuder, ganz herzlich dafür, dass wir in Ihren Räumen zu Gast sein dürfen. Ich freue mich, dass so viele Kolleginnen und Kollegen zusammen mit unseren Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kultur die Chance nutzen wollen, um im zwanglosen Rahmen miteinander hoffentlich nicht nur über die Geschichte beider Diktaturen und ihre Darstellung ins Gespräch zu kommen.
Für uns Gedenkstätten und Dokumentationsstätten, die sich mit der Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur und ihren unvergleichlichen Verbrechen beschäftigen, stand natürlich der 70. Jahrestag der Befreiung im Zentrum vieler Veranstaltungen des vergangenen Jahres. Viele Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors kehrten erneut an die historischen Orte zurück. Sie suchten und fanden überwiegend den Kontakt zu jungen Menschen des In- und Auslandes. Denn die Weitervermittlung ihrer Erfahrungen und Erinnerungen an nachwachsende Generationen war schon immer eines der den Großteil ihres Lebens nach der Befreiung prägenden Hauptmotive der Überlebenden. Vor allem deshalb nahmen sie schwerste physische und psychische Belastungen auf sich, um aus Israel und Russland, aus Polen und Tschechien, aus der Ukraine und Frankreich , aus Norwegen, Weißrussland, den Niederlanden, Belgien oder Italien und sogar aus den USA oder Südafrika an die historischen Orte zurückzukehren. Die Gedenk- und Dokumentationsstätten des nationalsozialistischen Terrors, sie gehören, das wird dabei immer wieder deutlich, nicht Deutschland allein, sondern sind ein, wenn auch schweres Erbe einer internationalen Erinnerungsgemeinschaft. Das Denkmal für die ermordeten europäischen Juden oder die Gedenkstätte im Haus der Wannseekonferenz, das Anne-Frank-Zentrum oder das deutsch-russische Museum in Karlshorst, die KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen oder die Gedenkstätte Seelower Höhen, aber auch das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ und die Gedenkstätten für die Opfer der NS-Justiz in Plötzensee und in Brandenburg-Görden – sie alle, auch die, die ich in meiner Aufzählung jetzt nicht genannt habe, sind uns Deutschen quasi treuhänderisch von den aus der ganzen Welt, insbesondere aus Europa stammenden Opfern des nationalsozialistischen Terrors zur dauerhaften Bewahrung übergeben worden. Wir alle, die an den unterschiedlichen von Politik und Medien beachteten Veranstaltungen zum 70. Jahrestag der Befreiung teilgenommen haben, spürten nur allzu deutlich den Schmerz und die Trauer, mit denen sich viele der letzten Zeitzeugen von uns verabschiedeten.
Bei unseren Gesprächen mit den Überlebenden können wir immer wieder zwei sich widersprechende Empfindungen feststellen: zum einen die Freude darüber, dass Deutschland nach vielen Jahrzehnten eines wenig sensiblen Umgangs mit den historischen Orten seit der deutschen Einheit eine neue Erinnerungskultur herausgebildet hat, die vom ernsthaften Willen zeugt, die nationalsozialistischen Verbrechen ohne ideologische oder politische Instrumentalisierungen ungeschminkt zu zeigen und das Andenken an die Opfer wach zu halten. Zum anderen aber ist in ihnen angesichts der Wiederkehr von Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus in Europa die Sorge gewachsen, dass die moralische und politische Botschaft, die die überlebenden KZ-Häftlinge in ihrem sogenannten Vermächtnis 2009 dem damaligen Bundespräsidenten sowie vielen anderen hohen Repräsentanten europäischer Staaten übergaben, in Vergessenheit gerät. Niemand von uns kann, wenn er ehrlich ist, den um die Bewahrung ihrer Botschaft besorgten NS-Opfern die ernsten und viele gerade in der letzten Lebensphase bedrückenden Befürchtungen nehmen.
Immer wieder werden wir Gedenkstättenmitarbeiter von Politik und Medien danach gefragt, wie unsere Arbeit nach dem Abschied von den Zeitzeugen weitergeht. Doch diese Fragen richten sich an die falsche Adresse. Denn die allermeisten Gedenkstätten haben sich seit Jahren auf die dafür notwendigen Veränderungen eingestellt, da sie ihnen viel früher persönlich vor Augen standen, als dies für eine breite Öffentlichkeit offenbar gilt. Mit der Übernahme des modernen Konzepts der Gedenkstätten als zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben, in denen Sammlung, Forschung, Ausstellung und Vermittlung zusammengefasst sind, bereiteten sie den Wandel vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis den Weg. Die Frage nach der Zukunft der NS-Erinnerung nach dem Abschied von den Zeitzeugen richtet sich daher weniger an die Gedenkstätten als an die gesamte deutsche Gesellschaft, gerade auch an Politik und Öffentlichkeit. Denn der in der alten Bundesrepublik erst in den Jahren nach der deutschen Einheit errungene Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur kam nicht von selbst. Ohne den politischen Druck aus dem Ausland, gerade auch der ausländischen Opferverbände, wären NS-Gedenkstätten in Deutschland möglicherweise mit wenigen Ausnahmen immer noch die marginaliserten, finanziell und personell völlig unterversorgten Einrichtungen, die sie bis dahin in der Bundesrepublik gewesen waren. Daher richten sich die besorgten Fragen der letzten Zeitzeugen an die gesamte deutsche Gesellschaft: Werden die NS-Gedenkstätten und die Erinnerung an die NS-Verbrechen auch dann noch als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden, wenn die Stimmen der ausländischen Opfer verstummt sind? Wird die Bedeutung der historischen Orte in Deutschland als internationale Friedhöfe und materielle Zeugnisse europäischer Geschichte im Bewusstsein bleiben oder werden sie einer vorwiegend aus deutscher Sicht formulierten Narration unterworfen? Kommt schließlich mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand zur NS-Diktatur die Vermischung, Relativierung oder gar Nivellierung der NS-Verbrechen unter dem Schlagwort des „Zeitalters der Extreme“? Gerade letztere, keinesfalls unbegründete Befürchtung, die durch von europäischen Institutionen beschlossene Resolutionen und Plattformen genährt wird, führte bei nicht wenigen Überlebenden von Völkermord und NS-Terror zu großer Empörung. Viele von ihnen haben den, wie ich meine, nicht unberechtigten Eindruck, dass ihre Proteste und Einwände vielfach nicht mehr zur Kenntnis genommen werden. Die wirkliche Bewährungsprobe für die Bedeutung, Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit der neuen deutschen Erinnerungskultur, sie kommt daher erst jetzt, jetzt da die Zeitzeugen ihre Stimmen nicht mehr erheben können.
In diesem Jahr wollen viele der im Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg zusammengeschlossenen Einrichtungen vor allem an den 75. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion erinnern. Es ist dem Bundespräsidenten Joachim Gauck dafür zu danken, dass er im vorigen Jahr am 8. Mai in der Gedenkstätte Stukenbrock an die Millionen Opfer dieses rassistischen Vernichtungs- und Eroberungskrieges mit eindrücklichen Worten erinnert hat. Insbesondere das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen sei in Deutschland, so Gauck, nie angemessen ins Bewusstsein gekommen. Tatsächlich bedürfen nicht nur die nur wenige Kilometer von hier im KZ Sachsenhausen zu Tausenden grausam ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen, sondern die meisten Opfer der NS-Lebensraumpolitik im Osten einer stärkeren Beachtung als bisher. Die ersten Vorplanungen zum antisemitisch und rassistisch begründeten Ausrottungs- und Eroberungskrieg lassen sich mindestens bis 1933 zurückverfolgen, als Hitler wenige Wochen nach seiner Machtübernahme vor den Spitzen von Staat, Wehrmacht und Wirtschaft seine weitreichenden Pläne zur Eroberung neuen Lebensraumes im Osten darlegte.
Die Erinnerung und das Gedenken an die Opfer der NS-Lebensraumpolitik im Osten ist heute durch politische Probleme und Konflikte belastet, die zum Teil schon im vergangenen Jahr die Veranstaltungen zum Jahrestag der Befreiung beeinflusst haben. Wir dürfen uns davon aber nicht abhalten lassen, Ursachen und Opfer des deutschen Vernichtungsfeldzuges gegen die Sowjetunion zu benennen. Gerade in einer Zeit zunehmender Renationalisierungen und ernsthafter Konflikte zwischen europäischen Staaten müssen die Gedenkstätten ein wachsames Auge darauf haben, dass sie nicht von der einen oder anderen Seite instrumentalisiert werden. Geschichte birgt, wie wir wissen, immer auch ein nicht ungefährliches Potential für politische Emotionalisierung. Es würde aber dem Auftrag der Gedenkstätten geradezu diametral widersprechen, würden sie dafür Anschauungsmaterial liefern. In der vom International Committee of Memorial Sites beschlossenen Ethik-Charta heißt es deshalb: Bei der Vermittlung der historischen Ereignisse in Ausstellungen, Publikationen und pädagogischen Projekten sollte Empathie mit den Opfern geweckt werden. Das Gedenken und die Erinnerung sollten jede Form von Rache, Hass und Ressentiment zwischen den verschiedenen Opfergruppen vermeiden.
Umso wichtiger sind eine fundierte, diskursive und die unterschiedlichen Sichtweisen berücksichtigende, also multiperspektivische Darstellungen. Die im sogenannten „Beutelsbacher Konsens“ beschlossenen pädagogischen Prinzipien, vor allem das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot, wurden von den im Arbeitskreis der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten zusammengeschlossenen Einrichtungen nach eingehenden Diskussionen als gemeinsame Grundlage aller Gedenkstättenarbeit erneut bestätigt. Sie gelten gerade auch in solchen Zeiten, in denen die Deutung der Geschichte vermehrt wieder zum Gegenstand aktueller zwischenstaatlicher Kontroversen wird. Die Gedenkstätten wollen und müssen offene Foren sein und bleiben, auf denen Meinungs- und Deutungsunterschiede versachlicht werden und trotzdem kontrovers und offen diskutiert werden können.

Die wichtigste gemeinsame Veranstaltung beider Arbeitskreise der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten ist das jährliche Forum für zeithistorische Bildung, das sie gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport sowie dem Landesinstitut für Schule und Medien in Berlin-Brandenburg ausrichten. Schon im vergangenen Jahr, in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, fand es auf dem Hintergrund einer lebhaften Diskussion über veränderte Lehrpläne statt, durch die die Fächer Geschichte, Geographie und Sozialkunde zusammengefasst werden. Die engagiert diskutierten Vorschläge fanden auch bei den Gedenkstätten keine ungeteilte Zustimmung. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Forums fragten sich u. a., wie sich die Bedeutung außerschulischer historischer Lernorte im Zuge der Umsetzung dieser neuen Rahmenrichtlinien verändern wird. Inwieweit, so wurde außerdem gefragt, beeinträchtigt das auf aktuelle Gegenwartsbezüge orientierte historische Lernen, wie es in den neuen Konzeption gefordert wird, das Verständnis von historischen Ursachen und Kontexten? Diese interessanten und grundlegenden Diskussion wollen wir im diesjährigen Forum fortsetzen und vertiefen. Eine stärkere Nachhaltigkeit historischen Lernens tritt, so die Erwartung, vor allem dann ein, wenn es, bezogen auf Schüler genauso wie auf Lehrkräfte, subjektorientiert ist, anknüpft also an die Lebenswelt von Jugendlichen. Doch wie kann das geschehen, ohne die historische Narration zu verbiegen, Akzente zu verschieben, Kontexte zu zerreißen, Wie, so wollen wir fragen, kann es den Gedenkstätten gelingen, an die Interessen und Vorkenntnisse der Schülerinnen und Schüler anzuknüpfen? Welche Formen pädagogischer Gedenkstättenarbeit sind dafür besonders geeignet? Schon jetzt laden wir alle Lehrkräfte und Gedenkstättenmitarbeiter ganz herzlich dazu ein, diese wichtige Diskussion über die Weiterentwicklung historischen Lernens an den außerschulischen Lernorten zusammen mit uns zu diskutieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit

Neujahrsempfang der Arbeitskreise I und II der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten 2015

NEUJAHRSEMPFANG DES ARBEITSKREISES DER BERLIN-BRANDENBURGISCHEN GEDENKSTÄTTERN

AM 3. FEBRUAR 2015

GRUSSWORT

Prof. Dr.: Günter Morsch

 

Sehr geehrte Frau Dr. Kaminsky,

lieber Herr Gutzeit,

sehr geehrter Herr Eppelmann,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

 

zunächst einmal möchte ich mich im Namen des Arbeitskreises der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg ganz herzlich bei denjenigen bedanken, die nun zum zweiten Mal diesen Neujahrsempfang ermöglicht und organisiert haben. Ich danke vor allem auch der Bundesstiftung zur Aufarbeitung  der SED-Diktatur dafür, dass wir in ihren Räumen zu Gast sein dürfen.

„Gedenken“, so heißt es durchaus kritisch in einem Artikel von Caroline Fetscher im Berliner „Tagesspiegel“, „war die kulturpolitische Vokabel des Jahres 2014“. Im Vordergrund des Gedenkjahres standen dabei wohl vor allem der einhundertste Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges sowie der 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer. Im Schatten dieser Großevents, aus deren Anlass die Medien in Zusammenarbeit mit Politik und Bildungseinrichtungen, darunter in vorderster Linie auch den Gedenkstätten, das Publikum mit einer riesigen, beeindruckenden Welle von Veranstaltungen, Filmen, Publikationen und Ausstellungen zu überfluten drohten, fanden andere Jahrestage keine oder kaum Beachtung. Während die Sonderausstellung zum Warschauer Aufstand in der Topographie des Terrors und die Eröffnung der neuen Dauerausstellung in der Gedenkstätte deutscher Widerstand nicht zuletzt aufgrund der Teilnahme prominenter Staatsgäste und Politiker auch den ein oder anderen Aufmerksamkeitserfolg für sich verbuchen konnten, blieben andere, durchaus bedeutsame historische Ereignisse, wie z. B. der 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges, fast völlig unbeachtet. Wer, warum und wie auf welche historische Ereignisse das Gedenkjahr hin maßgeblich orientiert, darüber gibt es leider zuvor keinen offenen gesellschaftlichen Diskurs, sondern das wird wohl hauptsächlich durch die bestimmt, die auch das Geld dafür zur Verfügung stellen. Die Gedenkstätten sind dabei sicherlich wichtige Akteure, aber auf die maßgeblichen Entscheidungen haben sie nur wenig Einfluss.

Auch das gerade begonnene Jahr 2015 verspricht aller Voraussicht nach ein solches herausragendes Gedenkjahr zu werden. Der 70. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus sowie der 25. Jahrestag der deutschen Einheit sind die beiden in diesem Zusammenhang wohl wichtigsten historischen Anlässe. Auch wir, die Gedenkstätten, bereiten uns darauf mit großem Engagement, gestützt auf finanzielle Sondermittel und eigens aufgelegte Förderprogramme, vor. Der Erfolg solcher Jahrestagskampagnen, wie sie auch 2013 mit dem umfassenden Kulturprogramm „zerstörte Vielfalt“ stattfand, scheint der Entwicklung recht zu geben: die meisten Veranstaltungen sind gut besucht und erreichen weit über das traditionelle Gedenkstättenpublikum hinausreichende Bevölkerungsteile, das Medienecho ist außerordentlich beeindruckend und die zumeist finanziell und personell schlecht ausgestatteten Gedenkstätten, nicht nur die großen Tanker, sondern auch die kleinen, häufig ehrenamtlich betriebenen Einrichtungen, können sich neue Finanzierungsquellen erschließen. Häufig wird außerdem positiv hervorgehoben, dass mit diesen historischen Events und Kampagnen das Gedenken und Erinnern den Anschluss nicht nur an moderne, zeitgemäße kulturelle Kommunikations- und Vermittlungsformen gefunden zu haben scheint, sondern dass dadurch auch eine Brücke zwischen der Vergangenheit in die Gegenwart geschlagen wird. Ohne diesen Bezug zu den heutigen Fragen und Problemen, so heißt es, sei die Vergangenheit tot und gerade für die nachwachsenden Generationen uninteressant. Geschichte habe für die heutige Gesellschaft keinen Wert sui generis, sondern nur dann,  wenn sie ihren Nutzen für die Gegenwart erweist.

„Fragen an die deutsche Geschichte“, so hieß eine viel besuchte Ausstellung der Bundeszentrale für politische Bildung, die über mehrere Jahre im Reichstag gezeigt wurde, auf dessen Gesimsen damals noch die eine oder andere Birke wuchs. Das erklärte Ziel der wie ein Buch gestalteten Dokumentation war es, über die Aufarbeitung der Vergangenheit, insbesondere der Mechanismen und Ursachen der Machtergreifung des Nationalsozialismus, zu kritischen Fragen nach Problemen und Defiziten der damaligen Bonner Demokratie hinzuführen. Die Kenntnis der Geschichte sollte die Besucherinnen und Besucher dazu befähigen, kritische Fragen an Gegenwart und Zukunft zu stellen, um besser und früher Gefährdungen, Unrecht und Ungerechtigkeit erkennen zu können. Dieser kritische Impetus darf, so meine ich, auch im Zeichen der großen Gedenkevents nicht verloren gehen.

Wenn nachwachsende Generationen nämlich den Eindruck erhalten, daß Geschichte in einfache Lehrsätze gepresst wird, daß ihre Fragen durch fertige Antworten erstickt werden, dass Vergangenheit für die Legitimation der Gegenwart instrumentalisiert wird und dass Geschichte nicht als ein offener Prozess begriffen wird, bei dem es immer auch Alternativen gab, dann verleidet man den jungen Menschen den Umgang mit der Geschichte, tötet ihre Neugier ab und verhindert, daß aus der Geschichte Fragen an die Gegenwart und an die Zukunft entwickelt werden. Wer den nachwachsenden Generationen die Legitimation bestreitet, über die Vergangenheit kontrovers zu diskutieren, der versperrt ihr auch die Sicht auf Alternativen in der Gegenwart.

Moderne Gedenkstätten dürfen sich daher nicht zu Orten zurück entwickeln, in denen die Widersprüchlichkeit historischer Prozesse einer politischen Botschaft untergeordnet wird und sei sie noch so ehrenwert. So klar wie die Empathie mit den Opfern staatlichen Terrors in den Ausstellungen zu einem die Darstellung leitenden Prinzip herausgearbeitet werden muß, so deutlich aber muß auch jeder tagespolitisch motivierten Vereinfachung von Geschichte Im Namen des Gedenkens widersprochen werden.

Vielen älteren Besucherinnen und Besuchern, darunter nicht wenigen Zeitzeugen, fällt es verständlicherweise schwer, den modernen Begriff von Gedenkstätten zu akzeptieren, die keine reinen Heldengedenkstätten mehr sein können, sondern offene Lernorte, zu denen selbstverständlich auch die Darstellung der Täter und des Scheiterns  gehört. Doch gibt es dazu keine Alternative, wollen Gedenkstätten nicht zu Denkmälern erstarren, die niemand mehr beachtet, da sie ihre Wirkungskraft eingebüßt haben. Die Zukunftsfähigkeit der Gedenkstätten wird sich zunehmend daran bemessen, ob sie es schaffen, dem von verschiedenen Seiten, nicht zuletzt auch von Teilen der Politik, ausgeübten Druck zur Vereinheitlichung, Vereinfachung und Moralisierung der Geschichte zu widerstehen.

Die vom Arbeitskreis der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten ausgerichteten Foren für zeitgeschichtliche Bildung haben sich darin bewährt, solche grundsätzliche Fragen historischer Bildung zu diskutieren. So konnte der in bildungspolitischen Debatten teilweise als Werterelativismus kritisierte „Beutelsbacher Konsens“ im Ergebnis auch unserer Foren für zeitgeschichtliche Bildung und im Einvernehmen zwischen den meisten NS- und SED-Gedenkstätten bekräftigt werden. Überwältigungs-verbot und Kontroversitäts-gebot wurden als Eckpfeiler der Gedenkstättenpädagogik nicht zuletzt  im Ergebnis unserer Foren  bestätigt.

Auch im diesjährigen Forum für zeitgeschichtliche Bildung, das in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück stattfindet, werden wir uns mit grundlegenden Fragen zukünftiger historischer Bildung beschäftigen. Die von den Landesregierungen in Berlin und Brandenburg zur Diskussion gestellten und  bereits teilweise kontrovers diskutierten neuen Rahmenrichtlinien für das Schulfach Geschichte in den Jahrgangsstufen 7-10 wollen wir danach befragen, inwieweit sie den Gedenkstätten als außerschulischen Lernorten neue Chancen und Möglichkeiten eröffnen. Zugleich soll die hinter den Rahmenrichtlinien stehenden Überlegungen eines stark auf das Erlernen von Kompetenzen ausgerichteten pädagogischen Programms im Hinblick auf die Entwicklung geeigneter pädagogischer Projekte in den Gedenkstätten untersucht werden.  Auch die in den Rahmenrichtlinien entwickelte Konstruktion und Definition von inhaltlichen Themenfeldern, die sowohl unterschiedliche Zeitschichten vertikal durchschneiden als auch die Schulfächer Geographie, Politische Bildung und Geschichte umfassen sollen, bedürfen eines Abgleichs mit den Realitäten, den Chancen aber auch den Zwängen  pädagogischer Projektarbeit an und mit den Gedenkstätten. Ich bin deshalb zuversichtlich, dass auch das diesjährige Forum für zeitgeschichtliche Bildung der beiden Arbeitskreise der Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg interessant und spannend werden wird. Ich lade jetzt schon alle Kolleginnen und Kollegen, alle Lehrerinnen und Lehrer dazu ein, sich in diese wichtige Debatte um die Fortentwicklung zeithistorischer Bildung  einzubringen.

 

70. Jahrestag der Befreiung der Gefangenen des Zuchthauses Brandenburg-Görden

  1. Jahrestag der Befreiung der Gefangenen im Zuchthaus Brandenburg Görden am 26. April 2015

Begrüßung

Prof. Dr. Günter Morsch

 

Sehr geehrte Angehörige von Opfern des nationalsozialistischen Strafvollzugs,

sehr geehrter Herr stellvertretender Landtagspräsident Dombrowski,

Herr Justizminister Dr. Markov,

Frau Oberbürgermeisterin Dr. Tiemann,

sehr geehrte Vertreter des diplomatischen Chors

Herr Landtagsabgeordneter Holzschuher,

verehrte Stadtverordnete,

Frau Wellnitz,

liebe Frau Dr. de Pasquale,

liebe Schülerinnen und Schüler,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

 

Im Namen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten möchte ich Sie in diesen dankenswerterweise von der Direktorin der Justizvollzugsanstalt, zur Verfügung gestellten Räumen ganz herzlich zu unserer heutigen Gedenkveranstaltung aus Anlass des 70. Jahrestages der Befreiung der Gefangenen des Zuchthauses Brandenburg-Görden begrüßen. Ich freue mich sehr, dass auch Angehörige und Freunde der ehemaligen Gefangenen des Zuchthauses Brandenburg-Görden heute unter uns sind.

 

Die Strafanstalt Brandenburg-Görden wurde 1927 als eine Musteranstalt des modernen preußischen Strafvollzuges erbaut. Sie galt damals als ein Vorbild für einen modernen, auf die Erziehung und Besserung der Gefangenen ausgerichteten Strafvollzug in der Weimarer Republik.  Doch es bedurfte nur weniger Jahre um nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 aus dieser vorbildlichen Strafanstalt eines der am meisten gefürchteten Zuchthäuser des „Dritten Reiches“ zu machen.

 

Auch die zum großen Teil übernommene Beamtenschaft in der Strafanstalt Brandenburg-Görden, allen voran der in seinem Amt bestätigte Anstaltsdirektor Dr. Schwerdtfeger, propagierten gleich nach dem Amtsantritt des neuen deutschnationalen Justizministers Franz Gürtner den Görden, dem neuen Wind des Zeitgeistes folgend, als Ort für einen harten Strafvollzug. Ohne erkennbaren Widerstand der Vollzugsbeamten hielt die nationalsozialistische Ideologie Einzug in den Alltag der Strafanstalt.  Auch Anstaltsdirektor Schwerdtfeger erwies sich als ein echter Hardliner, der die  nationalsozialistischen Prinzipien der Verbrechensbekämpfung mit erbarmungsloser Konsequenz  in der Anstalt durchzusetzen verstand.

 

Das Zuchthaus Brandenburg-Görden, wie es ab 1938 hieß, wird bislang zurecht vor allem als eine Strafanstalt charakterisiert, in der ein hoher Anteil politischer Gefangener, darunter zahlreiche Prominente, ihre durch die Nazi-Justiz wegen Hoch- oder Landesverrat oder anderer politischer Delikte verhängten langjährigen Haftstrafen verbüßte. Besonders berüchtigt wurde das Zuchthaus, als ab 1940 mitten in der Strafanstalt eine Hinrichtungsstätte eingerichtet wurde, die nach Plötzensee zweitgrößte im Deutschen Reich. Auch andere Maßnahmen der Anstaltsleitung, wie z. B. die Einrichtung eines Judenflügels ab 1938, die drastische Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges oder die sprunghafte Ausweitung der Zwangsarbeit der Gefangenen markieren die exemplarische Bedeutung des Zuchthauses für den Strafvollzug im „Dritten Reich“.

 

Weniger bekannt ist dagegen, dass das Zuchthaus auch bei Einführung, Durchsetzung und Realisierung der rasseanthropologischen, eugenischen und erbbiologischen Prinzipien des nationalsozialistischen Strafvollzugs, die sich schon 1934 in dem Gesetz über die so genannten Gewohnheitsverbrecher niederschlugen, eine führende und aktive Rolle spielte. Mit diesem Gesetz wurde nicht nur die unbegrenzte Inhaftierung von so genannten Gewohnheitsverbrechern eingeführt, sondern auch die Beurteilung der Strafgefangenen nach ihren angeblichen erbbiologischen Belastungen und weniger nach der Schwere ihrer Straftat durchgesetzt. Eine ganz wichtige Bedeutung bei der Einstufung der Sicherungsverwahrten kam dabei den Gutachten der Anstaltsbeamten zu. Innerhalb kurzer Zeit stieg die Anzahl der Sicherungsverwahrten in Brandenburg in der Folge auf 600-700 Gefangene, was in den Jahren 1936-42 einem Anteil von fast einem Drittel aller Inhaftierten entsprach.  Anders als heute immer noch kolportiert wird, waren die allermeisten Sicherungsverwahrten Kleinkriminelle sowie nicht wenige Homosexuelle.

 

Nur ein ganz geringer Anteil der Sicherungsverwahrten wurde von den Anstaltsbeamten positiv begutachtet und folglich entlassen. Das hatte für die Zurückgebliebenen ab 1942 tödliche Konsequenzen. Denn mit der Vereinbarung zwischen dem Reichsführer SS und dem Reichsjustizminister zur Auslieferung der so genannten Asozialen aus dem Strafvollzug zur Vernichtung durch Arbeit wurden fast alle Sicherungsverwahrten in die Konzentrationslager überstellt. Innerhalb von wenigen Wochen waren die allermeisten tot, erschlagen oder sonst wie ermordet durch die SS. Unter den an die Konzentrationslager zur Vernichtung überstellten Strafgefangenen befanden sich auch alle Juden, Sinti und Roma, alle Russen und Ukrainer, sowie alle Polen mit einer Haftstrafe über drei und alle Tschechen und Deutsche mit einer Haftstrafe über acht Jahre.

 

So endete ein moderner, auf die Erziehung der Gefangenen abzielender Strafvollzug innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums von gerade einmal 15 Jahren in einem von den meisten Vollzugsbeamten mit getragenen und durch ihre Gutachten ermöglichten Massenmord. Wie schnell und wie widerstandslos  dies geschah, sollte allen bewusst gemacht werden, die heute allzu leichtfertig über angebliche Luxusgefängnisse herziehen.

 

Gerade deshalb brauchen wir ganz dringend eine Gedenkstätte, die sich als modernes zeithistorisches Museum darauf konzentriert, die Geschichte der Strafanstalt und des Zuchthauses Brandenburg-Görden im Kontext mit der Geschichte der NS-Justiz vor allem an junge Menschen zu vermitteln. Mit dem ehemaligen Direktorenhaus, das ein Teil des denkmalgeschützten Ensembles ist, haben wir endlich, nach mehr als zwanzig Jahren vergeblicher Bemühungen einen solchen geeigneten Ort gefunden. Dafür danke ich vor allem Ihnen, sehr geehrter Herr Minister Dr. Markov, der Sie zunächst als Finanzminister und dann als zuständiger Justizminister den Weg dazu gemeinsam mit der Kulturministerin Prof. Dr. Kunst, dem damaligen Justizminister Dr. Schöneburg und Herrn Innenminister Holzschuher bahnten. Ich danke der Landesregierung Brandenburg, die sich bereits in ihrem  neuen Koalitionsabkommen zu diesem wichtigen und herausragenden Gedenkstättenprojekt bekannte. Diesem guten Beispiel des Landes folgend, ließ sich auch die Staatsministerin für Kultur und Medien, Prof. Dr. Grütters,  von der Sinnhaftigkeit einer finanziellen Förderung unseres Vorhabens überzeugen. Ich bin daher sehr froh, vor allem Ihnen, sehr geehrte Angehörige ankündigen zu dürfen, dass wir noch in diesem Jahr mit den Bauarbeiten sowie den Ausstellungsvorbereitungen beginnen werden.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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